Kinder mit Fieber: banaler Infekt oder interventionsbedürftig?
Ein Patentrezept gibt es nicht

Kinder mit Fieber: banaler Infekt oder interventionsbedürftig?

Editorial
Ausgabe
2017/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03086
Schweiz Med Forum 2017;17(42):897-898

Affiliations
Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Einheit für pädiatrische Infektiologie, Inselspital, Bern

Publiziert am 18.10.2017

Die typischen Fieberstationen bei Kindern und Jugendlichen sind jeder praktischen Ärztin und jedem praktischen Arzt seit Studienzeiten bekannt. Im Artikel von M. Seiler et al. [1] aus dem Kinderspital Zürich in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum werden diese in kurzer und praktischer Art zusammenfassend dargestellt.
Theoretisch ist das Vorgehen bei einem fieberhaften Kind klar, logisch und einleuchtend. Im klinischen Alltag dagegen sieht die Situation oft anders aus, da gibt es viele Graustufen und nicht nur Schwarz oder Weiss. Die Untersuchungsbedingungen sind aufgrund fehlender Kooperation des kranken Kindes oft alles andere als ideal. Das Trommelfell erscheint etwas gerötet, ist aber schlecht einsehbar und das Kind wehrt sich gegen die Untersuchung ... soll – oder darf ich – hier eine Otitis media diagnostizieren? Oder möchte ich vielleicht eine Otitis sehen, um das Fieber den Eltern – und vielleicht auch mir – einfacher erklären zu können? Kann ich in dieser Situation weiter zuwarten, nochmals nachkontrollieren, oder soll ich doch besser bereits eine Therapie einleiten? Wie tragen die Eltern die Situation mit, schätzen sie ihr Kind adäquat ein? Während der Infektsaison in den Herbst- und Wintermonaten sind Konsultationen wegen Fieber sehr häufig, nicht selten besteht ein Zeitdruck, um solche Entscheidungen zu fällen. Dabei ist jedem Mediziner bewusst, dass unter den vielen kranken Kindern mit banalen, selbstlimitierend verlaufenden viralen Infektionen eines sein kann, bei dem Interventionsbedarf besteht und das nicht verpasst werden darf. Wie kann man das Risiko dafür so weit als möglich reduzieren? Dafür gibt es kein Patentrezept und auch nie eine Garantie.
Wie im Artikel von M. Seiler und Kollegen gut beschrieben, besteht die Aufgabe des Behandelnden darin, bei jedem Kind aufs Neue durch eine fundierte, aber zielgerichtete Anamnese (z.B. Alter des Kindes, Vorerkrankungen, Impfstatus, bei Säuglingen Impfstatus der Mutter) und eine klinische Untersuchung einen ersten Eindruck zu gewinnen. Kombiniert mit dem ärztlichen Instinkt, dem klinischen Bauchgefühl der betreuenden Ärztin oder des betreuenden Arztes, das bei einiger Erfahrung in diesen Situationen ein wichtiger Wegweiser ist, kann in den meisten Fällen auf guter Basis ein Entscheid getroffen werden. Erwähnenswert aus dem Artikel von M. Schneider et al. ist, dass die Wertigkeit von Zusatzuntersuchungen, vor allem die Bestimmung von Entzündungsparametern, in den meisten klinischen Situationen gering ist. Ein Laborparameter kann (und soll) keineswegs die klinische Einschätzung eines Kindes ersetzen. Er kann sogar kontraproduktiv sein, da ein tiefes CRP zu Beginn einer Erkrankung eine schwere Infektion nie auszuschliessen vermag und damit sogar eine falsche Sicherheit vorspielen kann. Wichtiger als alle Laborparameter ist neben der allgemeinen klinischen Einschätzung des Kindes die Kenntnis der vulnerablen Risikogruppen, so sind Neugeborene und Säuglinge, Reiserückkehrer oder Patienten mit Grunderkrankungen niederschwellig weiterzuweisen.
Die Belastung, die durch Abklärung und Beurteilung von fieberhaften Kindern und Jugendlichen – meist ausserhalb der regulären Sprechstunden – im Praxis­alltag entsteht, wurde in einer Studie in den Niederlanden durch standardisierte Befragung von Praktikern erhoben [2]. Dabei werden die hohen Anforderungen, die sich nicht zuletzt aus dem Umgang mit den durch Fieber verängstigen Eltern ergeben, eindrücklich beschrieben. Die Aussagen gelten mit wenigen Einschränkungen sicher nicht nur in den Niederlanden! Die Studie ist absolut lesenswert.

