Die Komplexität des Refeeding-Syndroms
Illustriert an einem klinischen Fall

Die Komplexität des Refeeding-Syndroms

Übersichtsartikel
Ausgabe
2017/24
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02975
Schweiz Med Forum 2017;17(24):523-528

Affiliations
a Departement Medizin, Kantonsspital Winterthur; b Ernährungstherapie/-beratung, Departement Medizin, Kantonsspital Winterthur

Publiziert am 14.06.2017

Das Refeeding-Syndrom ist eine häufig vorkommende, weit unterschätzte und potentiell tödliche Kombination von metabolischen Störungen und klinischen Zeichen, die bei bestimmten Risikopatienten nach Wiederaufnahme der Ernährung auftritt. Typisch sind schwerwiegende Elektrolytstörungen, Vitaminmangelzustände sowie Natrium- und Flüssigkeitsretention. Die engmaschige Überwachung der klinischen Symptome und Laborwerte ist von höchster Wichtigkeit zur Erkennung und Vorbeugung eines Refeeding-Syndroms.

Fallvorstellung

Eine 73-jährige Frau mit einem lokal begrenzten, jedoch fortgeschrittenen Magenkarzinom erhielt vor 
Beginn der Chemotherapie aufgrund einer Mangel­ernährung eine stufenweise über zwei Wochen auf die Endmenge von 1250 ml (1875 kcal, 75 g Protein) aufgebaute Sondenernährung mittels Feinnadel-Katheter-Jejunostomie (FKJ). Die Nährlösung wurde dabei nächtlich über 14 Stunden appliziert. Gleichzeitig erfolgte eine geringe perorale Nahrungsaufnahme mit zirka 500 kcal und 15 g Protein. Gesamthaft konnte der ­tägliche Energie- und Proteinbedarf abgedeckt werden (29 kcal/kg Körpergewicht [KG]). Nach Applikation des zweiten Zyklus einer neoadjuvanten Chemotherapie präsentierte sich die Patientin auf der Notfallstation wegen heftigen Durchfalls, Übelkeit und deutlicher Verschlechterung des Allgemeinzustandes, zudem war ihr Ernährungszustand, ermittelt durch Anwendung des «Nutrition Risk Screening» (NRS) [1], bei einem NRS von 5 Punkten erheblich gemindert. Klinisch war die Patientin exsikkiert. Bei einer Körpergrösse von 178 cm wog sie 81 kg entsprechend einem Body-Mass-Index (BMI) von 25,6 kg/m2 mit einem objektivierbaren Gewichtsverlust von 4,5 kg in einem Monat.
Die Blutuntersuchung ergab neben einer tumorbedingten CRP-Erhöhung ein erniedrigtes Serumkalium, verursacht durch die Diarrhoe, das Phospat und Ma­gnesium im Serum lagen im Referenzbereich. Nach Aufnahme in die Klinik für Innere Medizin wurden Kalium und Flüssigkeit parenteral verabreicht und im Weiteren antidiarrhoische und antiemetische Medikamente gegeben. Aufgrund anhaltender Beschwerden und der zunehmenden katabolen Stoffwechsel­situation wurde mit Hilfe der Kolleginnen der Ernährungstherapie/-beratung die enterale Ernährung sistiert und eine parenterale Verabreichungsform mit Structokabiven®zentralvenös bei einer Kalorienzufuhr von 10 kcal/kg KG begonnen, welche zusammen mit Addaven® und Cernevit® als übliche Vitamin- und Mineralstoffsupplementation der parenteralen Nähr­lösung zugespritzt wurde. Die FKJ-Sonde wurde im Verlauf regelmässig gespült. Eine perorale Nahrungszufuhr war aufgrund der persistierenden Nausea nicht möglich.
Nach Beginn der parenteralen Alimentation traten bei der mangelernährten Patientin nichtsdestotrotz eine schwere Hypophosphatämie, Hypomagnesiämie und protrahierte Hypokaliämie (Abb. 1) begleitet von einer arteriellen Hypotonie als klinische Komplikation auf, womit sich ein Refeeding-Syndrom (RS) manifestierte. Die Zeitspanne der Gabe der Nährlösung Structokabiven®in einer Menge von 986 ml wurde von 36 Stunden auf 48 Stunden erhöht, wodurch die parenterale Energiezufuhr auf rund 7 kcal/kg KG gesenkt wurde. Die intravenöse Flüssigkeitszufuhr wurde von 2000 ml auf 500 ml Ringerfundin® pro 24 Stunden reduziert. Ergänzend erfolgte die intravenöse Zufuhr von 40 mmol Kaliumphosphat und 15 mmol Magnesiumsulfat über einen peripheren Venenkatheter mit doppelter Tagesdosis der Vitaminsupplementation mit Cernevit®sowie einer Tagesdosis Spurenelemente mit Addaven®. Zusätzlich wurde Benerva® (300 mg) intravenös appliziert. Diese Massnahmen führten im Verlauf zu einer allmählichen Normalisierung der Serumelektrolyte und des Blutdruckes sowie einer Verbesserung des Allgemeinzustandes der Patientin. Zwischenzeitlich wurde die parenterale Ernährung gestoppt, die enterale Nahrung konnte nach Sistieren der Diarrhoe wieder aufgenommen werden, parallel dazu konnte die Patientin wieder essen.
Abbildung 1: Der zeitliche Verlauf der Serumkonzentrationen von Phosphat, Kalium 
und Magnesium unserer Patientin.

