Neuroradiologie und Neurochirurgie: Zufallsbefund intrakranielles Aneurysma
Neuroradiologie und Neurochirurgie

Neuroradiologie und Neurochirurgie: Zufallsbefund intrakranielles Aneurysma

Schlaglichter
Ausgabe
2017/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02883
Schweiz Med Forum 2017;17(04):0

Affiliations
a Neuroradiologie, SwissNeuroInstitute, Klinik Hirslanden, Zürich; b Neurochirurgie, HUG, Genf; c AneurysmDataRepository, SwissNeuroFoundation

Publiziert am 24.01.2017

Entsprechend einer Prävalenz von 3% werden intrakranielle Aneurysmen im Rahmen der aktuellen medizinischen Bildgebung mittels Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) zunehmend zufällig entdeckt. Demgegenüber steht eine viel kleinere Inzidenz der Aneurysmaruptur von ca. 10/100 000/Jahr, das heisst nur eines von 300 Aneurysmen blutet pro Jahr.

Einführung

Die gefürchtete klinische Präsentation der Aneurysmaerkrankung erfolgt meist in Form einer Subarachnoidalblutung (SAB) und die damit assoziierten Morbidität und Mortalität sind bestens bekannt. Die Folgen einer SAB sind trotz neuer Therapien und qualitätssteigernder Massnahmen meist gravierend. Bei einem Zufallsbefund eines kleinen (≤10 mm) Aneurysmas stellt sich somit die Frage nach Indikation einer vorbeugenden Therapie, endovaskulär oder neurochirurgisch, beides kostenverursachende Therapien mit in der Regel eher kleinem Eingriffsrisiko und gutem Erfolg.
Eine persönliche Beratung ist also gefordert, um Patienten vor einer Blutung mit entweder tödlichen oder invalidisierenden Folgen zu schützen und gleichzeitig unnötige Behandlungen zu vermeiden. Seit dem Jahr 2016 zeigt sich zunehmend ein Wandel in der Patientenberatung, dies infolge des sich verändernden Krankheitsverständnisses [1, 2, 3].

Das aktuelle Aneurysmakonzept

Aneurysmen sind fokale oder segmentale Dilatationen der arteriellen Wand. Meist am Scheitel von arteriellen Bifurkationen lokalisiert, kommt es initial hämodynamisch bedingt zu einem Einriss der elastischen Lamina. In der Folge kann sich nach einer solchen initialen Schädigung ein in der Regel sackförmiges Aneurysma entwickeln. Eine verstärkte hämodynamische Abnutzung kommt durch erhöhten Blutfluss oder erhöhte Blutviskosität zustande. Erhöhte Blutviskosität besteht zum Beispiel bei Rauchern oder bei Sichelzellanämie, beides Umstände, bei welchen vermehrt sackförmige Aneurysmabildungen beobachtet werden.
Initial können aber auch gleichzeitig andere strukturell wichtige Komponenten der Gefässwand betroffen sein, so die glatte Gefässmuskulatur, das Kollagen oder eine Kombination dieser für die Wandstabilität biomechanisch wichtigen Elemente. Solche multifaktoriellen Wandschwächen, die in der Regel zu einer ausgedehnteren, segmentalen Wandschwäche führen, sind zum Beispiel im Zusammenhang mit Arteriosklerose, Infektion oder Trauma zu beobachten. Hier kommt es in der Folge bereits initial zu mehr fusiformer oder disseziierender Aneurysmabildung.
Sobald ein Aneurysma entstanden ist, spielt sich hinsichtlich Wandregeneration ein neues Gleichgewicht ein. Durch einen regenerierenden Umbau ist eine stabile Vernarbung durchaus und meist möglich. Hingegen kann eine biologisch instabile Situation zu wiederholenden Zyklen des Umbaus mit entzündlicher Wand­vernarbung und Weiterentwicklung führen, also eine globale oder umschriebene Grössenzunahme eines Aneurysmas zur Folge haben. Die treibenden Kräfte der weiteren Aneurysmaevolution sind die kontinuierliche hämodynamisch bedingte Abnutzung und die entzündlichen, destabilisierenden Gewebe­reaktionen seitens der Aneurysmawand.

