Physikalische Medizin und Rehabilitation: «Wertebasierte» Gesundheitsversorgung
Physikalische Medizin und Rehabilitation

Physikalische Medizin und Rehabilitation: «Wertebasierte» Gesundheitsversorgung

Schlaglichter
Ausgabe
2017/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02843
Schweiz Med Forum 2017;17(0102):31-33

Affiliations
Klinik für Rheumatologie, Stadtspital Triemli, Zürich

Publiziert am 10.01.2017

Die aktuellen Systeme zur Vergütung medizinischer Leistungen (DRG und TARMED) fördern Mengenausweitung und Kostenvermeidung. Angesichts der wahrscheinlich günstigen Auswirkungen hoher Gesundheitskosten auf die Volkswirtschaft und die Bevölkerung ist der Fokus auf Kostenreduktion nicht sinnvoll. Es gilt vielmehr, ein System zu entwickeln, welches Ineffizienzen meidet und hohe Behandlungsqualität fördert. Kernaussage des Konzeptes der «wertebasierten Gesundheitsversorgung» («Value Based Healthcare») ist, dass im Rahmen eines sogenannten «nutzenorientierten Wettbewerbs» («Value Based Competition») Mehrwerte für die Konsumenten, d.h. die Patienten, geschaffen werden, indem alle Beteiligten im Gesundheitswesen den Patientennutzen an vorderste Stelle stellen und Anreize vorfinden, die besten Ergebnisse zu liefern.

Ärzte sollen sich mit Wirtschaftsfragen beschäftigen

Ärzte sind, in welcher Position und in welcher Organisationsform auch immer sie tätig sind, täglich mit Fragen zur Finanzierung, Vergütung und Wirtschaftlichkeit ­ihres beruflichen Wirkens konfrontiert. Für nieder­gelassene Ärzte ist das eigene Unternehmen stets auch ein Wirtschaftsunternehmen, und Klinikärzte beschäftigen sich notgedrungen routinemässig mit DRG und TARMED. Ökonomische Führungs- und Steuerungsprozesse haben auf Makro- (Land, Kanton) und Mikroebene (Spitalgruppen, Spitäler, Praxen) entscheidenden Einfluss auf die Art der Gesundheitsversorgung.
Rehabilitationsmediziner mit ihrem ganzheitlichen, funktionellen Blick auf die Patienten und ihr Umfeld ­sehen und erkennen die Defizite der aktuellen Finanzierungsmodelle besonders deutlich. Dieser Artikel möchte Denkanstösse zum Thema Qualität und Finanzierung der ärztlichen Gesundheitsdienstleistungen geben.

Aktuelle Situation – DRG und TARMED stimulieren die Mengenausweitung

Stationäre Leistungen werden seit 2012 nach DRG verrechnet. Das System der Fallpauschalen berechnet pro Diagnose und Behandlung ein sogenanntes Kosten­gewicht, welches mit dem Basispreis (Basisfallwert, ­baserate, durchschnittlicher Fallwert eines Spitals, jährlich verhandelbar) multipliziert wird. Zur Schätzung des durchschnittlichen Schweregrads eines ­Spitals oder einer Abteilung wird der «Case Mix Index» (der Quotient aus Case Mix, d.h. Summe der Kosten­gewichte und Anzahl der Fälle) errechnet. Je höher der «Case Mix Index», desto schwerere Fälle behandelt ein Spital durchschnittlich. Ziele der Einführung der Fallpauschalen waren die Reduktion unnötig langer Spital­aufenthalte und der Vergleich der Kosten pro Diagnose bzw. Fall zwischen Spitälern.
Letztlich bietet das DRG-System Anreize zur Mengenausweitung, Verkürzung der Liegedauer, Konzentration auf «lohnende Fälle» und Kostenreduktion.
Im stetig wachsenden ambulantenSektor gelten die nach dem Budget-Verfahren nur wenig flexiblen TARMED-
Tarife, welche pro abgebildete Leistung eine bestimmte Taxpunktanzahl abrechenbar machen. Der Taxpunktwert wird periodisch variiert. Hier gilt das Prinzip: Je höher die Anzahl der Leistungen, desto höher der ­Gesamtertrag («pay-per-volume»).
Sowohl DRG als auch TARMED stellen Systeme dar, ­welche Mehrerträge über Mengenausweitung und ­Kostenreduktion wahrscheinlich machen. In beiden Systemen bleiben wichtige Aspekte der Qualität, z.B. das Behandlungsergebnis, unberücksichtigt.