Geschichte des Refeeding-Syndroms

Das RS wurde erstmals im ersten Jahrhundert nach Christus vom römisch-jüdischen Historiker Flavius Josephus dokumentiert. Dieser beschrieb den Hungertod jüdischer Häftlinge in römischer Gefangenschaft. Einige Gefangene konnten fliehen, überassen sich und starben im Verlauf. Der Historiker stellte fest, dass vor allem jene verstarben, die sich den Bauch vollschlugen. Jene, die ihren Appetit zügeln konnten, entkamen dem Tod [2]. In der medizinischen Literatur erschienen erste Berichte über ein RS im Jahr 1945 nach der Befreiung der Konzentrationslager in Europa [3] und bei japanischen Kriegsgefangenen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges [4]. Bei diesen Patientenpopulationen traten nach Wiederbeginn der Nahrungszufuhr kardiale und neurologische Funktionsstörungen auf.

Epidemiologie

Eine allgemein anerkannte und einheitliche Definition des RS existiert nicht [5, 6]. Aufgrund dieser Tatsache und der mangelnden Kenntnis über dieses Krankheitsbild bleiben viele Fälle eines RS unentdeckt. Dies führt dazu, dass die Inzidenz des RS nicht genau bekannt ist. Die vorhandene Evidenz beruht auf Fallberichten, Fallserien und Kohortenstudien. Nennenswerte randomisierte, kontrollierte Studien liegen bis heute nicht vor [5].
Die Prävalenz des RS wird bei onkologischen Patienten mit künstlicher Ernährung auf 25% geschätzt [7]. Bei ge­riatrischen Patienten mit einem Lebensalter von 65 Jahren und älter wurde eine Prävalenz von 14% [8], bei Pa­tienten mit Anorexia nervosa von 28% [10] und bei mangelernährten Patienten sogar von 48% beobachtet. Letztere Patientengruppe wies eine längere Hospitalisationsdauer und eine höhere Mortalitätsrate auf [9].

