Psychiatrie und Psychotherapie / Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive
Psychiatrie und Psychotherapie / Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Psychiatrie und Psychotherapie / Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive

Schlaglichter
Ausgabe
2017/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02882
Schweiz Med Forum 2017;17(04):0

Affiliations
a Sozialpädiatrisches Zentrum, Kantonsspital Winterthur; b Praxisgemeinschaft, Burgdorf; c Pro Mente Sana, Zürich; d Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz; e Regionalspital Emmental AG; f Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich;
g Kinderschutz Schweiz, Bern; h Departement of Health Promotion, Radboud University Nijmegen und Maastricht University; i Parental and Family Mental Health Worldwide; k Institut Kinderseele Schweiz iks, Winterthur

Publiziert am 24.01.2017

Der diesjährige Schweizer Psychiatriekongress thematisierte erstmals die psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive. Die gemeinsam von den Verbänden der Schweizer Psychiater sowie der Kinder- und Jugendpsychiater, dem Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz, der Stiftung Pro Mente Sana sowie dem Institut ­Kinderseele Schweiz organisierte Veranstaltung rückte die gesamte Familie ins ­Zentrum. Erstmals stand ein Nachmittag des Fachkongresses auch Betroffenen und Angehörigen offen.

Einleitung

Psychische Erkrankungen können von Essstörungen über Angststörungen bis hin zu Depressionen oder Schizophrenie reichen. Dem Bericht «Psychische Gesundheit in der Schweiz» aus dem Jahr 2015 zufolge ist jeder fünfte Schweizer betroffen. Das Lebenszeitrisiko, an einer behandlungsbedürftigen psychischen Krankheit zu leiden, beträgt gar 50%. Etwa jede dritte psychisch erkrankte Person hat eigene Kinder [1]. Inter­nationale Studien zeigen, dass bei etwa der Hälfte der Betroffenen bereits andere Familienmitglieder an psychischen Erkrankungen litten. Solche Familien sind nicht nur oft sehr belastet, das Risiko der Kinder Betroffener, selber an einer psychischen Krankheit zu erkranken, ist deutlich erhöht [2, 3]. Eine Übertragung von Generation zu Generation muss daher unbedingt verhindert werden. Dies gab den Ausschlag für das diesjährige Thema der Veranstaltung – übrigens erst die weltweit fünfte, die sich der Generationenperspektive widmete. Die Rollen und Aufgaben von Betroffenen in ihrer Familie werden leicht übersehen, ebenso die komplexen Auswirkungen auf andere Familienmitglieder.

Prägende Familiengeschichten

Clemens Hosman von der Radboud University Nijmegen und der Maastricht University ist Mitglied des internationalen Netzwerks «Parental and Family Mental Health Worldwide», das seit vielen Jahren auf dem Gebiet der transgenerationalen psychischen Gesundheit forscht. In seinem Eröffnungsvortrag betonte er, dass Kinder von psychisch kranken Eltern ein zwischen 3-fach bis zu 13-fach höheres Risiko haben, selber ein psychisches Leiden zu entwickeln, als andere Kinder. In Holland seien an die 577 000 Minderjährige gefährdet. Basierend auf Berechnungen in anderen Ländern würde die ­Anzahl betroffener Kinder und Jugendlicher unter 18 Jahren mit einem psychisch erkrankten Elternteil in der Schweiz vorsichtig geschätzt etwa 300 000 betragen [4, 5]. Transmission ist Hosman zufolge eine der Hauptursachen für neue psychische Erkrankungen. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen müssen daher auch auf die Familie zielen. Besonders hohe Risiken in Familien mit psychisch erkrankten Eltern haben beispielsweise sehr junge Kinder, Kinder von belasteten Schwangeren, von Eltern mit chronischen oder mehreren psychischen Erkrankungen und aus Konfliktfamilien oder Flüchtlingsfamilien. Hosman präsentierte zusammenfassend die zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnisse über Prozesse und Faktoren, die für diese Transmission verantwortlich sind und präventiv beeinflusst werden können. Es gebe viele effektive Interventionen, die diesen Kindern nützen können, betont er: «Je früher diese erfolgen, desto effektiver sind diese». Er empfiehlt diese Interventionen auch in der Schweiz anzuwenden [6]. «Die psychische Gesundheit einer ­Familie beginnt mit den Eltern», bestätigt auch Joanne Nicholson von der «Geisel School of Medicine» aus Dartmouth. Ihr zufolge zeigen über zwei Drittel der Kinder, die destruktiven Konflikten zwischen den Eltern ausgesetzt sind, gravierende Verhaltensprobleme. «Die Partnerschaftsqualität ist ein wichtiger Prädiktor für das psychische und physische Befinden aller Familienmitglieder», ergänzt der klinische Psychologe Guy Bodenmann von der Universität Zürich, der ebenfalls einen Plenarvortrag am PSY-Kongress gehalten hat.