Epidemiologische Situation 
in der Schweiz

Zwei unabhängig voneinander in der Schweiz durchgeführte Studien haben sich mit der aktuellen Situation von invasiv-bakteriellen Infektionen bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt, die Resultate wurden vor Kurzem publiziert [3, 4]. Bei der prospektiv durchgeführten Schweizerischen Pädiatrischen Sepsis-Studie (SPSS) wurden unter anderem mikrobiologische und klinische Daten von fast 1200 Sepsisepisoden erfasst. Über gut vier Jahre konnten die meisten Kinder und Jugendlichen <18 Jahre, welche die Einschlusskriterien – SIRS-Zeichen und positive Blutkultur – erfüllt haben, in die Studie eingeschlossen werden. In der Auswertung zeigt sich nun, dass rund ein Drittel aller Septik­ämien bei vorher gesunden Kindern, ein Drittel bei Neugeborenen und ein Drittel bei Kindern mit Komorbiditäten mit/ohne Immunsuppression auftraten. Über alle Altersgruppen gesehen liegt die Inzidenz einer Sepsis im Kindes- und Jugendalter bei 25:100 000/Jahr. Wie auch im Artikel von M. Schneider et al. erwähnt, gibt es gewisse Risikogruppen, die ein deutlich höheres Risiko aufweisen. So gehören Neugeborene (bis 4 Wochen postnatal) und Säuglinge zur Hochrisikogruppe. Die Inzidenz für schwere bakterielle Infek­tionen liegt bei 146:100 000 für Neugeborene und bei 86:100 000 im Säuglingsalter (bis 12 Monate). Einschränkend muss hier erwähnt werden, dass in der Sepsis-Studie nur Kultur-positive Sepsis­episoden eingeschlossen wurden, sodass die effektive Zahl für schwere bakterielle Infektionen sicher höher liegt, da nicht alle Infektionen in einer positiven Blutkultur resultieren. Bezüglich verursachender Erreger gibt es ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Risikogruppen. Bei Neugeborenen dominieren erwartungsgemäss Gruppe-B-Streptokokken und Escherichia coli, während bei sonst gesunden Säuglingen und Kindern hauptsächlich Pneumokokken, Staphylococcus aureus und Escherichia coli gefunden wurden. Das Erregerspektrum bei Kindern/Jugendlichen mit einer Grunderkrankung, mit zentralen Kathetern, mit primärer oder sekundärer Immundefi­zienz unterscheidet sich nochmal; diese Patienten sollten als Risikogruppe relativ klar abzugrenzen sein, um sie zügig den entsprechenden Abklärung zuführen zu können.
Die Mortalität in der SPSS betrug 7% (!), unterschied sich aber relevant zwischen den Risikogruppen. Bei vorher gesunden Kindern lag sie erwartungsgemäss tiefer als im Neugeborenenalter oder bei Kindern mit Grunderkrankungen, aber trotzdem erkrankten 29% der gesunden Kindern so schwer, dass sie intensivbehandlungspflichtig waren. Die Prognose fürs Überleben ist klar davon abhängig, ob es im Rahmen der Sepsis zu Organdysfunktionen kommt. Ist dies der Fall, steigt die Mortalität deutlich an. Das frühzeitige Einleiten einer adäquaten Therapie ist für das Überleben in allen Gruppen entscheidend.
Für den praktischen Alltag bedeutet dies, dass Kinder mit Fieber relativ zügig beurteilt werden müssen und solche, die spezielle Auffälligkeiten oder einen schlechten Allgemeinzustand haben und/oder bei denen Ihr ärztlicher Instinkt Sie dazu drängt, rasch weitergeleitet werden. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. «Time is life»!
Die Autorin hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med.
Andrea Duppenthaler
Universitätsklinik für
Kinderheilkunde
Einheit für pädiatrische Infektiologie
Inselspital
Freiburgstrasse 31
CH-3010 Bern
andrea.duppenthaler[at]insel.ch
1 Seiler M, Relly C, Staubli G. Das Kind ist krank! Schweiz Med Forum. 2017;17(42):899–903.
2 de Bont EG, Peetoom KK, Moser A, Francis NA, Dinant GJ, Cals JW. Childhood fever: a qualitative study on GPs’ experiences during out-of-hours care. Family Practice. 2015;32(4):449–55.
3 Agyeman PKA, Schlapbach LJ, Giannoni E, Stocker M, Posfay-Barbe KM, Heininger U, et al. Epidemiology of blood culture-proven bacterial sepsis in children in Switzerland: a population-based cohort study. Lancet ChildAdol. 2017 Jul 20;1(2):124–33.
doi.org/10.1016/S2352-4642(17)30010-X.
4 Buetti N, Atkinson A, Kottanattu L, Bielicki J, Marschall J, Kronenberg A, et al. Patterns and trends of pediatric bloodstream infections: a 7-year surveillance study. Eur J Clin Microbiol Infect Dis. 2017;36(3):537–44.