Ist es eher ein Jucken oder ein Kratzen?
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Ist es eher ein Jucken oder ein Kratzen?

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2017/25
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02980
Schweiz Med Forum 2017;17(25):556-559

Affiliations
Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne
a Service de médecine interne; b Service de dermatologie

Publiziert am 21.06.2017

Fallbeschreibung

Ein Sechzigjähriger kommt aufgrund von seit drei Wochen progredientem generalisiertem heftigem Juckreiz, der hauptsächlich nachts auftritt und ihn am Schlafen hindert, in die dermatologische Notaufnahme. Er ist bekannt für einen aktiven Tabakkonsum von 60 «pack years» und eine ischämische Herzkrankheit, aufgrund derer ihm vor neun Jahren ein aktiver Stent in die Arteria interventricularis implantiert wurde.
Bei der Anamnese sind weder eine kürzlich unternommene Reise noch Tierkontakt, Allergien oder eine atopische Kon­stitution festzustellen.
Die körperliche Untersuchung ergibt ein makulo­papulöses ekzematiformes exkoriiertes Erythem, vornehmlich am Unterbauch, an den Gliedmassen, an Rücken und Kinn, ohne Furchen- oder Deltaflügel-Zeichen bei der Dermatoskopie (Kopf einer Krätzemilbe am Ende eines Bohrgangs). Die Ellenbogen- und Kniebeugen sind erythemfrei. Die Standardmedikation des Patienten umfasst Acetylsalicylsäure, Metoprolol, Perin­do­pril und Atorvastatin.
Die Laboruntersuchung ergibt eine Leukozytose von 17,4 G/l (Normwert: 4,0–10,0 G/l) mit einer Eosinophilie von 7,66 G/l (Normwert: 0,05–0,3 G/l), einem Hämoglobinwert von 147 g/l (Normwert: 133–177 g/l), einem Thrombozytenwert von 265 G/l (Normwert: 130–350 G/l) und ­einer Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) von 22 mm/h (Normwert: <10 mm/h). Die Nieren- und Leberfunktionswerte, das glykierte Hämoglobin und der TSH-Wert liegen im Normbereich.

Frage 1: Welche Ursache erscheint aktuell 
am unwahrscheinlichsten?

a) Eine medikamentöse Ursache
b) Eine Xerose der Haut
c) Eine Parasitose, z.B. Skabies
d) Eine atopische Dermatitis
e) Eine systemische Erkrankung
Der Patient weist einen generalisierten, subakuten Juckreiz mit sekundären Läsionen aufgrund des Kratzens auf. Die Laboruntersuchungen zeigen eine sehr starke Eosinophilie. Daher ist, trotz negativer Vorgeschichte, eine atopische Ätiologie nicht auszuschlies­sen. Auch eine Parasitose, unter anderem mit Skabies, kann mit einer Eosinophilie assoziiert sein und daher trotz des fehlenden charakteristischen Furchenzeichens aktuell nicht ausgeschlossen werden. Zahlreiche Medikamente können ebenfalls Juckreiz verursachen. Und schlussendlich sind auch eine systemische Erkrankung, eine Neoplasie solider Organe oder eine Blut­erkrankung nicht auszuschliessen.
Eine Xerose der Haut ist die häufigste Juckreizursache bei älteren Patienten, jedoch im aktuellen Fall die unwahrscheinlichste. Denn bei ersterer ist die Haut trocken und rissig und die Laborwerte sind unauffällig. Zudem tritt oftmals durch häufiges Baden und heisses Wasser sowie die Exposition gegenüber hohen Temperaturen bei niedriger Luftfeuchtigkeit eine Verschlimmerung ein. Die Behandlung besteht in der Vermeidung der verschlimmernden Faktoren und einer guten Feuchtigkeitspflege der Haut [1].
Der Patient wird gegen atopische Dermatitis topisch mit Betamethason und Polidocanol (enthalten in Coldcream 5%) und oral mit Desloratadin und Hydroxyzin behandelt. Des Weiteren erhält er eine «ex juvantibus»-Behandlung mit Ivermectin, um den Scabies-Verdacht auszuräumen. Zwei Wochen später zeigt er keine Besserung der Symptome, jedoch stabile Läsionen.