Parental and Family Mental Health Worldwide

Integriert in den Psy-Kongress fand zum Kongressthema auch die 5. internationale «Conference on Families and Children with Parental Mental Health Challenges» von Fachexperten unterschiedlicher Disziplinen statt, die sich anlässlich dieser Tagung mit «Parental and Family Mental Health Worldwide» erstmals einen Namen gab und somit quasi «aus der Taufe» gehoben wurde. Toni Wolf (Marlborough, MA, USA), Andrea Reupert, Darryl Mayberry (beide Monash University, AU), Joanne ­Nicholson, Clemens Hosman, Karin van Doesum (Deventer, NL) und andere haben den Aufbau dieses Netzwerks entscheidend geprägt. Zudem haben sie organi­satorisch und inhaltlich, nicht nur zum Gelingen des Psy-Kongress, sondern auch zu einem Austausch auf höchster fachlicher Qualität viel beigetragen [7].

Offene Türen

«Das Thema soll auch einen Beitrag zur Öffnung gegenüber den Anliegen und der vorübergehend oder dauerhaft veränderten Partizipationsfähigkeit von psychisch erkrankten Menschen und ihren Familien leisten», betonte Kurt Albermann, einer der beiden ­Ko-Präsidenten des Kongresses, insbesondere «sollen auch die Bedürfnisse betroffener Kinder und Jugend­licher berücksichtigt werden». Als einer der Hauptredner thematisierte Paul Hoff dazu den wichtigen Aspekt der Patientenautonomie als eine der Herausforderungen der Generationenperspektive in der Psychiatrie. Im Fokus des Kongresses stand somit zum transdisziplinären Dialog zwischen den Fachpersonen auch der Dialog mit den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen. Dies motivierte ferner, den Kongress um einen Nachmittag für Betroffene und Angehörige zu erweitern. Das Fachgebiet habe in der vergangenen Jahren eine grosse Wandlung hin zu offenen Türen durchgemacht, sagt auch Pierre Vallon, der Präsident der Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie: «Wer früher einen Psychiater sah, war meist im Spital und eingesperrt». Heute kommunizieren er und seine Kolleginnen und Kollegen auf Augenhöhe mit den Patientinnen und Patienten. Ihm zufolge sind beide – psychiatrische Fachperson und Patientin bzw. Patient – Experten auf ihrem Gebiet.

Frühe Belastungen

Der Vortrag von Manfred Cierpka aus Heidelberg befasste sich mit präventiven psychosozialen Hilfen für belastete Familien zur Stabilisierung psychischer Gesundheit. Er wies auf die Bedeutung früher Stresserfahrungen von Kindern hinsichtlich ihrer weiteren Entwicklung hin [8]. Verschiedene Langzeitstudien können mittlerweile klar belegen, dass das Vorliegen von mehr als 4 ungünstigen frühen Kindheitserfahrungen wie Vernachlässigung, Beziehungsabbrüche und schwere Belastungen das Risiko für spätere psychosoziale Belastungen drastisch erhöhen. Das Risiko für späteren Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Depression und Suizidversuche beim Kind wird um den Faktor 4–12 erhöht, das Risiko für Rauchen, reduzierten Gesundheitsstatus (gemäss Selbsteinschätzung) und sexuell übertragene Krankheiten um das 2–4-Fache sowie das Risiko für körperliche Inaktivität und Übergewicht um das 1,4–1,6-Fache [9]. Andererseits wurde immer wieder gezeigt, dass ungefähr ein Drittel aller Kinder, die unter widrigsten Umständen aufwachsen, Resilienz zeigen, das heisst, dass sie sich aufgrund kompensatorisch wirksamer Schutzfaktoren wie beispielsweise überdurchschnittlicher Intelligenz oder robusten, aktiven und kontaktfreudigen Temperaments trotz vieler Belastungsfaktoren positiv entwickeln. Auch eine sichere Bindung und die dauerhafte und gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson sowie eine verlässlich unterstützende Bezugsperson im Erwachsenenalter wirken stabilisierend. Risikokinder haben im Vergleich zu resilienten Kindern weniger solcher Schutzfaktoren oder können von vorhandenen Schutzfaktoren weniger profitieren. Bei einer zunehmenden Anzahl ungünstiger Bedingungen «kommt das Fass irgendwann zum Überlaufen».

