Pharmakovigilance: Von «primum non nocere» zu «qua nocent docent»
Artikelserie: «Aktuelles aus den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren und dem Tox Info Suisse»

Pharmakovigilance: Von «primum non nocere» zu «qua nocent docent»

Aktuell
Ausgabe
2017/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03012
Schweiz Med Forum 2017;17(2829):590-593

Affiliations
Regionales Pharmacovigilance-Zentrum (RPVZ) Zürich, Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, UniversitätsSpital Zürich und Universität Zürich
Die beiden Autoren haben zu gleichen Teilen zum Artikel beigetragen.

Publiziert am 12.07.2017

Die neue Artikelserie, getragen von den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren der Schweiz und dem Tox Info Suisse, hat zum Ziel, anhand interessanter Arzneimittelmeldungen, spannender Fälle oder auch häufiger und spezieller Intoxikationen das pharmakologische Wissen wieder aufzufrischen und die Arzneimittel- und ­damit die Patientensicherheit zu verbessern.

Eine kurze Geschichte der Arzneimittelzulassung

Vor der Zulassung eines Arzneimittels werden verschiedene vorklinische und klinische Phasen der Prüfung durchlaufen. Eine Substanz wird an Probanden beziehungsweise Patienten auf Dosisverträglichkeit, Sicherheit und Wirksamkeit, Dosiswirkung vor Zulassung in klinischen Phase-I- bis -III-Studien getestet. Die Bedingungen sowie die Population sind dabei recht klar definiert. Zu hohes Alter, zu viele Komorbiditäten oder spezielle Risikokonstellationen werden in Zulassungsstudien meist nicht umfassend abgebildet. Jährlich erfolgen in der Schweiz hunderte Neuzulassungen, wobei es sich vorwiegend um Generika, Dosierungs­änderungen oder galenische Änderungen bereits zugelassener Medikamente handelt. Neue Wirkstoffe oder sogar Wirkstoffe mit einem vollkommen neuen therapeutischen Prinzip machen einen wesentlich geringeren Anteil aus. Nach der Marktzulassung wird in Phase-IV-Studien weiterhin die Sicherheit des Arzneimittels untersucht. Dies geschieht ebenfalls in definierten ­Beobachtungsstudien. Gleichzeitig werden jedoch wesentlich mehr Patienten gegenüber einem Medikament exponiert. Hier können sehr viel seltenere unerwünschte Wirkungen im Rahmen von Post-Marketing-Untersuchungen beobachtet werden. Kontinuierlich wird dabei durch die Behörde eine Nutzen-Risiko-­Abwägung der Arzneimittel gemacht.

Was sind unerwünschte Arzneimittel­wirkungen?

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) sind medikamentös verursachte Erkrankungen. Meist stellen sie eine Ausschlussdiagnose dar. Eine Einteilung von UAW kann auf verschiedenen Kriterien wie Häufigkeit, Latenzzeit, Schweregrad, Mechanismus oder Art der unerwünschten Effekte basieren. Häufig werden sie in dosisabhängige, reproduzierbare und somit auch zu ­einem gewissen Grad vorhersehbare UAW («Typ A») und seltene und weitgehend dosisunabhängigen UAW («Typ B») eingeteilt (Tab. 1).
Tabelle 1: Unterscheidung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen nach Typen A und B.
 Typ ATyp B
Abkürzung«A» für «augmentierter Effekt»«B» für «bizzarer Effekt»
DosisabhängigkeitJaNein
ReproduzierbarkeitJaNein 
(jedoch innerhalb des ­Individuums schon)
VorhersehbarkeitJaNein
Ableitung aus Pharma­kodynamikJaNein
KlasseneffektMeist jaNicht unbedingt
HäufigkeitHäufigSelten
In den Zulassungs­studien beobachtbarMeist jaMeist nicht
Im Rahmen des Spontanmeldesystems erkanntOft bereits davor bekanntMeist ja
RisikofaktorenMeist bekanntMeist unbekannt
Beispiele– Insulin und Hypoglykämie
– Anticholinergika und ­Mundtrockenheit
– Blutungen und Anti­koagulantien
– Betablocker und Bradykardie
– Anaphylaxie
– Autoimmunreaktionen
– Lunge: Alveolitis, ­Pneumonitis
– Haut: Lyell-Syndrom, Stevens-Johnson-Syndrom
– Blut: Hämolyse, ­Agranulozytose
– Leber: Hepatitis
– Niere: Nephritis
Noch weitere Kategorien wurden vorgeschlagen, die beispielsweise die Analgetika-Nephropathie (Typ C für «chronische» Effekte), Tumorentstehung nach jahrelanger Einnahme (Typ D für «delayed»-Effekte), ­Rebound-Effekte nach Absetzen (Typ E für «end of treatment»-Effekte) oder Therapieversagen (Typ F für «failure of therapy») beschreiben. Weitere nach Mechanismus oder betroffenem Organsystem eingeteilte Klassifikationen wären beispielsweise hämatologische Reaktionen mit Agranulozytose, hämolytische An­ämie, Eosinophilie; kutane Reaktionen mit Stevens-Johnson-Syndrom, Lyell-Syndrom; Wirkungen an der Niere mit interstitieller Nephritis, spezifische Reak­tionen der Leber («drug-induced liver injury») oder Wirkungen am Herzen mit QTc-Zeitverlängerung und Arrhythmien.