Pathophysiologische Grundlagen

In der Periode der reduzierten Nährstoffzufuhr kommt es zu einem Abfall der Gesamtkonzentration vieler essentieller Elektrolyte. Durch den hohen Gehalt der in­trazellulären Ionen Phosphat, Kalium und Magnesium können leichte bis mässige extrazelluläre Verluste ausgeglichen werden, womit die Elektrolytspeicher depletiert werden. Überdies ist der Kohlenhydratstoffwechsel im Hungerzustand auf ein Minimum reduziert, wodurch der Verbrauch an intrazellulären Ionen ebenfalls abnimmt. Deswegen können die Serumkonzen­trationen im katabolen Zustand im Referenzbereich liegen, ein intrazellulärer Elektrolytmangel kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Im Rahmen des Hungerstoffwechsels werden Katecholamine und Glukagon vermehrt sezerniert, wodurch die Glukoneogenese, Lipolyse und Proteolyse gefördert werden. Durch die katabolen Stoffwechselvorgänge werden Substrate wie freie Fettsäuren, Glycerol, Ketonkörper und Aminosäuren gebildet, welche neben Glukose als Energielieferanten dienen. Zur gleichen Zeit wird bei vor­liegender supprimierter Insulinausschüttung die Glukoseoxidation minimiert und mittels hepatischer Glukoneogenese auf glukoseabhängige Gewebe wie das Zentralnervensystem konzentriert [11, 12]. Es kommt zu Körpergewichtsverlust, Mineralstoff- und Vitaminmangel.
Nach einer Hungerphase bewirkt eine rasche und/oder hohe Nährstoff- respektive insbesondere Kohlenhy­dratzufuhr im Rahmen der Realimentation eine massive Insulinsekretion. Insulin führt auf der einen Seite zu einem Transport von Glukose in die Zelle, auf der anderen Seite zu einer Verschiebung von Kalium in den Intrazellularraum. Gleichzeitig werden Phosphat und Magnesium sowie Wasser in die Zellen aufgenommen. Es entsteht eine rasche Konzentrationsverminderung dieser Elektrolyte im Serum. Zudem induziert Insulin anabole Stoffwechselprozesse wie Glykogensynthese, Proteinsynthese und Lipogenese, welche ebenfalls Mineralstoffe wie Phosphat und Magnesium sowie Vitamine wie Thiamin als Kofaktoren benötigen. Die Folge ist eine Aggravierung des RS durch weitere Konzentrationsverringerung der bereits depletierten Serumelektrolyte und Vitamine.
In Zusammenhang mit den metabolischen Vorgängen spielt Phosphat eine wichtige Rolle. Phosphat ist unter anderem an der Glykolyse beteiligt und wichtig für die Bildung von Energie in Form von Adenosintriphosphat (ATP). Ebenso bedeutsam ist Magnesium, welches unter anderem als Bestandteil und Kofaktor bei vielen Enzymsystemen und bei der ATP-Bildung agiert; so zum Beispiel unterstützt Magnesium beim Vitamin B1 (auch bekannt als Thiamin) die Umwandlung von Thiamin in die aktive Form Thiaminpyrophosphat [13]. Darüber hinaus ist Magnesium ein massgeblicher Kofaktor der Natrium-Kalium-Pumpe zur Kaliumabsorption und dient zur Aufrechterhaltung der intrazellulären Kaliumkonzentration. Vitamin B1 besitzt im Glukosestoffwechsel im Rahmen des Abbaus sowie der Umwandlung von Kohlenhydraten in Energie eine bedeutende Funktion als Koenzym. Ferner trägt Thiamin zur Entstehung von Acetyl-Coenzym A bei, einem wichtigen Molekül in vielen biochemischen Reaktionen.
Die bereits in der Hungerperiode depletierten Elektrolyte werden durch anabole Stoffwechselvorgänge vermehrt verbraucht. Die Konsequenzen sind die absolute Konzentrationsabnahme von Kalium, Phosphat und Magnesium im Intra- und Extrazellularraum und ein akutes Thiamindefizit. Ein Ausgleich des Elektrolyt- und Vitaminmangels ist aufgrund der ausgeschöpften Reserven der Körperzellen nicht mehr möglich. Es kommt schliesslich zu einer Störung des Kohlenhy­dratmetabolismus und zu einer Verminderung der Energiegewinnung trotz Nährstoffzufuhr.
Aufgrund eines hohen Kohlenhydratanteiles der zugeführten Nahrung kann es einerseits durch die beträchtliche Insulinausschüttung zu einer postprandialen Hypoglykämie kommen [14], andererseits führt der Überschuss an Kohlenhydraten zu einer Hyperglykämie.
Im Zuge der Wiederaufnahme der Ernährung wird auch eine Störung des Flüssigkeitshaushaltes herbeigeführt. Insulin bewirkt über die Reduktion der renalen Natriumsekretion eine Natriumretention in den Nieren mit nachfolgendem Anstieg der Natriumkonzen­tration im Serum, wodurch Wasser im Körper zurückgehalten wird und das Extrazelullarvolumen zunimmt. Die Plasmaosmolalität wird durch die Kohlenhydratzufuhr gesteigert mit der Auswirkung, dass das antidiuretische Hormon vermehrt ausgeschüttet, somit Wasser retiniert und das Durstgefühl verstärkt wird. Falls Flüssigkeit im Übermass aufgenommen wird, können hypervolämische Komplikationen entstehen.
Das RS tritt mit seinen laborchemischen und klinischen Zeichen in Erscheinung (Abb. 2).
Abbildung 2: Die Pathophysiologie des RS (reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd.: European Journal of Clinical Nutrition. Stanga Z, Brunner A, Leuenberger M, Grimble RF, Shenkin A, et al. Nutrition in clinical practice – the refeeding syndrome: illustrative cases and guidelines for prevention and treatment. Eur J Clin Nutr. 2008;62(6):687–94. Copyright 2008. http://www.nature.com/ejcn/index.html ).