Frage 2: Welche Zusatzuntersuchung erscheint Ihnen in diesem Stadium am wenigsten zielführend?

a) Eine Untersuchung auf Parasiten
b) Eine Hautbiopsie
c) Eine immunologische Untersuchung (ANA, ANCA)
d) Eine Computertomographie (CT) Thorax-Abdomen
e) Ein Bluttest auf HIV und Virushepatitiden (HBV, HCV)
Da keine Besserung zu verzeichnen ist, wird die Dia­gnostik durch Untersuchungen auf eine systemische Erkrankung ergänzt. Nichtsdestotrotz ist eine Laboruntersuchung auf Autoimmunerkrankungen nicht als First-Line-Untersuchung indiziert, da weitere Verdachtssymptome fehlen.
Die Eosinophilie rechtfertigt Blutuntersuchungen auf Parasitenbefall wie Toxocariasis, Leberdistomatose, Ascariasis und Trichinose sowie eine Stuhluntersuchung auf Antikörper gegen Giardia lamblia und Ent­amoeba histolytica, des Weiteren drei direkte Untersuchungen. Alle Resultate sind negativ. Die Hautbiopsie ergibt eine unspezifische oberflächliche perivaskuläre Dermatitis mit einer unspezifischen Gefässentzündung beim Immunfluoreszenztest. Die HIV- und HCV-Serologien sind negativ. Das HBV-Screening zeigt ausschliesslich positive Anti-HBc-Antikörper unklarer Interpretation, woraufhin eine Bestimmung der Viruslast angeordnet wird. Letztere ist unbestimmbar. Ein CT Thorax-Abdomen zeigt perihiläre und peribronchiale Verschattungen des mittleren und unteren rechten Lungenlappens mit hilären Adenopathien, die sich bis zum subcarinalen Bereich erstrecken sowie mit Verdickungen der interlobulären Septen mit Mikronoduli einhergehen. Dieser Befund deutet am ehesten auf eine primäre neoplastische Läsion hin, die wahrscheinlich mit einer ­karzinomatösen Lymphangitis assoziiert ist.

Frage 3: Welche Untersuchung ist zur Stellung der ­ätiologischen Diagnose erforderlich?

a) Ein Schädel-CT
b) Ein PET-CT des Rumpfes
c) Eine Bronchoskopie mit transbronchialer Biopsie
d) Eine Echokardiographie
e) Ein Lungenfunktionstest
Angesichts des Verdachts auf eine Neoplasie ist die Durchführung einer Biopsie vorrangig, um eine pathologische Diagnose zu erhalten. Eine Bronchoskopie mit transbronchialer Biopsie ist angezeigt. Gemäss den Richtlinien der «European Society for Medical Oncology» (ESMO) ist ein Schädel-CT bei Lungenkrebs nur dann angezeigt, wenn eine kurative Behandlung ins Auge gefasst wird (lokalisierte Stadien). In pallia­tiven Situationen (metastatische Stadien) wird es ausschliesslich bei neurologischen Symptomen oder Anzeichen empfohlen. Zu einem PET-CT wird bei der Entdeckung von Lungenkrebs im lokalisierten Stadium geraten, um vor dem Beginn einer kurativen Behandlung eine Metastasierung auszuschliessen. Seine Sensitivität beim Aufspüren von Lymphknoten- oder Fernmetastasen ist höher als bei einem konven­tionellen CT und hilft bei der Entscheidung für eine onkologische Therapieform [2]. Auch eine Echokardiographie ist angezeigt, ­jedoch nicht aufgrund der zugrunde liegenden Herz­erkrankung, sondern weil eine Hypereosinophilie zu Organschäden, insbesondere am Herzen (z.B. Myokarditis, dilatative Kardiomyopathie, Endokarditis, Perikarditis constrictiva), führen kann [3]. Überdies haben die Herz- und Lungenfunktion Einfluss auf die Wahl der onkologischen Behandlung oder schränken diese ein: Chemotherapie, Strahlentherapie und/oder chirurgische Resektion.
Die zusätzlichen Untersuchungen (transbronchiale Biopsie, Schädel- und PET-CT) ergeben die Diagnose eines Plattenepithelkarzinoms der Lunge im Stadium IV mit Lymphknotenmetastasen ober- und unterhalb des Zwerchfells. Die Echokardiographie zeigt eine ordnungsgemässe systolische Funktion des linken Ventrikels ohne Bewegungseinschränkung, Hypertrophie oder Perikarderguss.
Parallel dazu wird die symptomatische Behandlung des Juckreizes verstärkt. Der Patient erhält nun Desloratadin, Hydroxyzin, Bethamethason, Doxepin (trizyklisches Antidepressivum), Dexeryl®-Creme (Glycerin, weisse Vaseline, flüssiges Paraffin) sowie eine feuchtigkeitsspendende Emulsion mit Undecylensäure (Pruri-Med®).

