«Absence of evidence is not evidence of absence» …
Metamizol

«Absence of evidence is not evidence of absence» …

Editorial
Ausgabe
2017/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03109
Schweiz Med Forum 2017;17(48):1059-1060

Affiliations
Klinik für Innere Medizin, Universitätsspital, Basel

Publiziert am 29.11.2017

Im Fokus der aktuellen Ausgabe des Swiss Medical ­Forum steht das Metamizol (Dipyrone, Novalgin®). Das ist vielleicht überraschend, handelt es sich doch um ein uraltes Medikament, das 1922 auf den Markt kam, in vielen Ländern (u.a. USA, GB, Kanada, Australien, Frankreich, Schweden, Norwegen …) nicht zugelassen ist, bekanntlich seltene, aber nicht voraussehbare schwere Nebenwirkungen haben kann und seit Jahren kontrovers diskutiert wird. Gibt es denn neue und relevante Daten und Fakten zum Metamizol? Ja und nein … Ja, z.B. aus der Sicht der indischen Behörden, welche das Metamizol 2013 vom Markt zurückgezogen haben. Ja, auch aus der Sicht von M. Haschke und M. Liechti, welche in ihrem sorgfältigen und ausführlichen Review der Literatur [1] zum Schluss kommen, dass neuere Publikationen eine bessere Beurteilung von Nutzen und Risiko von Metamizol, insbesondere im Vergleich zu anderen Analgetika, erlauben.
Neu und sicher relevant sind mehrere grosse, methodologisch solide Studien, welche Nebenwirkungen von anderen Analgetika genauer untersucht haben (z.B. Todesfälle in Zusammenhang mit der «Opiat-Epidemie», v.a. in den USA; kardiovaskuläre und gastrointestinale Nebenwirkungen von NSAR und Coxiben). Für Metamizol gibt es diesbezüglich keine Daten aus vergleichbaren Studien. Trotzdem (und vielleicht eben weil die Sen­sibilisierung für Nebenwirkungen durch andere Sub­stanzen zugenommen hat) steigt der Metamizol-Verbrauch massiv an. Zwischen 1990 und 2012 nahmen die Metamizol-Verschreibungen in Deutschland um einen Faktor 13 [2], in der Schweiz von 2006 bis 2012 um 270% zu [3]. Einige neuere Publikationen kommen zum Schluss, dass die Inzidenz der gefährlichen Metamizol-induzierten Agranulozytose seltener ist als angenommen [1, 2]. Trotzdem fehlen uns immer noch wichtige Informationen, um das Risiko-/Nutzen-Profil von Metamizol auch im Vergleich zu anderen Analgetika korrekt einschätzen zu können. Der genaue Wirkmechanismus von Metamizol ist weiterhin nicht bekannt [1]. Es ist auch schwierig zu beurteilen, wie effektiv Metamizol gegen Schmerzen wirkt. Wahrscheinlich ähnlich wie NSAR, aber möglicherweise nicht besser als Paracetamol i.v. [4]. Die verfügbaren Studien untersuchen meistens die Wirkung bei akuten Schmerzen (z.B. postoperativ) und oft nur einer (!) Einzeldosis, so dass keine Aussagen für längere Behandlungen (>14 Tage!) möglich sind [5]. Die verschiedenen Analgetika können zudem oft nur ­indirekt verglichen werden. Die Autoren der von M. Haschke und M. Liechti zitierten Cochrane-Review schreiben z.B. ausdrücklich, dass sie ihre Konklusionen nur auf «very limited information» abstützen können und nicht in der Lage sind, Metamizol mit anderen Behandlungen zu vergleichen … [6].
Obwohl das Metamizol schon so lange auf dem Markt ist, ist die Datenlage auch bezüglich Nebenwirkungen schlecht, vor allem im Vergleich zu neueren Substanzen. Die Schätzungen der Inzidenz dieser Nebenwirkungen, sogar der schweren Nebenwirkungen wie der Agranulozytose, sind problematisch, weil sie auf Spontanmeldungen oder auf Fallserien bzw. Fall-/Kontroll-Studien beruhen, welche methodologische Limitationen haben. Wie M. Haschke und M. Liechti berichten, konnten z.B. in der neuesten «Berliner Fall-Kontroll-Studie» von Stamer und Kollegen die letalen