Risikofaktoren und Belastungen für die kindliche ­Entwicklung (modifiziert nach Cierpka 2016).

– Emotionale Vernachlässigung / unsichere Bindung
– Berufliche Anspannung beider Eltern von klein auf
– Chronische familiäre Disharmonie / mit Gewalt
– Altersabstand zu Geschwister <18 Monate
– Häufig geschlagen/misshandelt
– Schwerer sexueller Missbrauch
– Finanzielle Situation kärglich/instabil
– Scheidung/Trennung der Eltern
– Mutter körperlich krank/behindert
– Mutter psychisch krank/Suchtproblem
– Vater körperlich krank/behindert
– Vater psychisch krank/Suchtproblem
– Tod eines Elternteils
«Je früher, desto besser» ist deshalb eine zentrale Bedingung, die es zu erfüllen gilt, damit primäre Prävention effektiv sein kann. Ausserdem muss diese immer wieder und mit Breitenwirksamkeit erfolgen und an mehreren Punkten synergetisch ansetzen. Um eine Risikofamilie in diesem frühen Zeitfenster zu erreichen und sie zu fördern, sind gemäss Cierpka drei Schritte notwendig: Das Herstellen eines Zugangs zur Familie, die Identifizierung einer Risikokonstellation und die Vermittlung zu einer angemessenen Intervention [10]. Hierbei ist bedeutsam, dass die verschiedenen Player im Gesundheitssystem diese Zusammenhänge kennen, frühzeitig auf Belastungen aufmerksam werden und die betroffene Familie bei Bedarf möglichst direkt und verlässlich einer wirksamen Unterstützung respektive einer verantwortlichen Fachperson im jeweiligen Netzwerk zuführen.

Demografischer Wandel – 
Transgenerational Impact

Astrid Stuckelberger aus Genf beschrieb in ihrem Referat sehr eindrucksvoll die Auswirkungen des während der vergangenen Jahrzehnte vollzogenen soziodemografischen Wandels auf die Struktur und Dynamik von Familien. Kleinst- oder Einelternfamilien, getrennt oder weit voneinander entfernt lebende Familien und Generationen, Patchworkfamilien und ein durch die enormen Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnologie und Massenmedien geprägter Wertewandel beeinflussen das Miteinander und die Solidarität unserer Gesellschaft. Individuelle Vor­lieben und schier endlose Wahlmöglichkeiten persönlicher Lebensentwürfe, Lebensstile, die veränderte Rolle der Frau, das Verständnis von Zusammenleben und ­Sexualität sowie die Arbeitswelten führten zu tief­greifenden Veränderungen und Herausforderungen zwischen den Generationen. Stuckelberger zeigte generationenspezifische Charakteristika, Verhaltensweisen und Trends auf – und beschrieb die Generation der Baby-Boomer der Geburtsjahrgänge ­1946–1964 als «consumers of the best quality of life at all levels» (Bsp. «easy life», «anti-aging», «age design»). Das Miteinander von 4–5 Generationen führe zu besonderen Herausforderungen auch im Bereich der psychischen Gesundheit, neben den altersspezifischen metabolischen Veränderungen und der erhöhten Prävalenz von Suiziden und depressiven Störungen. Die Erforschung der Determinanten eines gesunden Lebensstils im Übergang des traditionellen Alterns zum «successful aging» befänden sich noch in den Anfängen. Transgenerationale Studien weisen beispielsweise bei bipolaren und depressiven Störungen auf eine genetische Komponente hin. Neben ihrem gemeinsamen Genpool und epigenetischen Phänomenen teilen Familien auch ihre Umwelt und ihre Er­fahrungen. Die Lebenszeitprävalenz von Angst und depressiven Störungen in der Grosseltern-Generation scheint unabhängig von einer elterlichen psychischen Störungen eine prädiktive Aussage hinsichtlich internalisierender und externalisierenden Störungen bei den 3-jährigen Enkelkindern zu erlauben.