Frage 4: Welches ist die wirksamste Behandlung 
bei paraneoplastischem Juckreiz?

a) Eine ursächliche Behandlung
b) Antihistaminika
c) Eine lokale Behandlung
d) Antidepressiva
e) Eine ultraviolette Strahlentherapie (UV-Therapie)
Bei paraneoplastischem Juckreiz ist eine ursächliche Behandlung am wirksamsten. Denn Antihistaminika, topische Behandlungen und Antidepressiva reichen häufig nicht aus, um die Symptome zu lindern. Die einzige Indikation für eine UV-Therapie in der Onkologie sind bestimmte kutane T-Zell-Lymphome (Mycosis fungoides) [4].
Da aufgrund der Ausdehnung der Neoplasie bei dem Patienten keine kurative Behandlung möglich ist, wird eine palliative Chemotherapie mit Carboplatin und Gemcitabin begonnen. Drei Wochen nach der ersten Dosis nimmt der Juckreiz ab und verschwindet schliesslich vollständig, sodass ein schrittweises Ausschleichen aller symptomatischen Behandlungen möglich ist.

Frage 5: Welche der folgenden onkologischen Erkrankungen ist am seltensten mit paraneoplastischem Juckreiz assoziiert?

a) Hodgkin-Lymphom
b) Non-Hodgkin-Lymphom
c) Leukämie
d) Polycythaemia vera
e) Nichtkleinzelliges Lungenkarzinom
Die Prävalenz von paraneoplastischem Juckreiz ist aufgrund des Fehlens einer eindeutigen Definition, der fehlenden Differenzierung zwischen akutem und chronischem Juckreiz in den entsprechenden Studien sowie nur weniger prospektiver Studien schwer zu beurteilen. Hämatologische Neoplasien sind am häufigsten mit paraneoplastischem Juckreiz assoziiert. Ca. 30% der Pa­tienten mit Hodgkin-, 10% der Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphom und 5% der Patienten mit Leukämie leiden an chronischem Juckreiz. Bei Polycythaemia vera leiden 48% der Patienten an Juckreiz, welcher typischerweise bei Wasserkontakt auftritt. In seltenen Fällen geht paraneoplastischer Juckreiz, wie bei unserem Patienten, der Entstehung eines soliden Tumors voraus [5].