Agranulozytose-Fälle gar nicht eingeschlossen werden [1]. Wir wissen, dass Metamizol u.a. gastrointestinale Blutungen, schwere anaphylaktoide/hypotone Reaktionen und schwere Hautreaktionen verursachen kann [1]. Metamizol kann auch die antiaggregierende Wirkung der Azetylsalizylsäure auf die Thrombozyten blockieren [7]. Es ist aber unklar, wie häufig und relevant diese Nebenwirkungen/Effekte sind, weil Daten aus guten (z.B. grossen, pro­spektiven, randomisierten) Studien dazu fehlen. Es ist auch unbekannt, ob Metamizol das kardiovaskuläre Risiko erhöht (Metamizol hemmt wahrscheinlich COX-1 und COX-2), weil das einfach nicht untersucht wurde [1]. Es ist deshalb irreführend, wenn man das Risiko ­eines Todesfalles wegen einer gastrointestinalen Blutung oder einer kardiovaskulären Komplikation durch ein NSAR isoliert dem Risiko eines Todesfalles durch eine Metamizol-induzierte Agranulozytose gegenüberstellt [1]. Dieser Vergleich lässt ausser Acht, dass das ­Risiko für Metamizol-induzierte Todesfälle durch gas­trointestinale, kardiovaskuläre oder andere schwere Nebenwirkungen ungenügend oder nicht untersucht ist (aber «absence of evidence is not evidence of absence» …), dass das Risiko einer Agranulozytose nicht voraussehbar und abschätzbar ist, im Gegensatz zum Risiko einer NSAR-induzierten gastrointestinalen und kardiovaskulären Nebenwirkung (da es sich bei der Agranulo­zytose um eine allergische Immunreaktion handelt), und dass hingegen das Nebenwirkungsrisiko anderer Analgetika, wie z.B. von NSAR oder Coxiben, für den individuellen Patienten viel genauer eingeschätzt und minimiert werden kann, weil wir über diese Substanzen viel mehr wissen [8].
Das Metamizol sollte weiterhin ausschliesslich eingesetzt werden, wenn keine Alterativen in Frage kommen, wie das die offizielle Zulassung vorsieht [2]: für starke Schmerzen und hohes Fieber, welche auf andere Massnahmen nicht ansprechen [1].
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med.
Stefano Bassetti
Klinik für Innere Medizin
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
CH-4031 Basel
stefano.bassetti[at]usb.ch
1 Haschke M, Liechti ME. Nutzen und Risiken von Metamizol im Vergleich zu Paracetamol und NSAR. Swiss Med Forum. 2017;17(48):1067–73.
2 Stammschulte T, Ludwig WD, Muhlbauer B, Bronder E, Gundert-Remy U. Metamizole (dipyrone)-associated agranulocytosis. An analysis of German spontaneous reports 1990–2012.
Eur J Clin Pharmacol. 2015;71:1129–38.
3 Blaser LS, Tramonti A, Egger P, Haschke M, Krahenbuhl S, Ratz Bravo AE. Hematological safety of metamizole: retrospective analysis of WHO and Swiss spontaneous safety reports.
Eur J Clin Pharmacol. 2015;71:209–17.
4 Brodner G, Gogarten W, Van Haken H, et al. Efficacy of intravenous paracetamol compared to dipyrone and parecoxib for postoperative pain management after minor-to-intermediate surgery: a randomised, double-blind trial. Eur J Anaesthesiol. 2011;28:125–32.
5 Theiler R. Ist Metamizol das «neue» Antirheumatikum? Swiss Med Forum. 2017;17(48):1061–2.
6 Hearn L, Derry S, Moore RA. Single dose dipyrone (metamizole) for acute postoperative pain in adults. Cochrane Database Syst Rev. 2016;4:CD011421.
7 Schmitz A, Rossmann L, Kienbaum P, Pavlakovic G, Werdehausen R, Hohlfeld T. Dipyrone (metamizole) markedly interferes with platelet inhibition by aspirin in patients with acute and chronic pain. A case-control study. Eur J Anesthesiol. 2017;34:288–96.
8 Patrono C, Baigent C. Coxibs, traditional NSAIDs, and cardiovascular safety post-PRECISION: what we thought we knew then and what we think we know now. Clin Pharmacol Ther. 2017;102:238–45.