Abschätzung der Aneurysmawandstabilität

Bei einem Zufallsbefund eines Aneurysmas gilt es, einesteils die bekannten Risikofaktoren der Aneurysmabildung und der Aneurysmaruptur zu erkunden, andernteils eine individuelle, also patientenspezifische Abschätzung der Aneurysmastabilität vorzunehmen (Abb. 1).
Abbildung 1: Zeichen der Aneurysmawandinstabilität:
A) Wachstum, B) Formirregularität, C) Wandentzündung ­(Kontrastmittelaufnahme in Magnetresonanztomographie).
Die in einer MRT detektierbaren morphologischen Veränderungen, die auf Aneurysmawandinstabilität hinweisen sind:
– Grössenzunahme des Aneurysmas;
– Formirregularität des Aneurysmas;
– Kontrastmittelaufnahme in der Wand von kleinen Aneurysmen (≤10 mm).
Beispiele für ein stabiles und ein instabiles Aneurysma finden Sie in den Abbildungen 2 und 3.
Abbildung 2: Beispiel eines asymptomatischen, stabilen Aneurysmas (Patient, 67 Jahre).
A) MR/TOF, nach Kontrastmittel (KM): Die «Time-of-flight»(TOF)-Blutflussinformation zeigt ein 3 × 4 mm kleines Aneurysma der Arteria communicans anterior mit Insertion links, regel­mässig von links durchflossen, nach antero-median gerichtet.
B) MR/T2: Die regelmässige Form des Aneurysmas kommt in der T2-Wichtung besser zur Darstellung. Es bestehen keine Hinweise auf intraluminalen Thrombus.
C) MR/T1/BB, nativ und D) MR/T1/BB, mit KM: Es bestehen keine Hinweise auf 
pathologische KM-Aufnahme entlang der dünnen Aneurysmawand.
Abbildung 3: Beispiel eines asymptomatischen, instabilen Aneurysmas (Patient, 58 Jahre).
A) MR/TOF, nach Kontrastmittel (KM): Die «Time-of-flight»(TOF)-Blutflussinformation zeigt ein 4 × 6 mm kleines Aneurysma der Arteria communicans anterior, nach superior gerichtet. Die Blutflussanalyse zeigt hier Blutzufluss von beiden Seiten.
B) MR/T2: Entlang der postero-superioren Zirkumferenz rechts besteht der Verdacht auf Wandverdickung des unregelmässig geformten Aneurysmas als Hinweise auf ­intraluminale Thrombusablagerung.
C) MR/T1/BB, nativ und D) MR/T1/BB, mit KM: Es besteht eine pathologische KM-Aufnahme entlang der dünnen Aneurysmawand in verschiedenen Abschnitten, was als Hinweis auf entzündliche Veränderung der Aneurysmawand interpretiert wird.
Eine Kombination und Kumulation der verschiedenen Kriterien ist durchaus möglich. Je mehr morphologische Kriterien für Instabilität und andere anerkannte Kriterien für ein Blutungsrisiko sprechen (z.B. positive Familienanamnese für Aneurysma und Subarachnoidalblutung, Lokalisation des Aneurysmas u.a.m.), desto rascher empfehlen wir eine aktive Therapie vorzunehmen.

Grössenzunahme des Aneurysmas

Als zuverlässigstes Kriterium der Aneurysmarupturgefährdung wurde in der «International Study of Unruptured Intracranial Aneurysms» (ISUIA) die Aneurysmagrösse festgestellt. Allerdings stand zum Zeitpunkt dieser internationalen Studien eine, im Vergleich zum heutigen Standard, noch sehr beschränkte Qualität der Aneurysmabildgebung zur Verfügung [4]. Die ­Grössenzunahme eines bekannten Aneurysmas oder eine Aneurysmagrösse von mehr als 10 mm wurden jedoch schon seit Langem als Kriterium der Instabi­lität erachtet.

Formirregularität des Aneurysmas

Die Formirregularität eines Aneurysmas weist auf eine irreguläre Wandqualität hin, was biomechanisch gesehen als weniger stabiles Gefässkompartiment gilt. Irreguläre Aneurysmen wurden klinisch im Verlauf als instabiler nachgewiesen [5, 6].