Diskussion

Generalisierter Juckreiz, ein sehr häufiger Konsulta­tionsgrund, ist eine subjektive unangenehme Empfindung, die eine motorische Kratzreaktion auslöst. Neben den verschiedenen, oben genannten Ursachen kann er auch bei neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfällen sowie psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Chronischer Juckreiz, definiert als über sechs Wochen andauernd, hat in der Allgemeinbevölkerung eine Prävalenz von 8–16% [5]. Meist tritt er im Zusammenhang mit dermatologischen Erkrankungen wie Xerose der Haut bei älteren Menschen auf, kann jedoch bei 16–36% der Patienten auch ein Anzeichen für eine systemische Erkrankung sein. Paraneoplastischer Juckreiz wird häufig als Juckreiz beschrieben, der vor oder zu Beginn der Erkrankung auftritt, nicht durch eine tumoröse Kompression oder Infiltration bedingt ist und meist mit der Behandlung der zugrunde liegenden onkologischen Erkrankung wieder abklingt [4]. Er ist häufig sehr stark, spricht nicht auf medikamentöse Therapien an und tritt vornehmlich nachts auf (unspezifisches Sym­ptom). Er kann mit sekundären Läsionen aufgrund des Kratzens einhergehen (Exkoriationen, Hyperpigmentierung, Lichenifikation) [6].
Ein beim Kontakt mit Wasser auftretender Juckreiz ist typischerweise mit Polycythaemia vera und seltener mit anderen lymphoproliferativen Erkrankungen assoziiert. Er kann mehrere Jahre vor einer myeloproliferativen Erkrankung oder der Entstehung eines kutanen T-Zell-Lymphoms (CTCL) auftreten. In diesem Fall ist die jähr­liche Anfertigung eines grossen Blutbilds und einer Thorax-Röntgenaufnahme angezeigt, um diese Erkrankungen frühzeitig feststellen zu können [4].
Die Pathophysiologie des paraneoplastischen Juckreizes ist kaum bekannt. Er wird über spezifische, histamin­abhängige und -unabhängige Nervenfasern im Tractus spinothalamicus des Rückenmarks weitergeleitet. Ferner scheinen bei chronischem Juckreiz bestimmte Zytokine, die auch mit lymphoproliferativen Erkrankungen assoziiert sind (IL-6, IL-8 und IL-31), eine Rolle zu spielen und könnten das Ziel zukünftiger Therapieansätze sein [4].
Bei generalisiertem chronischem Juckreiz sind eine vollständige Anamnese und eine sorgfältige klinische Untersuchung unerlässlich. Primäre Hautläsionen sprechen für eine dermatologische Ursache. Sind diese nicht vorhanden, bei Vorliegen sekundärer Läsionen oder bei über 65-jährigen Patienten mit einem pathologischen Befund in der klinischen Untersuchung sollten eine Laboruntersuchung mit grossem Blutbild, LDH, TSH, Kreatinin, Leberwerten, korrigiertem Serumkalziumwert, Ferritin, glykiertem Hämoglobin und Bluttests auf HIV, HBV und HCV durchgeführt sowie eine Thorax-Röntgenaufnahme oder ein CT Thorax-Abdomen angefertigt werden, um nach Lymphomen zu suchen. Entsprechend der Resultate der oben genannten Untersuchungen sind umfassendere Tests durchzuführen (z.B. auf Zinkmangel, Autoimmunkrankheiten und Atopien [1, 4].
Die Behandlung des paraneoplastischen Juckreizes erfolgt durch die Therapie der zugrunde liegenden Erkrankung. Die Symptome gehen mit Wirkungseintritt der onkologischen Behandlung häufig zurück und treten bei einem Neoplasierezidiv erneut auf.
Die nur mässig wirksame, symptomatische Behandlung wurde in wenigen Studien, meist bei lymphoproliferativen Erkrankungen, geprüft. Sie umfasst sedative Antihistaminika (Hydroxyzin), trizyklische Antidepressiva (Doxepin, Amitriptylin) und Tetrazykline (Mirtazapin), selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Sertralin, Paroxetin, Fluvoxamin), Antiepileptika (Gabapentin, Pregabalin), Thalidomid und die ultraviolette Strahlenbehandlung, deren Wirksamkeit ausschliesslich beim kutanen T-Zell-Lymphom erwiesen ist [4, 6].
Weitere symptomatische Behandlungen des Juckreizes sind Opioid­antagonisten (Naloxon, Naltrexon) und ein Neurokinin-Rezeptor-Antagonist (Aprepitant) [6].
Dieses klinische Fallbeispiel zeigt die Wichtigkeit, bei chronischem oder starkem Juckreiz die Diagnostik zu vertiefen, da die Behandlung der Ursache am wirksamsten ist.

Antworten


Frage 1: b. Frage 2: c. Frage 3: c. Frage 4: a. Frage 5: e.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Anita Nowogorska
Médecin assistante
Service de médecine interne BH 17-100
Av du Bugnon 46
CH-1011 Lausanne
anowogorska[at]gmail.com
1 Fazio SB, Yosipovitch G. Pruritus: Etiology and patient evaluation. UpToDate.
2 Eberhardt WEE, De Ruysscher D, Weder W, Le Péchoux C, De Leyn P, Hoffmann H, et al. ESMO Consensus Guidelines: Locally-advanced stage III non-small-cell lung cancer (NSCLC); Ann Oncol. 2015;26(8):1573–88.
3 Chappuis S,Ribi C, Greub G, Spertini F. Eosinophilie sanguine: quel bilan, quel cheminement diagnostique? Rev Med Suisse. 2013;819–25.
4 Yosipovitch G. Chronic Pruritus: a Paraneoplastic Sign.
Dermatol Ther. 2010;23(6):590–6.
5 Weisshaar E, Dalgard F. Epidemiology of Itch: Adding to the Burden of Skin Morbidity; Acta Derm Venereol. 2009;89:339–50.
6 Weisshaar E, Weiss M, Mettang T, Yosipovitch G, Zylicz Z. Paraneoplastic Itch: An Expert Position Statement from the Special Interest Group (SIG) of the International Forum on the Study of Itch (IFSI); Acta Derm Venereol. 2015;95:261–5.