Panzytopenie unter Methotrexat
Aktuelles aus den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren und dem Tox Info Suisse

Panzytopenie unter Methotrexat

Aktuell
Ausgabe
2017/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03013
Schweiz Med Forum 2017;17(2829):594-596

Affiliations
Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, UniversitätsSpital Zürich
Die beiden Autoren haben zu gleichen Teilen zum Artikel beigetragen.

Publiziert am 12.07.2017

Folgen der UAW: Vorübergehend schwer beeinträchtigt
Verlauf: Ohne Schaden erholt
Kausalitätsbeurteilung: Wahrscheinlich

Der klinische Fall

Der 76-jährige Patient wurde wegen eines geplanten operativen Eingriffes hospitalisiert. Als Begleiterkrankung lag eine Psoriasisarthritis vor, die mit Methotrexat 15 mg 1×/Woche behandelt wurde. Bei der Hospitalisation wurde akzidentell Methotrexat während acht Tagen täglich verabreicht (kumulativ 120 mg). Die Eintrittsmedikation ist in Tabelle 1 aufgeführt.
Tabelle 1: Eintrittsmedikation des Patienten.
Metoject® (Inj. Lös. 15 mg/0,3 ml): Fertspritze Methotrexat Inj. Lös. 15 mg1 mg s.c. 1× wöchentlich
Prednison Galepharm (Tabl. 5 mg): Prednison Tabl. 5 mg002
Folvite® (Tabl. 1 mg): Folsäure Tabl. 1 mg100
Aspirin Cardio® (Filmtabl. 100 mg): Acetylsalicylsäure Filmtabl. 100 mg100
Adalat® retard (Ret. Tabl. 20 mg): Nifedipin Ret. Tabl. 20 mg111
Lisinopril Mepha (Tabl. 10 mg): Lisinopril 10 mg101
Bilol® (Filmtabl. 2,5 mg): Bisoprolol Filmtabl 2,5mg202
Torem® (Tabl. 10 mg): Torasemid Tabl. 10 mg1/200
Atorvastatin Actavis (Filmtabl. 40 mg) 001
Januvia® (Filmtabl. 100 mg): Sitagliptin Filmtabl 100mg100
Metformin Actavis (Filmtabl. 1000 mg) 101
Pantozol® (Filmtabl. 40 mg): Pantoprazol Filmtabl 40mg001
Tamsulosin Spirig® (Ret. Kaps. 0,4 mg): Tamsulosin Ret Kaps 0,4mg010
Zwei Tage nach Entlassung musste der Patient wegen schwerer Mukositis und Panzytopenie erneut hospitalisiert werden. Therapeutisch wurden Filgrastim (Zarzio®) und Folsäure (Calciumfolinat) begonnen, zusätzlich erfolgten im Verlauf regelmässige Thrombozyten- und Erythrozytenkonzentratsubstitutionen. Aufgrund von Fieber und laborchemisch gesicherter Agranulozytose wurden Antiinfektiva verabreicht.
Bei Sekretstau infolge der schweren Mukositis erfolgte eine mechanische Ventilation mit Tracheotomie mit Intensivaufenthalt. Bei vorbestehender chronischer Niereninsuffizienz kam es auch zu einem akuten Nierenversagen. Der Patient konnte im weiteren Verlauf wieder auf die Normalstation zurückverlegt werden.
Weitere Komorbiditäten waren eine schwere 3-Gefäss-Erkrankung, ein metabolisches Syndrom mit Diabetes mellitus Typ 2, arterieller Hypertonie, Dyslipidämie und Adipositas, eine Prostatahyperplasie sowie wiederholte depressive Episoden.

Klinisch pharmakologische Beurteilung

Pharmakodynamik

Metoject® enthält den wirksamen Bestandteil Metho­trexat und wird in einmal wöchentlicher, niedriger ­Dosis zur Therapie der Psoriasisarthritis und weiterer Erkrankungen des rheumatoiden Formenkreises eingesetzt. Methotrexat ist ein Antimetabolit der Dihy­drofolatreduktase und wirkt darüber zytostatisch und immunsuppressiv. Durch die Hemmung des Enzyms wird vermindert Tetrahydrofolsäure gebildet, die zur Übertragung von Methylgruppen notwendig ist. Dadurch vermindert sich vor allem die Bildung von Thymidin und Purinbasen; die gestörte DNA-und RNA-Synthese führt zu Funktionsverlust und Zelltod. B-Lymphozyten scheinen gegenüber Methotrexat empfindlicher als T-Lymphozyten zu sein.
Aufgrund seines Wirkmechanismus werden unter der Therapie mit Methotrexat auch die gesunden Zellen angegriffen, weshalb nach hoher Dosis häufig Leucovorin® (Folinsäure) eingesetzt wird, während bei der einmal wöchentlichen Applikation niedriger Dosen an den methotrexatfreien Tagen Folsäure substitutiert wird.