Klinische Manifestation

Das Leitsymptom des RS ist die Hypophosphatämie [5], welche meist mit Hypokaliämie und Hypomagnesi­ämie einhergeht. Unter den Hypovitaminosen nimmt der Thiaminmangel eine Schlüsselrolle ein.
Die klinische Manifestation des RS entsteht als Folge der Elektrolyt- und Hormon-, insbesondere Insulinveränderungen im Zuge des Kostaufbaus nach einer Phase mit stark reduzierter oder fehlender Nahrungszufuhr. Klinisch steht die Flüssigkeitsretention gekennzeichnet durch Tachykardie, Tachypnoe und kardiale sowie periphere Ödeme im Vordergrund.
Milde Entgleisungen von Phosphat, Kalium und Ma­gnesium sind oft asymptomatisch. Bei schweren Verlaufsformen kann es zu unterschiedlichen Funktionsstörungen bis hin zum Tod kommen (Tab. 1). Bei einer ausgeprägten Hypophosphatämie können sich zum Beispiel eine Schwäche der Atem- und Zwerchfellmuskulatur bis hin zur Ateminsuffizienz, eine Verminderung der Inotropie bis hin zur Herzinsuffizienz oder eine Rhabdomyolyse entwickeln. Bei einer schweren Hypokaliämie können Arrhythmien, Atemdepression oder ein paralytischer Ileus auftreten. Auch eine milde Hypokaliämie kann Beschwerden in Form von Palpitationen, Schwäche oder Obstipationsneigung hervorrufen. Der schwere Mangel an Magnesium kann kardiale und neuromuskuläre Symptome, Herzrhythmusstörungen oder Parästhesien und Krämpfe auslösen sowie einen Thiamindefizit oder eine therapierefraktäre Hypokaliämie begünstigen.
Tabelle 1: Klinische Symptome des Refeeding-Syndroms (modifiziert nach [21], 
Daten von [22]).
KardialVerminderung der linksventrikulären Funktion
Herzinsuffizienz
Arrhythmien
Kardiogener Schock
Plötzlicher Herztod
Arterielle Hypotonie
RespiratorischLungenödem
Ateminsuffizienz
Protrahiertes Weaning
Hyperkapnie
NeurologischKrämpfe
Parästhesien
Schwäche
Wesensveränderung
Wernicke Enzephalopathie
Pellagra-Enzephalopathie
Koma
MuskuloskelettalVerminderung der Kontraktilität
Schwäche
Myalgie
Rhabdomyolyse
Kardiomyopathie
SonstigeObstipationsneigung
Paralytischer Ileus
Störung des Säure-/Basenhaushaltes
Hämatologische Störungen
Der Thiaminmangel kann sich als «trockene» Beriberi in Form von neurologischen Störungen mit Muskelschwäche, Polyneuropathie oder Wernicke-Enzephalopathie manifestieren. Die Thiamin-Hypovitaminose kann auch als «feuchte» Beriberi auftreten, welche Herz sowie Kreislauf betrifft und zu Laktatazidose, peripherer sowie kardialer Ödembildung oder Herzinsuffizienz bis hin zum Myokardversagen führen kann. Generell muss ein Thiaminmangel immer mit dem gesamten Vitamin-B-Komplex substituiert werden, da sonst ein relativer Mangel an Niacin, vor allem bei Pa­tienten mit chronischem Alkoholkonsum, entstehen kann, der als Pellagra-Enzephalopathie tödliche Folgen haben kann [16]. Gleichzeitig kann die Hyperglykämie eine osmotische Diurese, Dehydration, arterielle Hypotonie, Hyperkapnie, respiratorische Insuffizienz, metabolische Azidose und Ketoazidose bis hin zum hyperglykämischen Koma auslösen [5]. Bei der durch die postprandiale Insulinsekretion im Zuge von kohlenhydratreicher Realimentation verursachte reaktive Unterzuckerung können sich autonome und neuroglykopenische Symptome bilden.
Bei kardial vorbelasteten Patienten wird durch die zusätzliche Flüssigkeitsaufnahme sehr leicht eine Hypervolämie verursacht, die zu lebensbedrohlichen Komplikationen wie Herzinsuffizienz, Lungenödem oder Arrhythmien führen kann.