Was sind Risikofaktoren für UAW?

Risikofaktoren spielen oft eine zentrale Rolle für das Auftreten von UAW. Sie stehen in enger Verbindung mit dem jeweiligen Mechanismus. Gerade Typ-A-UAW sind aufgrund ihrer Dosisabhängigkeit, neben einer hohen verabreichten Dosis und einer langen Therapiedauer, durch pharmakokinetische Einflussfaktoren, welche die Konzentration verändern, erklärbar (Tab. 2).
Tabelle 2: Beispiele für Risikofaktoren unerwünschter Arzneimittelwirkungen.
RisikofaktorenBeispiele
Akkumulation durch Eliminations­störungNiereninsuffizienz
Leberinsuffizienz
Veränderte Metabolisierung  
Cytochrom-P450(CYP)-InhibitorenCYP1A2: Ciprofloxacin
CYP2C9: Fluconazol
CYP2D6: Fluoxetin, Paroxetin
CYP3A4: Clarithromycin, Itraconazol, Grapefruitsaft
CYP-Induktoren 
(können zu vermehrter Bildung aktiver Metabolite z.B. von Prodrugs führen)Rifampicin, Carbamazepin, Phenytoin
Johanniskraut (Hyperforin)
Tabak, Broccoli
PharmakogenetikHLA-B*5701 und Abacavir: Hypersensitivität
HLA-A*3101 und Carbamazepin: Haut-/Hypersensitivität
CYP2C9 und Vitamin-K-Antagonisten 
(Phenprocoumon, Acenocoumarol und Warfarin)
CYP2D6 und Codein: «Überdosierung» durch Morphin als aktiven Metaboliten
SLCO1B1 und Statine: Rhabdomyolyse durch verminderte Aufnahme in die Leber
Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel und verschiedene Arzneistoffe: 
Hämolyse (Favismus)
anti-JCV-Antikörper und Natalizumab: progressiv mulitfokale Leukoenzephalopathie (PML)
Sowohl notwendige Dosisanpassungen an eine eingeschränkte Nierenfunktion als auch pharmakokine­tische Interaktionen werden in der klinischen Praxis oftmals nicht ausreichend berücksichtigt.
In der Pharmakogenomik und Pharmakogenetik werden die Einflüsse des Genoms und der Gene auf die ­individuelle Arzneimittelwirkung untersucht (Tab. 2). Die individuelle genetische Ausstattung kann insbesondere bei immunologisch vermittelten Typ-B-UAW relevant sein. Varianten des «major histocompati­bility complex» (MHC) können mit einem erhöhten Risiko für UAW assoziiert sein. Empfehlungen zum genetischen Screening vor Therapiebeginn bestehen für HLA-B*5701- und HLA-A*3101-Varianten mit Hyper­sensitivität auf Abacavir respektive Carbamazepin. Mittels pharmakogenetischer Testung kann das Risiko für bestimmte UAW bei speziellen Patienten ­bereits vor Exposition eingeschätzt werden. Weitere pharmako­genetische Tests, welche die Variabilität in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik abschätzen sollen, und damit eine personalisierte Arzneimitteltherapie ermöglichen, sind in Entwicklung. Damit soll die op­timale Therapie mit der optimalen Substanz in der ­optimalen Dosierung vorweg gefunden werden. Beispielsweise kann es bei «ultrarapid metabolizers» von CYP2D6 bereits bei herkömmlichen Dosen von Codein zu einer vermehrten Umwandlung in den aktiven ­Metaboliten Morphin und damit Überdosierungserscheinungen kommen. Statine können hepatisch vermindert aufgenommen werden, wenn bei bestimmten Genvarianten (SLCO1B1) die Transportfähigkeit von der Pfortader in die Leber eingeschränkt ist. Dadurch kommt es zu einer Erhöhung der Bioverfügbarkeit in der Peripherie und das Risiko für Myopathie und Rhabdomyolyse steigt. Durch Identifizierung von Genvarianten kann frühzeitig die richtige Dosis für den ­individuellen Patienten gefunden werden, wodurch Überdosierungen, mangelnde Wirkung oder UAW verhindert werden können. Entsprechend einer Novelle des Eidgenössischen Departements des Innern ist seit Januar 2017 bei Auftreten einer medikamentösen Nebenwirkung, bei der ein wissenschaftlich nachgewiesener Zusammenhang mit Genmutationen besteht, die Verschreibung einer pharmakogenetischen Analyse durch einen Facharzt für Klinische Pharmakologie und Toxikologie auch über Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechenbar.
Aber auch in Zukunft wird auf eine eingehende Ana­mneseerhebung, beispielsweise auf vorangegangene Unverträglichkeiten, sicherlich nicht verzichtet werden können. Identifizierbare Risikoindikatoren im klinischen Alltag sind darüber hinaus noch hohes Alter, eingeschränkte Compliance, Substanzen mit einer engen therapeutischen Breite (wie Antikoagulantien, Anti­diabetika), Polymorbidität und Polypharmazie. Diese Faktoren können mit einem erhöhten Risiko für eingeschränkte Nieren- und Leberfunktion, veränderter Pharmakodynamik im Sinne von verstärktem Ansprechen, pharmakokinetischen und pharmakodynamischen ­Interaktionen oder eingeschränkten Kompensationsmechanismen von UAW assoziiert sein.
Systembedingte Risikofaktoren ergeben sich aus Übertragungsfehlern, Verwechslungen, unsachgemässer Einnahme oder Mehrfachverschreibungen (siehe z.B. den in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum beschriebenen Fall mit Methotrexat in täglicher Dosierung, S. 594–596). Diese Risikofaktoren können durch System­änderungen verhindert werden.

