Rheumatologie: Wenn der Kopfschmerz  die Koffer packt
Rheumatologie

Rheumatologie: Wenn der Kopfschmerz die Koffer packt

Schlaglichter
Ausgabe
2017/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02849
Schweiz Med Forum 2017;17(0102):38-41

Affiliations
Department für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie, Inselspital, Universitätsklinik Bern

Publiziert am 10.01.2017

Wer schon einmal starke Kopfschmerzen hatte, weiss: Nichts ist schöner, als der Moment, in dem er nachlässt. Wer den Kopfschmerz nicht mehr los wird, hat oft eine grosse Odyssee vor sich, bevor es ihm besser geht. Bei temporalen Kopfschmerzen im Alter über 50 mit begleitenden serologischen Entzündungszeichen führt der Abklärungsweg häufig auch über den Rheumatologen: Der Verdacht einer Riesenzellarteriitis muss ausgeräumt oder bestätigt werden.

Was hat der Kopfschmerz in der Rheumato­logie zu suchen?

Die Riesenzellarteriitis (RZA) stellt die häufigste Form der Vaskulitis bei Menschen über 50 Jahren dar. Dahinter verbirgt sich eine granulomatöse, destruierende Entzündung der mittelgrossen und grossen Arterien. Bei kraniellem Befall ist eine plötzliche Erblindung die am meisten gefürchtete Komplikation – und meistens irreversibel. Unbemerkt kann eine eventuell begleitende entzündliche Beteiligung der Aorta über Jahre hinweg zu Stenosen, Dilatationen und letztlich zu einer Aortenruptur führen.

Vaskulitisdiagnostik alt und neu

Bei ca. 25% der Betroffenen kann neben einer Affektion der Temporalarterien auch eine Beteiligung der Aorta vorliegen. Erstere wird nach wie vor im Rahmen einer möglichst beidseitigen Temporalarterienbiopsie dia­gnostiziert. Aufgrund des segmentalen Entzündungscharakters kann jedoch eine RZA hierbei verpasst werden. Mittlerweile kann ein aortaler Befall mittels einer einzigen MR-Angiographieserie von Thorax und Abdomen rasch und zuverlässig erkannt werden (Abb 1). Somit erscheint – vor dem Hintergrund des klinisch und serologisch gut begründeten Verdachtes – die Positivität in einer der beiden Verfahren ausreichend für die Dia­gnose einer RZA. Mehr und mehr kommt auch ein PET-CT zur Diagnostik von Grossgefässvaskulitiden zum Einsatz. Von Vorteil ist hierbei die Abbildung des gesamten Gefässbaumes in einer einzigen Untersuchung. Allerdings steht diese Untersuchung in der Regel nur nach vorgängiger Kostengutsprache und zudem nach Bereitstellung bzw. «Zubereitung» des radioaktiven Materiales zur Verfügung. Dies kann im Fall einer dringlich notwendigen Abklärung zur Verzögerung der Diagnosestellung führen.
Abbildung 1: MR-Angiographiebefunde. A: MRA-Thorax ohne Aortitis. B: MRA-Thorax mit Aortitis: «late enhancement». 
 C: MRA-Abdomen ohne Aortitis, jedoch Zeichen der Atherosklerose. D: MRA-Abdomen mit Aortitis: «late enhancement» 
und Gefässwandödem.

Wie sehen die Behandlungsmöglichkeiten aus – Einblick und Ausblick

Die fast unmittelbare Gabe von Glukokortikoiden in Dosen um 1 mg/kg Körpergewicht reduziert das Erblindungsrisiko, bringt rasche Besserung und für viele Betroffene erstmalig wieder eine schmerzfreie Zeit. So angenehm der Ersteffekt auch ist: eine zumeist langfristige Gabe von Glukokortikoiden über Monate oder Jahre birgt wohlbekannte Risiken. Ein frühzeitiger Stopp der Therapie ist häufig mit Rezidiven verbunden und führt durch die erneute Gabe von höherdosierten Glukokortikoiden zu weiterer Steroidmorbidität.
Eine steroidsparende Begleitmedikation ist daher wünschenswert. Oft angewandt werden Methotrexat, diskutiert wurden TNF-Hemmer und Fallberichte beschreiben Cyclophosphamid. Trotz heterogenen Resultaten kann zumindest Methotrexat eine mässige ste­roidsparende Wirkung attestiert werden.
Pathogenetisch hat sich Interleukin-6 (IL-6) als zentrales Molekül in der Entwicklung und der Unterhaltung der Vaskulitis gezeigt. Nachdem einzelne Fallserien bei Patienten mit RZA eine rasche Remissionsinduktion und Remissionserhaltung durch die Blockierung von IL-6 durch die Gabe von Tocilizumab zeigen konnten, lag die Konzeption von randomisierten, plazebokon­trollierten Studien nahe.