Prävention und Therapie

Risikofaktoren und präventive Massnahmen

Das RS ist vermeidbar durch sorgfältige Prävention. Die ausschlaggebende vorbeugende Massnahme ist die vorgängige Identifikation von Risikopatienten anhand von Kriterien der «National Institute of Health and Clinical Excellence»(NICE)-Richtlinien (Tab. 2).
Tabelle 2: Kriterien zur Identifikation von Risikopatienten für die Entwicklung eines Refeeding-Syndroms (nach [18]).
Eines oder mehrere folgender Kriterien:
BMI <16 kg/m2
Unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 15% ­innerhalb der letzten 3–6 Monate
Stark reduzierte oder keine Nahrungszufuhr innerhalb der letzten 10 Tage
Niedrige Serumkonzentration an Kalium, Phosphat und/oder Magnesium vor Beginn der Nahrungszufuhr
Zwei oder mehrere folgender Kriterien:
BMI <18,5 kg/m2
Unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 10% ­innerhalb der letzten 3–6 Monate
Stark reduzierte oder keine Nahrungszufuhr innerhalb der letzten 5 Tage
Positive Anamnese für Alkoholabusus oder für den Gebrauch folgender Medikamente: Insulin, Chemotherapeutika, ­Antazida oder Diuretika
BMI = Body-Mass-Index
Zur Risikopopulation zählen vor allem Patienten mit chronischer Malnutrition, chronischer Alkoholabhängigkeit oder Anorexia nervosa, onkologische Patienten unter Chemotherapie und geriatrische Patienten. Im Besonderen zu beachten ist die verminderte intestinale Digestion und Absorption von Nährstoffen bedingt durch Erbrechen und Durchfall im Rahmen der Zytostatika-induzierten Schädigung der Mukosa bei onkologischen Patienten sowie eine Malabsorption im Falle ­einer Inflammation des Gastrointestinaltraktes bei Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Zudem kann der Abusus von Laxativa, Diuretika oder Antazida das Elektrolytdefizit verstärken [5, 15].
Der stärkste Risikofaktor für das Aufkommen eines RS ist die vorbestehende Malnutrition [17]. Eine Malnutrition wird einerseits durch eine reduzierte Zufuhr (wie bei längerem Fasten oder prolongierter kalorienarmer Diät) oder verminderte Absorption der Nahrung (wie bei Malabsorptionssyndromen) und andererseits durch einen gesteigerten Katabolismus beziehungsweise erhöhten Energiebedarf (wie bei Tumorpatienten) verursacht. Ein erhöhtes Risiko haben jene Patienten, die länger als fünf Tage eine stark reduzierte Nahrungszufuhr aufweisen [5]. Ein weiterer Risikofaktor für das Entstehen eines RS ist die Art der Alimentation. Insbesondere bei parenteraler sowie enteraler künstlicher Ernährung ist das Risiko gross, ein RS zu entwickeln. Der Grund dafür ist, dass durch die künstliche Ernährung rasch eine exzessiv hohe Nährstoffzufuhr ermöglicht wird [18]. Zudem bergen die heutige sehr energie- und kohlenhydratreiche Trinknahrung und auch die unverhältnismässige Kohlenhydratzufuhr über Süssgetränke und Fruchtsäfte per os ein hohes Risiko für ein RS.
Anhand der Leitlinien von NICE sind die multidisziplinäre Betreuung der mangelernährten Patienten durch Ärzte, Ernährungstherapeutinnen/-beraterinnen und Pflegefachkräfte, die interdisziplinäre Erhebung der Ernährungsanamnese und des Ernährungsstatus mit dem NRS [1] sowie die Ermittlung der laborchemischen Ausgangswerte von Serumphosphat, -kalium und -ma­gnesium weitere Eckpfeiler zur Vermeidung eines RS.
Risikopatienten sollten klinisch hinsichtlich Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Körpergewicht sowie Hydratationszustand engmaschig kontrolliert werden. Anhand des regelmässig gemessenen Körpergewichts und der Erfassung körperlicher Befunde, insbesondere peripherer und kardialer Ödeme, kann eine potentielle Flüssigkeitsüberlastung erfasst werden. Gleichermas­sen wichtig sind die engmaschigen laboranalytischen Verlaufskontrollen von Phosphat, Kalium, Magnesium und Natrium. Diese sollen regelmässig und zu Beginn einer Ernährungstherapie täglich durchgeführt werden. Überdies sollte die Serumglukose konsequent überwacht werden. Entsprechend sollte eine Hyperglykämie therapiert werden, da es zu Beginn der Wiederernährung zu einer hyperglykämischen Entgleisung kommen kann.
Stark unterernährte Patienten mit einem BMI <14 kg/m2 oder mit deutlich reduzierter oder fehlender Alimentation von mehr als zwei Wochen benötigen wegen der Gefahr von Herzrhythmusstörungen eine telemetrische Überwachung [15, 18]. In der Praxis wird jedoch kaum davon Gebrauch gemacht.