Epigenetische Faktoren, Depression und transgenerationale Traumata

Elisabeth Binder vom Max Planck Institut für Psychiatrie in München berichtete am Beispiel depressiver Störungen und posttraumatischer Belastungsstörungen (PTSD) auch für Nicht-Genetiker weitgehend gut verständlich von ihren spektakulären Forschungsarbeiten zur Gen-Umwelt-Interaktion psychischer Störungen. Verschiedene Studienergebnisse belegen die positive Korrelation späterer depressiver Störungen mit der ­Anzahl von Misshandlungen und Traumata in der Kindheit. Auf DNA-Ebene führen Umwelteinflüsse und indi­viduelle Erfahrungen durch Methylierung zu einer ­veränderten Gentranskription. Zudem interagiert das körpereigene Stresshormonsystem mit den zellulären Prozessen und scheint dadurch das Risiko für psychische Erkrankungen zu verändern. Abhängig vom ­jeweiligen Genotyp wird die spätere zelluläre Rea­ktion auf psychosozialen Stress oder Kindheitstraumata unterschiedlich ausfallen und zu einer Risikoänderung, also zu einer geringeren oder stärkeren Symptomausprägung, führen. Eine neue Generation von Psychopharmaka könnte beispielsweise bei Depressionen die Fehl­regulation des Stresshormonsystems beeinflussen. Das FKBP5, ein Ko-Chaperon des Stresshormonre­zeptors, sei dabei ein mögliches Schlüsselgen, da Sequenzveränderungen in dem FKBP5-Gen das Depressionsrisiko beeinflussen. Im Tiermodell führte eine Hemmung von FKBP5 zu weniger Angst und einer erhöhten Stressresistenz [11]. Dieses pharmakolo­gische Antagonisierungsmodell wäre eine von vielen Seiten lang ersehnte Entwicklung für die psychia­trischen Disziplinen, das ein vertieftes Verständnis psychischer Störungen und bestenfalls auch neue medikamentöse Therapieoptionen ermög­lichen könnte. Weitere Ergebnisse dürfen mit Spannung erwartet werden. Binder führte weiter aus, dass die Nachkommen stress- oder traumaexponierter Eltern ein erhöhtes Risiko für Störungen auf körperlicher, kogni­tiver und auf der Verhaltensebene haben, verbunden mit mehr psychopathologischen Auffälligkeiten. Auch Altern und Depressionen/Traumata seien mit einer Demethylierung von FKBP5 assoziiert.
Harald J. Freyberger aus Greifswald befasste sich in ­seinem Referat mit theoretischen Modellen der transgenerationalen Übertragung traumatischer Erfahrungen. Er konnte die zuvor geschilderten genetischen ­Befunde mit der Beschreibung der Kinder hochtraumatisierter Menschen auf drastische Weise belegen. Kinder stark traumatisierter Eltern stellen für diese zumeist einen zentralen Gesundungsfaktor dar, werden aber auch substantiell belastet. Die Betrachtung aus der Opferperspektive übersieht dabei leicht, dass betroffene Eltern vor dem Hintergrund ihrer Schädigung oft mit bestimmten Aspekten der Erziehung über­fordert sind, was u.a. zu emotionaler Vernachlässigung gegenüber den Kindern und bei diesen zu konseku­tiven psychosozialen Belastungen und Störungen führen kann.