Kontrastmittelaufnahme in der Wand 
von kleinen Aneurysmen

Entzündliche Wandveränderungen führen zu einem Verlust des intakten Endothels und somit zu einer Kontrastmittelanreicherung in der Aneurysmawand oder in wandständigen Thrombusablagerungen. Solche Entzündungen können insbesondere in Aneurysmawandabschnitten beobachtet werden, wo entweder überdurchschnittlich hohe Flussgeschwindigkeiten mit Zonen der Übertragung hoher Reibungskräfte des Blutes auf die Wand («high wall shear stress») oder im Gegenteil Zonen fast fehlender Flussgeschwindgkeit mit Thrombusentwicklung («low wall shear stress») bestehen.
Die Durchlässigkeit der Aneurysmawand für Kontrastmittel weist auf die bis anhin nicht routinemässig angewendeten Möglichkeiten des Nachweises einer inflammationsbedingten Veränderung des Liquors hin.

Von epidemiologischen Kennzahlen 
zur individuellen Beratung

Ähnlich wie das Strassenverkehrsamt untaugliche Vehikel identifiziert und aus dem Verkehr zieht, um das allgemeine Unfallrisiko zu vermindern, sehen wir mit dem aktuellen Verständnis der Aneurysmaerkrankung und der Möglichkeit, kritische Parameter zu visualisieren, die Zeit für eine individuelle Beratung mit Einschätzung der Aneurysmawandstabilität gekommen. Die Zeichen der Aneurysmawandinstabilität sind in der Bildgebung nachvollziehbar – sie weisen auf eine erhöhte Fragilität der Wand hin und betroffene Aneurysmen sind biomechanisch gesehen somit vulnerabler, das heisst einem erhöhten Rupturrisiko ausgesetzt. Eine vorbeugende Behandlung scheint uns in dieser Situation gerechtfertigt. Die aktuelle Evaluation dieses Beratungsprozesses zeigt, dass ca. 50% der Aneurysmen primär als stabil beurteilt werden und dass im weiteren Verlauf die Gruppe der stabilen Aneurysmen innerhalb von zwei Jahren in weniger als 5% der Fälle Zeichen der Instabilität neu aufweisen. Es wurden bei dieser MRT-gestützten Evaluation bis anhin keine Rupturen in der Gruppe der nicht behandelten Aneurysmen beobachtet, wobei im Vergleich allerdings mehr Aneurysmen einer Behandlung zugeführt wurden als bei alleiniger Rupturrisikoeinschätzung nach Aneurysmagrösse [4].
Zusammenfassend ist die dezidierte und fokussierte MRT-Untersuchung eine reproduzierbare Methode und dient als Grundlage zur persönlichen Beratung bei zufällig gefundenen Aneurysmen. Sie erlaubt, instabile Läsionen zu identifizieren und präventiv aus dem Verkehr zu ziehen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Isabel Wanke
Diagnost. und intervent.
Neuroradiologie
SwissNeuroInstitute
Klinik Hirslanden
Witellikerstr. 40
CH-8032 Zürich
isabel.wanke[at]hirslanden.ch
Prof. Dr. med. Isabel Wanke
Diagnost. und intervent.
Neuroradiologie
SwissNeuroInstitute
Klinik Hirslanden
Witellikerstr. 40
CH-8032 Zürich
isabel.wanke[at]hirslanden.ch
1 Etminan N, Brown RD Jr, Beseoglu K, et al. The unruptured intracranial aneurysm treatment score: a multidisciplinary consensus. Neurology. 2015;85:881–9.
2 Greving JP, Wermer MJH, Brown RD, et al. Development of the PHASES score for prediction of risk of rupture of intracranial aneurysms: a pooled analysis of six prospective cohort studies. Lancet Neurol. 2014;13:59–66.
3 Frösen J, Tulamo R, Paetau A, et al. Saccular intracranial aneurysm: pathology and mechanisms, Acta neuropathologica.2012;123(6):773–86.
4 Wiebers DO, Whisnant JP, Huston J 3rd, et al. International Study of Unruptured Intracranial Aneurysms Investigators. Unruptured intracranial aneurysms: natural history, clinical outcome, and risks of surgical and endovascular treatment. Lancet. 2003;362:103–10.
5 UCAS Japan Investigators – Morita A, Kirino T, Hashi K, et al.
The natural course of unruptured cerebral aneurysms in a Japanese cohort. N Engl J Med. 2012;366:2474–82.
6 Lindgren AE, Koivisto T, Björkman J, et al. Irregular Shape of Intracranial Aneurysm Indicates Rupture Risk Irrespective of Size in a Population-Based Cohort, Stroke. 2016;47(5):1219–26.