Therapeutische Massnahmen (Tab. 3)

Tabelle 3: Massnahmen beim Refeeding-Syndrom (modifiziert nach [15], 
Daten von [15, 18]).
Massnahmen
ElektrolyteKalium 2–4 mmol/kg KG pro Tag
Phosphat 0,3–0,6 mmol/kg KG pro Tag
Magnesium 0,2–0,4 mmol/kg KG pro Tag
Gabe peroral, enteral oder parenteral
MikronährstoffeThiamin 200–300 mg peroral oder parenteral 30 Minuten 
vor dem Wiederbeginn der Ernährung, danach täglich
Vitamine und Spurenelemente peroral oder parenteral 
für insgesamt 10 Tage
EnergieMaximal 50% des Gesamtkalorienbedarfes bei inadäquater Nahrungszufuhr innerhalb von 5 Tagen
10 kcal/kg KG bei Risikopatienten nach Identifikation mittels Tabelle 2
5 kcal/kg KG bei BMI <14 kg/m2 beziehungsweise inadäquater Nahrungszufuhr über 2 Wochen
Steigerung der Kalorienmenge im Verlauf bei stabilen Laborwerten und fehlenden klinischen Hinweisen für ein RS
Flüssigkeit20–30 ml Flüssigkeit/kg pro Tag
Natrium<1 mmol/kg pro Tag
SonstigesEngmaschige Verlaufskontrollen der Serumelektrolyte ­Phosphat, Kalium, Magnesium und Natrium sowie Serum­glukose und der Vitalwerte Herzfrequenz, Blutdruck, Atem­frequenz, Körpergewicht sowie des Hydratationszustandes
RS = Refeeding-Syndrom, KG = Körpergewicht, BMI = Body-Mass-Index
Bei vorliegender Dyselektrolytämie ist die tägliche Substitution der Elektrolyte Kalium (benötigte Zufuhr 2–4 mmol/kg KG), Phosphat (benötigte Zufuhr 0,3–0,6 mmol/kg KG) und Magnesium (benötigte Zufuhr 0,2–0,4 mmol/kg KG) peroral, enteral oder parenteral indiziert [18]. Die Magnesiumgabe bewirkt eine Verbesserung einer therapierefraktären Hypokaliämie [19]. Daneben sollten Thiamin peroral oder parenteral (zum Beispiel Benerva®) in einer Dosis von 200–300 mg einmal täglich 30 Minuten vor dem Wiederbeginn der Ernährung in Kombination mit einem Vitamin-B-Komplex dreimal täglich per os (zum Beispiel Becozym®) und einem Multivitaminpräparat sowie Spurenelemente peroral (zum Beispiel Supradyn®) für insgesamt zehn Tage per os verabreicht werden [18]. Im Falle einer parenteralen Korrektur des Defizits an Vitaminen und Oligoelementen erfolgt die intravenöse Supplementation mit Kombinationspräparaten (zum Beispiel Addaven®, Cernevit®), wobei beim erhöhten Bedarf der Vitamine des B-Komplexes (insbesondere Niacin) die Standarddosierung des Multivitaminpräparates verdoppelt sowie eine zusätzliche intravenöse Gabe von Benerva® (300 mg) verabreicht werden sollte. Falls sich die Elektrolytwerte normalisieren und der Nahrungsaufbau abgeschlossen ist, wird die Substitutionstherapie sistiert. Bei nachgewiesenen Mangelzuständen ist eine längerfristige Supplementation nötig.
Eine wichtige vorbeugende Massnahme zur Vermeidung eines RS ist die initial niedrige Kalorien- respektive Kohlenhydratzufuhr. Nach der Empfehlung der NICE-Richtlinien sollten bei Patienten mit fehlender Ernährung in einem Zeitraum von mindestens fünf Tagen maximal 50% des Gesamtkalorienbedarfs verabreicht werden. Die Realimentation beträgt bei Risikopatienten 10 kcal/kg KG. Bei ausgeprägter Mangel­ernährung mit einem BMI <14 kg/m2 beziehungsweise einer inadäquaten Nahrungszufuhr über zwei Wochen liegt die anfänglich empfohlene Kalorienmenge bei 5 kcal/kg KG. Die zugeführte Kalorienmenge kann im weiteren Verlauf langsam gesteigert werden, wenn sich keine laborchemischen oder klinischen Manifestationen eines RS ausbilden [18].
Die Flüssigkeitsgabe sollte unter Einbezug der normalen Nahrung, zugeführten Getränke sowie Ergänzungs- und Sondennährlösung so angepasst werden, dass die Nierenfunktion aufrechterhalten und eine Körpergewichtszunahme vermieden wird. Normalerweise ist 20–30 ml Flüssigkeit/kg/Tag ausreichend. Die Natriumzufuhr sollte auf <1 mmol/kg/Tag reduziert werden. Falls sich periphere Ödeme bilden, ist eine weitere Natriumrestriktion notwendig [15].
Abhängig von den laborchemischen und klinischen Befunden erfolgt die Steigerung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr individuell innerhalb von vier bis zehn Tagen [15, 18].
Das höchste Risiko für die Entstehung eines RS nach Wiederbeginn der Alimentation besteht in den ersten zwei bis fünf Tagen [6].