Pharmakokinetik

Die Plasmaeiweissbindung von Methotrexat beträgt ca. 50%. Bei der Verteilung erfolgt eine Anreicherung vor allem in Leber, Niere und Milz in Form von Polyglutamaten, die zum Teil wochen- bis monatelang retiniert werden können. Die terminale Halbwertszeit beträgt im Mittel 6–7 Stunden und weist eine erhebliche Schwankungsbreite (3–17 Stunden) auf. Bei Patienten mit einem dritten Verteilungsraum (Pleuraerguss, Aszites) kann die Halbwertzeit bis um das Vierfache verlängert sein. Der Patient wies eine Hypoalbuminämie (20 g/l) sowie Pleuraergüsse beidseits auf, was die Distribution des Methotrexat beeinflusst haben könnte. Weiter kann Dehydratation ebenfalls die Toxizität von Methotrexat steigern.

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW)

Laut Schweizer Arzneimittelinformation kann es unter der Therapie von Metoject® gelegentlich zu Panzytopenie und häufig zu Leukozytopenie kommen. Die Suppression der Hämatopoese ist dosisabhängig. Methotrexat verursacht potentiell eine Hepatotoxizität sowie Fibrosen und Zirrhosen, jedoch meist nur nach einer Langzeittherapie. Vorübergehende pathologische Veränderungen der Leberenzyme wurden unter Methotrexat-Therapie häufig beobachtet. Anhaltende Veränderungen der Leberenzyme und/oder ein Abfall des Serumalbumins können Anzeichen für eine schwere Lebertoxizität sein. Des Weiteren beschreibt die Schweizer Arzneimittelinformation eine gelegentlich auftretende Niereninsuffizienz als mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW).
Bei einer Methotrexat-Überdosierung umfassen die Symptome auch die Symptome, die nach pharmakologischen Dosen auftreten können (Tab. 2). Es gibt Berichte über Todesfälle aufgrund einer dauerhaften Überdosierung bei Dosen gegen rheumatoide Arthritis und Psoriasis. In diesen Fällen wurde ebenfalls über Sepsis, septischen Schock, Nierenversagen und aplastische Anämie berichtet.
Tabelle 2: Klinische Präsentationen einer Methotrexat-Toxizität.
OrgansystemSchädigung
GastrointestinalNausea, Vomitus, Diarrhoe, ulzerative ­Stoma­titis, Mukositis, gastrointestinale Ulzerationen und Blutungen
HämatologischLeukopenie, Anämie, Thrombozytopenie, Panzytopenie
HepatischAkute Transaminasenerhöhung, chronische Fibrose oder Zirrhose (bei prolongiertem Einsatz)
Neurologisch 
(v.a. bei intrathekaler Verabreichung)Krampfanfälle, Koma, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Nackensteifigkeit, Fieber, Paraplegie
PulmonalInterstitielle Pneumonitis
RenalNierenschädigung (v.a. bei Hochdosistherapie)
DermatologischToxisch epidermale Nekrose (TEN), Stevens-Johnson-Syndrom, exfoliative Dermatitis, Hautnekrose, Erythema multiforme
Hinzu kommt bei diesem Patienten, dass die Nierenfunktion eingeschränkt war, sodass Methotrexat verlangsamt eliminiert wurde. Die Ausscheidung erfolgt überwiegend unverändert renal durch glomeruläre Filtration und aktive Sekretion im proximalen Tubulus. Die Elimination verläuft bei eingeschränkter Nierenfunktion deutlich verzögert.
Panzytopenie als UAW ist ausserdem in den Schweizer Arzneimittelinformationen von Aspirin cardio® (selten), Lisinopril Mepha® (sehr selten) und Pantozol® (sehr selten) erwähnt.

Arzneimittelinteraktionen

Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), wie auch Acetylsalicylsäure, beeinflussen die Pharmakokinetik von Methotrexat. Einige können die renale Exkretion von Methotrexat durch Hemmung der renalen Transportproteine und auch Erniedrigung der renalen Perfusion senken. Durch gleichzeitige Gabe von NSAR kann dadurch das Risiko einer erhöhten Toxizität bestehen, wenn wie im vorliegenden Fall niedrigdosiertes Methotrexat mit Salicylaten wie Acetylsalicylsäure kombiniert wird.
Entsprechend der Schweizer Arzneimittelinformation von Novalgin® (Metamizol) kann bei gleichzeitiger Behandlung mit Metamizol und Metho­trexat die Hämatotoxizität vor allem bei älteren Pa­tienten ansteigen. Daher sollte auch diese Arzneimittelkombination vermieden werden.
Schwache organische Säuren wie das Schleifendiuretikum Torasemid können die Ausscheidung von Metho­trexat ebenfalls herabsetzen. Dadurch können höhere Serumkonzentrationen entstehen, was weiter zu hämatologischer Toxizität führt.
Bei Kombination von Methotrexat mit Protonenpumpenhemmern wie Pantoprazol kann es zu Interaktionen kommen: Protonenpumpenhemmer führen ebenfalls zu einer Verzögerung der renalen Elimination von Methotrexat. In Kombination mit Pantoprazol wurde über einen Fall von Hemmung der renalen Elimination des Metaboliten 7-Hydroxymethotrexat mit Myalgie und Schüttelfrost berichtet.
Diese verschiedenen weiteren Interaktionsmöglichkeiten können sich in einer additiven Hämatotoxizität von Methotrexat auswirken.