Wie funktioniert das Schweizer 
Spontanmeldesystem?

Das Spontanmeldesystem zur Post-Marketing-Sicherheitsüberwachung erlaubt es medizinischen Fachpersonen, verdächtigte UAW an Pharmacovigilance-Zen­tren zu melden. Solche Systeme erlauben das direkte Engagement von Ärzten und Apothekern in das Sicherheitsüberwachungssystem. Dabei können detaillierte Informationen zu relevanten Symptomen, diagnos­tischen Ergebnissen sowie anamnestische Details, ­Begleitmedikation und der weitere klinische Verlauf der UAW berichtet werden. Solche Informationen sind im Allgemeinen in automatisierten Datenbanken nicht vorhanden. Gerade für UAW, die schwerwiegend sind oder sehr selten vorkommen, sind diese detaillierten Angaben direkt vom medizinischen Fachpersonal («point of care») wichtig und essentielle Eigenschaften des «post-marketing pharmacovigilance»-Systems. Das Aufgabenfeld ist sehr breit gefächert und umfasst alle Medikamente, die in der gesamten Bevölkerung angewendet werden. Es gibt keine Restriktionen der Population oder des Altersspektrums. Spezielle Patientenpopulationen, wie Kinder, Schwangere, Stillende, ältere Patienten, Patienten mit Organfunktionsstörungen (wie Niereninsuffizienz, Leberfunktionsstörung etc.), anderen Begleiterkrankungen (wie chronisch obstruktive Lungenerkrankungf [COPD], koronare Herzkrankheit [KHK], Adipositas etc.) sind integriert. Auch gibt es keine Einschränkungen betreffend den Produktlebenszyklus eines Arzneimittels – von der Einführung über das Wachstum, die Reife, Sättigung bis hin zum Rückgang. Dadurch können auch UAW, die erst nach längerer Anwendung und prolongierter Exposition auftreten, erkannt werden.
Jede Meldung wird von klinischen Reviewern der Re­gionalen Pharmacovigilance-Zentren (RPVZ) und des Schweizerischen Heilmittelinstituts Swissmedic auf ­einen plausiblen Zusammenhang zwischen Arzneimittel und UAW geprüft. Die Qualität der Meldung ist dabei abhängig von der Sorgfalt, dem Aufwand und der klinischen Einschätzung der meldenden Person, aber auch der Gewissenhaftigkeit der Mitarbeiter in den Zentren. Klinische Follow-up-Informationen zum weiteren medizinischen Verlauf können wichtige Angaben zur weiteren Entwicklung liefern.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) lancierte im März 2017 eine globale Initiative zur Reduktion von schweren, vermeidbaren medikamentenassoziierten Schäden. Weltweit werden die jährlichen Kosten durch Medikationsfehler auf 42 Milliarden Schweizer Franken geschätzt. Allein in den USA wird Schätzungen zufolge durch Medikationsfehler täglich ein Todesfall verursacht und jährlich werden ca. 1,3 Millionen Menschen geschädigt. Im Rahmen dieser WHO-Initiative sollen in allen Ländern die vermeidbaren UAW innerhalb von fünf Jahren halbiert werden.