Fazit und Ausblick

Im Falle unserer Patientin verstärkte die Gabe von Zytostatika eine vorbestehende Dysbalance der Elektrolyte. Die Zytostatika-induzierte Schädigung der Mukosa mit Diarrhoe als Folgeerscheinung führte wahrscheinlich zu einer dramatischen Abnahme der intestinalen Digestion und Absorption, wodurch die per os respektive enteral zugeführten Nährstoffe nicht beziehungsweise nur eingeschränkt absorbiert werden. Die Nahrungszufuhr war auch aufgrund von weiteren Zytostatikanebenwirkungen wie Nausea, Inappetenz, Dysgeusie und Müdigkeit oft deutlich reduziert. Vor erneuter Chemotherapie und forcierter, supportiver oraler, enteraler oder parenteraler Nahrungszufuhr ist daher bei bereits gestörter Elektrolyt-Homöo­stase die Gefahr gross, dass schwerwiegende Elektrolytentgleisungen als Vorboten des RS auftreten.
Das Fallbeispiel demonstriert die Komplexität des RS mit seiner Vielzahl an Fallstricken. Durch diese enorme Vielschichtigkeit und vor allem die fehlende einheitliche Begriffsbestimmung des RS wird die Dia­gnosestellung des RS im klinischen Alltag deutlich erschwert. Bis ein Konsens über die Definition und in weiterer Folge genügend Evidenz von besserer Qualität erlangt werden, ist letztlich die beste und wirksamste Therapie die sorgfältige Prävention des RS wie Tresley et al. bereits postulierten [20].

Das Wichtigste für die Praxis

• Das Refeeding-Syndrom (RS) ist eine Kombination von metabolischen Störungen und klinischen Zeichen, das bei mangelernährten Risikopa­tienten nach Wiederaufnahme der Ernährung auftritt.
• Das RS ist charakterisiert durch eine Hypophosphatämie, Hypokaliämie und Hypomagnesiämie sowie Hypervolämie.
• Während der katabolen Stoffwechsellage spiegelt die vorliegende Elektrolytkonzentration im Serum nicht zwingend den Grad des Elektrolyt­defizits wieder, wodurch das RS oft nicht oder sehr spät wahrgenommen wird.
• Besonders gefährlich für die Manifestation eines RS sind die ersten zwei bis fünf Tage nach Beginn der Ernährung.
• Das RS ist vermeidbar durch Erkennen der Risikopatienten und sorgfältige Prävention.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Peter E. Ballmer
Departement Medizin
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse 15
CH-8401 Winterthur
peter.ballmer[at]ksw.ch
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