Inhalt der Studie

Die erste Studie mit 30 RZA-Patienten konnte an unserem Zentrum erfolgreich durchgeführt werden. In dieser 12-monatigen Studie wurde zur oralen Glukokortikoid-Basismedikation entweder Tocilizumab oder Plazebo in 4-wöchentlicher i.v.-Gabe hinzugegeben. Die Glukokortikoid-Dosis wurde wie üblich mit 1 mg Prednison/kg Körpergewicht (KG) begonnen, dann aber rasch reduziert. 3 Monate nach Studienbeginn war für beide Gruppen eine Zieldosis von 0,1 mg Prednison/kg KG vorgesehen (durchschnittlich also nur 7 mg/Tag!). Im Rezidivfall wurden die Glukokortikoide entsprechend dem Protokoll erneut gesteigert. Die Dosis des Tocilizumab von 8 mg/kg KG entsprach den Dosen der vorgängigen RZA-Fallserien und der bei Rheumatoider Arthritis applizierten Menge.
Der primäre Endpunkt war eine komplette Remission 12 Wochen nach Beginn der Studie, definiert als Fehlen von klinischen oder laborchemischen Zeichen einer Krankheitsaktivität. Sekundäre Endpunkte waren (1) Rezidivfreiheit über 52 Wochen, (2) Zeit bis zum Auftreten eines ersten Rezidives und (3) kumulative Dosis der Glukokortikoide.

Rezidive

Rezidive waren jeweils gekennzeichnet durch typische klinische RZA-Zeichen. Bei den meisten Patienten entsprach die Rezidivpräsentation derjenigen der Eingangssymptomatik.
In der Tocilizumab-Gruppe traten Rezidive bei einem Patienten vor Ablauf von 3 Monaten auf, während dies in der Plazebo-Gruppe bei 3 Patienten der Fall war (Abb. 2). Als Fazit blieben bei Studienende 17/20 (85%) der Tocilizumab-Patienten ohne Rezidiv, in der Plazebo-Gruppe war dies nur bei 2/10 der Patienten (20%) der Fall.
Abbildung 2: Rezidiv-freies Überleben (A) und Zeit bis zum Ausschleichen des Prednison (B) .

Glukokortikoide

Aufgrund vermehrt aufgetretener Rezidive lag die kumulativ verabreichte Glukokortikoid-Dosis bei Studien­­ende in der Plazebo-Gruppe signifikant höher als in der Tocilizumab-Gruppe (91,3 gegenüber 42,7 mg/kg KG).

Nebenwirkungen

Schwere Nebenwirkungen traten in der Plazebo-Gruppe häufiger auf als unter Tocilizumab, insgesamt gab es aber keine numerischen Unterschiede. Folgendes ist jedoch zu erwähnen:
Tocilizumabgruppe: Die Anzahl der Infekte war unter Tocilizumab deutlich höher als unter Plazebo (10 zu 1). Dabei handelte es sich in der Mehrzahl um banale Infekte, die jeweils ambulant, meist ohne antibiotische Therapie folgenlos abheilten.
Plazebo-Gruppe: Auffallend waren kardiovaskuläre Ereignisse. 2 Patienten hatten aufeinanderfolgende myokardiale Ischämien, in einem Falle mit letalem Ausgang. Osteoporotische Frakturen wurden ebenfalls unter Plazebo häufiger verzeichnet und führten zu Hospitalisationen mit operativen Konsequenzen (Tab. 1).
Tabelle 1: Nebenwirkungen.
 Tocilizumab plus 
Prednisolon (N = 20)Plazebo plus 
Prednisolon (N = 10)
Anzahl Nebenwirkungen26 (15 Patienten)23 (7 Patienten)
Schwere Nebenwirkungen7 (7 Patienten)10 (5 Patienten)
Kardiovaskulär15 (1 letal verlaufener 
Myokardinfarkt)
Gastrointestinal31
Osteoporotische Fraktur13
Muskuloskeletal58
Glukokortikoid-assoziiert33
Infektionen101
Hauterkrankungen12
Zystische Mammaläsion10