Gesundheitsausgaben sind Investitionen

Hohe Kosten im Gesundheitswesen können Ausdruck der Leistungsfähigkeit des Systems sein; sie können die Volkswirtschaft direkt und indirekt stimulieren, aber auch Ausdruck von Ineffizienzen sein.
Während der prozentuale Anteil der Kosten des Gesundheitswesens am Bruttoinlandprodukt (BIP) 1995 8,8% betrug, stieg er bis 2014 auf 11,1%. Das Gesundheitswesen erfreut sich hoher Akzeptanz in der Bevölkerung – 2015 hatten 82% einen sehr oder eher positiven Eindruck. Im selben Jahr (2015) befürwortete 60% der stimmberechtigten Bevölkerung ein marktwirtschaftlich orientiertes Gesundheitswesen. In unserer Gesellschaft wird der Zugang zur bestmöglichen Gesundheitsversorgung für jeden einzelnen Menschen als selbstverständlich erachtet.
Während die Volkswirtschaften der westlichen Welt Wachstumsziffern zwischen 1–2% aufweisen, zeichnet sich das Gesundheitswesen durch wesentlich höhere Wachstumszahlen um 3–5% jährlich aus. Dass dadurch der oftmals beklagte Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandprodukt weiter steigt, scheint in der ­Natur der Sache zu liegen. Andererseits gibt es Hinweise da­rauf, dass die wachsende Bedeutung des Gesundheitswesens mit positiven gesamtvolkswirtschaftlichen Wirkungen einhergeht, da die Branche einen erheb­lichen Beitrag zur Wertschöpfung (mindestens 5% des BIP) und Beschäftigung leistet – in der Schweiz arbeiten rund 350 000–400 000 Personen (in etwa 300 000 Vollzeitstellen) im Gesundheitswesen (davon Pharmaindustrie: 42 000). Zudem ist der vom Gesundheits­wesen aufrechterhaltene oder wiederhergestellte «Humankapitalfaktor Gesundheit» ein wichtiger positiver Treiber für die volkswirtschaftliche Entwicklung. Ein guter Gesundheitszustand stiftet hohen individuellen und gesellschaftlichen Nutzen.
Hohe Umsätze bzw. Kosten im Gesundheitswesen sind also nicht per se negativ [1].

Lösungsansätze zur Effizienzsteigerung

Der Bundesrat geht in seinem Bericht «Gesundheit 2020» davon aus, dass 20% der Kosten im Gesundheitssystem Ineffizienzen geschuldet sind. Im Umkehrschluss muss das Potential für Effizienzsteigerungen im Gesundheitswesen als enorm angenommen werden [2].
Einige Lösungsansätze zur Steigerung der Effizienz sind in vielen Ländern «erprobt» worden und werden bereits erfolgreich umgesetzt, zum Teil auch in der Schweiz:
1. Bundled Payment, d.h. die pauschale Vergütung von Leistungsbündeln, welche einer Episode zugehören.
2. Skill Mix, d.h. die Arbeits- und Kompetenzumverteilung zwischen Gesundheitsberufen, z.B. Übernahme bislang ärztlicher Tätigkeit durch Pflegefachpersonen.
3. Medizinische Guidelines, d.h. evidenzbasierte Behandlungsleitlinien für Ärzte, welche durch Fachgesellschaften aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse erarbeitet werden.
4. Medical Savings Accounts, d.h. individuelle Gesundheitssparkonten, aus denen Krankheitskosten (aus­ser Hochrisikofälle) bezahlt werden, womit das Kostenbewusstsein der Versicherten erhöht wird.
5. Selbstmanagement, d.h. Selbstkompetenz und Eigenverantwortung der Patienten durch Schulungen, z.B. bei chronischen Krankheiten, bei dem moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (z.B. smartphones und e-health-Konzepte) zum Einsatz kommen.
Das übergeordnete Konzept dieser, auf Effizienz- und Qualitätssteigerung abzielenden Lösungsmodelle ist die «wertebasierte Gesundheitsversorgung» («Value Based Healthcare»). Sie wurde vom Harvard Business School Professor Michael E. Porter und Elizabeth O. Teisberg (University of Virginia) entwickelt [3, 4]. Kernaussage des Konzeptes ist, dass im Rahmen eines sogenannten «nutzenorientierten Wettbewerbs» («Value Based Competition») Mehrwerte für die Konsumenten, d.h. die Patienten, geschaffen werden, indem alle Beteiligten im Gesundheitswesen den Patientennutzen an vorderste Stelle stellen. Als Definition von Wert («value») wurde der Quotient aus Behandlungsergebnis und dafür aufgewendete Mittel gewählt (Abb. 1).
Abbildung 1: Die Definition von Wert («value») als Quotient aus Qualität und Kosten.