Vererbte Wunden

Die Publikumsveranstaltung am letzten Nachmittag des PSY-Kongresses war öffentlich und wurde auch von sehr vielen Betroffenen besucht. Sie startete mit einem trialogischen Gespräch zwischen einer Betroffenen, der ehemaligen Miss Schweiz und Angehörigen Bianca Sissing und einer Psychologin. Thema war die Herausforderung der generationenübergreifenden psychischen Gesundheit. Die anschliessende Podiumsdiskussion bezog die engagierten Organisationen sowie verschiedene Referenten des Kongresses mit ein (Abb. 1). Die Diskussionsrunde war sich einig, dass es nach wie vor wenig braucht, dass sich die Vorurteile gegen psy­chische Erkrankte verbreiten. Insbesondere die Angehörigen und Betroffenen fordern mehr Akzeptanz und Respekt und weniger Scham. Bianca Sissing, die ihre Erfahrung als Tochter einer depressiven Mutter in ­einem Buch verarbeitete und in einer Lesung daraus ­zitierte, forderte Offenheit: «Wir haben alle eine eigene Geschichte und oft machen wir uns nicht die Mühe, mehr über die Geschichte unseres Gegenübers zu erfahren».
Abbildung 1: Podiumsdiskussion (von links nach rechts): Prof. Wulf Rössler, Zürich / São Paulo, Dr. Bettina Abel, Gesundheitsförderung Schweiz, Joachim Eder, Ständerat, Mona Vetsch, Moderation, Dr. med. Kurt Albermann, Ko-Präsident Kongress, Prof. Clemens Hosman, Radboud University Nijmegen, 
Andreas Daurù, Pro Mente Sana. Im Hintergrund ein während der Eröffnungsveranstaltung von T. Seehofer et al. live auf der Bühne gespraytes Graffiti.
(Quelle: © Romel Janeski).
Während des gesamten Kongresses waren die Wünsche und Stimmen von Betroffenen als etwa einminütige Einspieler als roter Faden immer wieder präsent.
Der Abschluss des PSY-Kongresses stand im Zeichen ­einer Weltpremiere: Erstmals zeigten die Regisseure Phil Borges und Kevin Tomlinson auf Initiative von PMS den Dokumentarfilm «CrazyWise». Der Film zeigt anhand persönlicher Erfahrungen von porträtierten Menschen, wie eine psychische Krise in eine positive Erfahrung transformiert werden kann. Dabei vergleicht der Film auch das Wissen von indigenen Völkern und westliche Ansätze im Zusammenhang mit psy­chischer Gesundheit. Der Einsatz und Nutzen von Psychopharmaka bei psychischen Erkrankungen wird im Film zu Recht kritisch, gleichzeitig aber recht einseitig dargestellt. Der für viele Betroffene unbestrittene ­Nutzen einer indizierten psychopharmakologischen und multimodalen Behandlung kam eindeutig zu kurz, entsprechend kontrovers waren die Positionen beim nachfolgenden Panel.

Grenzen bewegen

Kaspar Aebi, Ko-Präsident des Kongresskomitees sieht im grossen Engagement der Kongressteilnehmer einen Spiegel der Alltagssituation, in der ein hohes Enga­gement bestehe, die Bedürfnisse der Betroffenen ­wahrzunehmen und in den Behandlungsangeboten zu ­berücksichtigen (siehe auch Tab. 1). Dabei würden Psychiater, Psychotherapeuten und die Betroffenen auch immer wieder an gesellschaftliche, politische und finanzielle Grenzen stossen. Dies stelle allerdings gleichzeitig die Voraussetzung dafür dar, dass sich die Grenzen im Sinne einer konstruktiven Weiterentwicklung und Verbesserung der Behandlungsangebote bewegen.
Tabelle 1: Informationsbedürfnis von Kindern und Jugendlichen (in Anlehnung an [13] und [12]).
Verstehen, was passiert ist
(Krankheitsursachen und Verlauf)
­­Was ist los mit Mutter oder Vater?
Warum sind sie krank geworden?
Bin ich schuld daran? Habe ich etwas falsch gemacht?
Wird es wieder gut werden? Wie lange dauert die Krankheit?
Wie soll ich mich verhalten?
(Umgang im familiären Alltag)
Was muss ich beachten. Was soll ich anders machen?
Wie soll ich auf das veränderte Verhalten ­reagieren?
Was mache ich, wenn es zu Hause schwierig wird?
Wie geht es mit mir weiter?
(Veränderungen im Familienleben)
Wer kümmert sich jetzt um mich?
Wem kann ich vertrauen? Wer ist für mich da?
Darf ich darüber sprechen? Mit wem?
Was bedeutet eine psychische 
Krankheit?
(Information über psychische 
Störungen)
Was heisst eigentlich «psychisch krank»?
Wird die Mutter / der Vater wieder gesund? Was kann ich tun?
Gibt es Medikamente? Was passiert in der Therapie?
Kann ich auch krank werden?
Was mache ich wenn …?
(Notfallplan 24/7)
Wer hilft mir? Wen kann ich wann anrufen?
Wo bin ich sicher? Wo kann ich wann hingehen?
Wer hilft dann der Mutter / dem Vater?
Soll ich das 144 oder 117 anrufen?