Neue Artikelserie im Swiss Medical Forum gibt Antworten

Im Jahr 2016 haben sich die einzelnen RPVZ der Schweiz zu einer Kollaboration zusammengefunden, um auf relevante Themen der Arzneimittelsicherheit zu fokussieren (siehe Schweiz Med Forum. 2016;16(37):757–63). Mit der neuen Artikelserie im Swiss Medical Forum (SMF) wollen wir Meldungen mit inte­ressantem Inhalt, spannende Fälle oder auch logische Ableitungen pharmakologischer Grundsätze wiederum an den poten­tiellen Primärmelder zurückführen. Auch das Tox Info Suisse hat sich beteiligt, um häufige oder spezielle Intoxikationen zu beleuchten. Damit soll einerseits das pharmakologische Wissen wieder aufgefrischt, in einen klinischen Zusammenhang gerückt und kurz und prägnant dargestellt werden, um im Endeffekt die Arzneimittelsicherheit zu verbessern, die Verordnungsqua­lität zu sichern und damit auch nicht zuletzt die Patientensicherheit in der Schweiz zu erhöhen.
Die Weiterverbreitung von potentiellen Signalen dient einer offenen, ethischen und patientenzentrierten Kommunikation wichtiger Themen der Arzneimittelsicherheit. Sie stellt eine Möglichkeit zur Minimierung von Sicherheitsrisiken und zur Optimierung indivi­dueller Nutzen-Risiko-Entscheidungen dar. In diesem Sinne wollen wir die Feedback-Schlaufe vom Primärmelder zum Primärmelder schliessen.
Alle Leser sind auch als zukünftige Melder von UAW eingeladen, neue, bisher nicht beschriebene, schwerwiegende, medizinisch wichtige, durch Qualitätsmängel hervorgerufene UAW an die RPVZ weiterzuleiten – vielleicht erscheinen sie nachfolgend in dieser Artikelserie!
Die Autoren erklären, dass kein Interessenskonflikt besteht. Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic wurde über die ­geplante SMF-Artikelserie vorgängig benachrichtigt. Die dargestellten Aspekte geben die Meinung der Autoren wieder und nicht die einer regulatorischen Behörde.
PD Dr. med. Stefan Weiler, PhD, MHBA
Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie
UniversitätsSpital Zürich
CH-8091 Zürich
stefan.weiler[at]usz.ch
– Swissmedic Homepage: Pharmacovigilance www.swissmedic.ch/marktueberwachung/
– Aktualisierte Schweizer Arzneimittelinformationen.
www.swissmedicinfo.ch
– Schäublin M. Pharmakovigilanz – Das Spontanmeldesystem in der Schweiz. Ther Umschau 2015;72:743–8.
– Weiler S, Taegtmeyer AB, Müller S, Rollason Gumprecht V, Livio F, Ceschi A, Kullak-Ublick GA. Ausgewählte Fälle der Arzneimittel­sicherheit der Regionalen Pharmacovigilance Zentren in der Schweiz. Schweiz Med Forum. 2016;37:757–63.
– Weiler S, Kullak-Ublick GA, Jetter A. Klinisch relevante ­unerwünschte Arzneimittelinteraktionen: Tipps für die Praxis. Schweiz Med Forum. 2015;07:152–6.
– Uppsala Monitoring Centre (2010). The use of the WHO-UMC system for standardised care causality assessment. http://www.who.int/medicines/areas/quality_safety/safety_efficacy/WHOcausality_assessment.pdf
– World Health Organization (2002). The Importance of Pharmacovigilance. Safety Monitoring of Medicinal Products. Geneva: WHO.
– Russmann S, Kullak-Ublick GA, Weiler S, Stoller R, Egbring M. Arzneimittelsicherheit. In: Siepmann T, Kirch W, Kullak-Ublick GA (eds.), Arzneimitteltherapie, 2nd edition (ISBN 978-3-13-165762-6), Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2016: pp 71–99.
– WHO launches global effort to halve medication-related errors in 5 years. http://www.who.int/mediacentre/news/releases/2017/medication-related-errors/en/