Zuverlässige Datenanalyse

Grundlage für die Berechnung des Wertes sind zu­verlässige Daten, welche den Nutzen bzw. den Wert ­medizinischer Leistungen darstellen. Auch der Nutzenbewertung durch Patienten und Angehörige (Patient-­reported outcome [PRO]) kommt Bedeutung zu [5]. «Big data» ist heute Realität, und die Möglichkeiten der ­Vernetzung scheinen nahezu unbegrenzt. Damit einhergehend können national und international vergleichbare Aussagen zur Epidemiologie und zu Behandlungsergebnissen gemacht werden.

Wettbewerb um die beste Qualität

Die möglichst unabhängige Ergebnismessung sowohl nach Ärzteteams als auch nach Krankheitsbildern muss gefordert und gefördert werden, um zuverlässige und breit abgestützte Entscheidungsgrundlagen zu erhalten. Spitäler und Ärzteteams sollen die Gesundheitsversorgung entlang des Krankheitsverlaufs und möglichst den gesamten Behandlungszyklus über­blickend organisieren. Der gewünschte Wettbewerb unter Krankenversicherungen, Spitälern, Pharmafirmen und niedergelassenen Ärzten soll sich auf den Patientennutzen konzentrieren. Versicherungen sollen sich nicht nur als Zahlstelle verstehen, sondern ihren Erfolg am Gesundheitszustand ihrer Mitglieder messen [6].

Integration ökonomischer und ­medizinischer Ziele

Der faszinierende Vorteil des Konzeptes «Value Based Healthcare» ist die Integration ökonomischer und medizinischer Ziele, indem alle Beteiligten davon profitieren, wenn für Patienten nutzbare hohe Qualität erreicht wird (Abb. 2). Rehabilitationsmediziner wünschen von unseren Politikern, dass sie ein innovatives «value based»-Finanzierungsmodell entwickeln.
Abbildung 2: Durch Transformation eines Systems, welches sich auf Volumenausweitung und Kostenreduktion konzentriert, hin zum wertebasierten System wird die Integration medizinischer und ökonomischer Ziele erreicht.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Jan Triebel, MBA
Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation,
Facharzt für Orthopädie und Traumatologie des Bewegungsapparates
Klinik für Rheumatologie
Stadtspital Triemli Zürich
Birmensdorferstrasse 497
CH-8063 Zürich
jan.triebel[at]
triemli.zuerich.ch
1 Schneiter W. Das schweizerische Gesundheitwesen: Wachstumsbranche und Arbeitsplatzgenerator. Ars Medici. 2015;23.
2 Trageser J, Vettori A, Iten R, Fliedner J. Gefordert ist mehr Effizienz im Gesundheitswesen. SAEZ. 2015;96(1–2):32–5.
3 Porter MR, Teisberg EO. Redefining Health Care: Creating Value-based Competition on Results. Boston, Massachusetts: Harvard Bussiness School Press; 2006
4 Porter MR, Teisberg EO. How physicians can change the future of health care. JAMA. 2007;297(10):1103–11.
5 Gutzwiller F, Schwenkglenks M. Methoden zur Bestimmung von Nutzen bzw. Wert medizinischer Leistungen und deren Anwendung in der Schweiz und ausgewählten europäischen Ländern. Bern: Akademien der Wissenschaften Schweiz; 2012.
6 Teisberg EO. Nutzenorientierter Wettbewerb im schweizerischen Gesundheitswesen: Möglichkeiten und Chancen. Zürich: Economiesuisse und Klinik Hirslanden AG und Schweizerischer Versicherungsverband SVV; Basel: Interpharma; Bern: Swisscom IT Services AG; 2008.