Wer ist im Netzwerk für betroffene Familien tätig (individuell verschieden, bedarfs- und angebotsabhängig)? [12]


– ­Kinderarzt / Hausarzt
– ­Kinder- / Jugendhilfe, Erziehungsberatung
– ­Mütter- / Väterberatung
– ­Psychiater / Psychotherapeut / Psychologe / Kinder- und Jugendpsychiater
– ­Psychiatrische / Kinder- / Jugendpsychiatrische Klinik
– Mutter-Kind-Einrichtung
– KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde)
– Beistand (Kind / Erwachsener)
– Kinderschutzgruppe
– Gynäkologe / Geburtshelfer / Hebamme
– Frühförderung / Heilpädagogik
– Schule (Lehrperson, Schulsozialarbeit, Schulpsychologischer Dienst, Schularzt)
– Kindergarten, Kita, Hort
– Arbeitgeber

Fazit

Das Ziel des Psy-Kongresses, die psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive und damit besonders auf die spezifischen Bedürfnisse von Kindern, Jugend­lichen und Familien zu fokussieren, wurde vollumfänglich erreicht. Als besonders anregend wurde die trotz hoher Teilnehmerzahl und internationaler Beteiligung sehr persönliche Atmosphäre im Congress Centrum Basel empfunden, die neben einem fach­lichen Diskurs auf höchster Ebene Raum liess für freundschaftliche Begegnungen und den kollegialen Austausch unterschiedlicher Fachdisziplinen. Es ist ­gelungen, Kliniker, Wissenschaftler, Fachpersonen aus Praxen, der Jugendhilfe, der KESB und anderen Institutionen und Behörden sowie politische Entscheidungsträger zusammenzubringen, Spezialisten für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen. Der Einbezug Angehöriger war ein Novum bei diesem Kongress und ermöglichte eine Auseinandersetzung mit diesem Thema auf Augenhöhe mit den Fachpersonen.
Nach Auswertung der vielfältigen Inputs am Psy-­Kongress soll nun analog zu anderen Modellen der Gesundheitsberatung in der medizinischen Grund- und Spezialversorgung [14, 15]gemeinsam mit den gesundheitspolitischen, nationalen und kantonalen Entscheidungsträgern geprüft werden, welche Strukturen und Strategien zu einer evidenzbasierten, effizienten und gesundheitsökonomisch sinnvollen Gesundheitsversorgung an dieser wichtigen Schnittstelle der nicht übertragbaren (psychischen) Krankheiten («non-communicable diseases», NCD) beitragen können, mit dem Ziel, am besten «…die Krankheit am Entstehen schon zu hindern …» [16].