Massnahmen zur Vermeidung 
und Behandlungsstrategien

In einer kürzlich erschienenen Mitteilung von Swissmedic wurde auf die Methotrexat-Problematik eingegangen (s. DHPC vom 21.07.2016). Trotz Warnhinweisen in den Arzneimittelinformationen und wiederholten Fachpublikationen ereignen sich weiterhin schwerwiegende akzidentelle Überdosierungen von niedrigdosiertem Methotrexat durch tägliche statt wöchentliche Anwendung bei Patienten mit rheumatoider Arthritis oder Psoriasis. Das vorgeschriebene wöchentliche Intervall widerspricht der Gewohnheit, Medikamente, besonders Tabletten, täglich anzuwenden. Von Januar 1997 bis Juli 2015 wurden Swissmedic 18 Zwischenfälle durch irrtümliche tägliche Anwendung von niedrig dosiertem Methotrexat gemeldet, primär durch orale, vereinzelt auch durch subkutane Gabe. Vier Intoxika­tionen gingen tödlich aus (2000, 2009 [2] und 2014). Die tägliche Einnahme dauerte dabei zehn Tage oder mehr, bei drei der vier verstorbenen Patienten bestand gleichzeitig eine Niereninsuffizienz. Mukositis, Stomatitis, Durchfall, Erbrechen, Hautläsionen sowie Fieber, Blutungen, ungewohnte Schwäche oder Müdigkeit (als Folge der Myelosuppression) wecken den Verdacht auf Intoxikation. Diese erfordert eine notfallmässige Hospitalisation. Es wurden daher aktuell neu «boxed warnings» in die Arzneimittelinformationen und Packungsbeilagen aufgenommen, Klebeetiketten zum Eintragen des Wochentags der Einnahme auf die Verpackung vorgeschrieben sowie Patientenkarten bereitgestellt. Behandlungsmöglichkeiten und supportive Massnahmen einer Methotrexat-Überdosierung sind in Tabelle 3 aufgeführt.
Tabelle 3: Behandlungsmöglichkeiten und supportive Massnahmen einer Methotrexat-Überdosierung (Detailauskunft über ToxInfoSuisse unter der Telefonnummer 145).
NotfallmassnahmenAtemwegsmanagement, Ventilation
Behandlung von Krampfanfällen, Infektionen, Koma
Metoclopramid bei Nausea, Flüssigkeitssubstitution
Behandlung der Myelosuppression in Absprache mit Hämatologen, Erwägung von Granulozyten-Kolonie-
stimu­lierenden Faktoren (G-CSF), Transfusionen
«Dritte Räume» wie Aszites, Pleuraerguss abpunktieren, 
zur Verhinderung einer prolongierten Exposition
Spezifische AntidoteLeukovorin® (Folsäure)
Carboxypeptidase G2 (Glucarpidase): rekombinantes Enzym, das Methotrexat hydrolysiert in inaktive Metaboliten
DekontaminationMassnahmen mit Aktivkohle nach akuter Ingestion 
(nicht aber chronischer!) geeignet
Intensivierte EliminationIntensivierte Hydrierung, Harnalkalisierung pH>7,0
High-Flux-Dialyse ggf. hilfreich
Im vorliegenden Fall ist die tägliche statt der wöchentlichen Gabe sicherlich die Hauptursache für die Hämatotoxizität. Risikovergrössernd kommen die Niereninsuffizienz, Hypalbuminämie und Pleuraergüsse sowie potentielle Einschränkungen der renalen Methotrexat-Elimination durch Komedikation mit Acetylsalicylsäure, Torasemid und Pantoprazol hinzu. In Anbetracht des zeitlichen Zusammenhangs und der guten Dokumentation in der Fachliteratur einerseits, andererseits der prinzipiellen Möglichkeit alternativer, jedoch weniger wahrscheinlicher Ursachen, beurteilen wir die Kausalität zwischen dem Auftreten einer Panzytopenie und der Therapie mit Metoject® als «wahrscheinlich».
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med. Stefan Weiler, PhD, MHBA
Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie
UniversitätsSpital Zürich
CH-8091 Zürich
stefan.weiler[at]usz.ch
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