Zusammenfassung und Bedeutung

Diese Studie hat gezeigt, dass die Kombinationstherapie Tocilizumab/Glukokortikoid der alleinigen Gabe von Glukokortikoiden weit überlegen ist. Tocilizumab bewirkte in der üblichen Dosierung von ­8 mg/kg KG eine rasche Remissionsinduktion und erhielt die Remission über 52 Wochen. Auf Grund der Rezidivfreiheit war es in vielen Fällen möglich, die Glukokortikoide abzusetzen, d.h. die Patienten blieben mit einer Tocilizumab-Monotherapie in stabiler Remission.

Ausblick und vorläufige Empfehlungen

Noch ist Tocilizumab in der Schweiz nicht auf der Spezialitätenliste. Erste Informationen einer noch laufenden grossen Multizenterstudie (GiACTA-Studie) bestätigen unsere Daten. Vorerst empfehlen wir ein differenziertes Vorgehen, welches auch zwingend das Einholen einer «off-label»-Kostengutsprache durch die Krankenkassen beinhaltet:
Start mit einer Prednison-Therapie in der üblichen Dosis von 1 mg/kg KG. Reduktion auf einen Zielwert von maximal 15 mg nach 3 Monaten. Kommt es zu einem Rezidiv, Beginn mit Tocilizumab in der Studiendosierung. In diesem Falle sollen die Glukokortikoide rasch, entsprechend dem Studienprotokoll, reduziert und aus­geschlichen werden.
Im Falle eines Rezidives oder einer therapierefraktären Situation (z.B. wenn es nicht gelingt, Prednison auf unter 15 mg/Tag innerhalb von 3 Monaten zu reduzieren), wenden wir ebenfalls Tocilizumab an und folgen dem Studienschema.
Bei Patienten mit erheblichen Glukokortikoid-Risiken, konkret einem Diabetes mellitus, einer degenerativen kardiovaskuläre Erkrankung oder einer etablierten ­Osteoporose, führen wir bereits primär die Therapie mit Tocilizumab entsprechend dem Studienprotokoll durch.
Cave: Bei Patienten mit bekannter Divertikulose und rezidivierender Divertikulitis ist Vorsicht geboten. Die Kombinationstherapie mit Tocilizumab/Glukokortikoid ist in diesen Fällen zu risikobehaftet. Demzufolge schliessen wir diese Patienten von einer Therapie mit Tocilizumab aus.

Fazit

Temporale Kopfschmerzen bei Menschen über 50 Jahren können einer Riesenzellarteriitis entsprechen. Abklärungen von serologischen Entzündungsparametern und im positiven Fall eine weitergehende Diagnostik erscheinen aufgrund gefürchteter Komplikationen gerechtfertigt. Bildgebende Verfahren mittels speziellen MR-Angiographietechniken haben sich mehr und mehr etabliert. Neben der bewährten Therapie mit Glukokortikoiden hat sich – wenn auch noch off-label – die Blockade von Interleukin-6 mittels Tocilizumab als wirksam und der alleinigen Glukokortikoid-Therapie als überlegen erwiesen. Die Patientenzahl in unserer Studie erscheint zunächst sehr klein, um eine Anwendung des IL-6-Antagonisten zu empfehlen; eine grosse Multizenterstudie (GiACTA trial) mit über 250 Patienten von 72 teilnehmenden Zentren konnte diese Ergebnisse jedoch bestätigen. Die Daten dieser Studie werden wahrscheinlich in Kürze publiziert werden.
Die Autorin hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Sabine Adler
Department für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie
Inselspital
Universitätsklinik Bern
Freiburgstrasse 4
CH-3010 Bern
sabine.adler[at]insel.ch
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