Empfehlungen für die Praxis


– Durch themenfokussierte Kurzinterventionen können Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten bei der Beibehaltung oder Änderung ihres Gesundheitsverhaltens unterstützen. Dies gilt auch rund um Fragen zur psychischen Gesundheit.
– Psychische Störungen sind sehr häufig, nicht selten haben sie einen wesentlichen Einfluss auf das Leben der Betroffenen, ihrer Angehörigen und Kinder.
– Sprechen Sie auch die Auswirkungen psychischer Belastungen oder Erkrankungen Ihrer Patienten auf das Umfeld konkret an. Insbesondere die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen gehen häufig vergessen.
– Stellen Sie Ihren Patienten folgende Fragen:
1. Haben Sie minderjährige Kinder?
2. Wie geht es Ihren Kindern?
3. Wer schaut nach Ihren Kindern?
– Beurteilen Sie, ob Abklärungs- oder Unterstützungsmassnahmen angezeigt sind und wer diese anbieten könnte.
– Durch offene Fragen und aktives Zuhören auf einer wertschätzenden Basis gelingt es Patienten, sich anzuvertrauen und Ängste und Unsicherheit im Umgang mit ihrer psychischen Belastung zu thematisieren.
– Wie sieht Ihr regionales Netzwerk aus? Wer kann Sie und Ihren Patienten respektive deren Familie bei komplexen Fragen beraten oder unterstützen? Individuelle Lösungen lassen sich manchmal erst im Kontext einer «vereinbarten Zusammenarbeit» mit Partnern im psychosozialen Gesundheitssystem erarbeiten [17].
– Legen Sie gemeinsam mit Ihren Patienten und deren Familien fest, was und wie kommuniziert werden darf.
– Manchen psychisch erkrankten Eltern gelingt es nicht, sich ausreichend um das Wohl ihrer Kinder zu kümmern. Sprechen Sie Eltern darauf an, wenn Sie sich sorgen oder gar eine Gefährdung eines Kindes befürchten. Bei Bedarf sind geeignete Schutzmassnahmen zu erwägen
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Kurt Albermann
Chefarzt Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ
Stv. Direktor Dept. Kinder- und Jugendmedizin
Kantonsspital Winterthur
Postfach
CH-8401 Winterthur
kurt.albermann[at]ksw.ch
 1 Mattejat F, et al. Kinder psychisch kranker Eltern. Deutsches Ärzteblatt. 2008;7:312–7.
 2 Beardslee WR, et al. Children of affectively ill parents: A review of the past 10 years. JACAAP. 1998;32:1134–41.
 3 Albermann K (Hg.). Wenn Kinder aus der Reihe tanzen. Psychische Entwicklungsstörungen von Kindern und Jugendlichen erkennen und behandeln. Zürich: Beobachter-Edition. 2016.
 4 Albermann K, et al. Winterthurer Präventions- und Versorgungsprojekt für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern (wikip) – Ein interdisziplinärer Approach der medizinischen und psychosozialen Versorgungssysteme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Teil I). Das Thema zum Thema machen. ­Schweizerische Ärztezeitung. 2012;93(42):15215.
 5 Mattejat F, et al. (Hrsg.) (2014) Nicht von schlechten Eltern, Kinder psychisch Kranker, Balance Ratgeber, Bonn.
 6 Siegenthaler E, Munder T, Egger M. Effect of preventive interventions in mentally ill parents on the mental health of the offspring: systematic review and meta-analysis. J. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry. 2012;51(1):8–17.
 7 Reupert A, Maybery D, Nicholson J, Gopfert M, Seeman M. Parental psychiatric disorders. Distressed parents and their families (3rd ed.). London: Cambridge University Press. 2015.
 8 Egle UT, Franz M, Joraschky P, Lampe A, Seiffge-Krenke I, Cierpka M. Gesundheitliche Langzeitfolgen psychosozialer Belastungen in der Kindheit - ein Update. Bundesgesundheitsbl. 2016;(59):1247–54.
 9 Felitti VJ, Anda RF, Nordenberg D, Williamson DF, Spitz AM, Edwards V, Koss MP, et al. The relationship of adult health status to childhood abuse and household dysfunction. American Journal of Preventive Medicine. 1998;14:245–258.
10 Sidor A, Kunz E, Eickhorst A, Cierpka M. Effects oft he early prevention program «Keiner fällt durchs Netz» («Nobody slips through the net») on child, mother, and their relationship:
a controlled study. Infant Mental Health Journal. 2013;34(1):11–24.
11 Binder EB, Salyakina D, Lichtner P, Wochnik GM, Ising M, Putz B, et al. Polymorphisms in FKBP5 are associated with increased recurrence of depressive episodes and rapid response to antidepressant treatment. Nature Genetics. 2004;36:1319–25.
12 Albermann K, Müller B. In: Kinder psychisch kranker Eltern. Unterstützung für Kinder psychisch kranker Eltern. Pädiatrie,
o.Jg. 2016;(3):4–8.
13 Lenz A, Wiegand-Grefe S. Ratgeber Kinder psychisch kranker Eltern. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe, Bern. 2016.
14 Martin BW, Neuner-Jehle S, Martin-Diener E, Grüninger U, Bize R, Weil B, et al. Gesundheitsberatung in der medizinischen Grundversorgung, Teil 1:Ansätze für die nicht übertragbaren Krankheiten und darüber hinaus. Swiss Medical Forum. 2016;16(43):916–20.
15 Martin BW, Neuner-Jehle S, Martin-Diener E, Grüninger U, Bize R, Weil B, et al. Gesundheitsberatung in der medizinischen Grundversorgung, Teil 2. Ziel: Prävention der nicht übertragbaren Krankheiten auf Bevölkerungsebene. Swiss Medical Forum. 2016;16(43):932–937.
16 Zeller A. Gesundheitsberatung in der Hausarztpraxis. «…die Krankheit am Entstehen schon zu hindern …»
Swiss Medical Forum. 2016;16(43):907–908.
17 Müller B, Alessi-Näf M, Albermann K. «Es war sehr schwer, weil ich wusste nicht wohin ...». Unterstützung für Familien mit einem
psychisch erkrankten Elternteil. In: Schweizerisches Rotes Kreuz (Hg.). Privileg Gesundheit? Zugang für alle!. Zürich: Seismo Verlag. 2016:204–25.