Gastroenterologie: Reizdarm heute: «Sie haben nicht nichts»
Gastroenterologie

Gastroenterologie: Reizdarm heute: «Sie haben nicht nichts»

Schlaglichter
Ausgabe
2017/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03129
Schweiz Med Forum 2017;17(5152):1152-1154

Affiliations
UniversitätsSpital Zürich, Gastroenterologie und Hepatologie, Zürich

Publiziert am 20.12.2017

Das Reizdarmsyndrom führt viele Patienten zum Hausarzt, aber auch zum Gastroenterologen, Gynäkologen und – aufgrund wachsender Bedeutung von Nahrungsmittelunverträglichkeiten – zum Allergologen. Was sich bezüglich Ernährungsstrategien, medikamentöser Ansätze sowie alternativer Therapieverfahren getan hat, aber auch wie die Pathophysiologie und Symptomcharakterisierung des Reizdarmsyndroms aktuell bewertet wird, möchte ich Ihnen im Folgenden aufzeigen.

Hintergrund

Das Reizdarmsyndrom («irritable bowel syndrome», [IBS]) gehört zu den häufigsten Diagnosen, die in der gastroenterologischen Praxis gestellt wird [1]. Das Verständnis der Pathophysiologie hat sich im letzten Jahrhundert kontinuierlich gewandelt. Wurde der Reizdarm in den 20er- bis 40er-Jahren initial als psychiatrische Erkrankung charakterisiert, so rückten mit der technischen Entwicklung, die Motilitätsstudien erlaubte, Störungen intestinaler Motilität in den Fokus. Bereits in den 70er- und 80er-Jahren entstand das Konzept der viszeralen Hyperalgesie, also der intestinal verstärkten und schmerzhaften Perzeption von sensorischen Reizen, was bis heute nichts von seiner Wichtigkeit verloren hat. Seither sind zunehmend das Mikrobiom, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, neuro-immunologische Prozesse, Genetik, aber auch assoziierte Pathophysiologien wie Hyperlaxizität («joint hypermobility») in den Vordergrund gerückt.

ROME IV-Umdenken

Die Rom-Klassifikation, die sich der Einteilung funk­tioneller Magen-Darm-Erkrankungen widmet, wurde nach 2006 (Rom III) nun in ihrer neuesten Iteration (Rom IV) vorgestellt [1]. Insgesamt sind die bei uns als «funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen» bekannten Pathologien des oberen und unteren Gastrointestinaltrakts neu als «disorders of brain-gut interaction» klassifiziert. Dies soll dem zunehmenden Verständnis um die pathophysiologischen Vorgänge bei Symptomperzeption und Interaktion des enterischen mit dem zen­tralen Nervensystem Rechnung tragen. Die Klassifikation des IBS wurde dahingehend verschärft, als dass nun abdomineller Schmerz ein obligates Sym­ptom ist, eine häufigere Frequenz der Beschwerden gefordert wird (mindestens 1×/Woche) und zudem nur noch symptomatische Zeiträume für die Klassifikation verwendet werden. Neu ist ebenfalls, dass Beschwerden nach Defäkation zwar charakteristischerweise bessern, aber erkannt wurde, dass ein nicht unerheblicher Teil der Patienten nach Defäkation eine Zunahme der Beschwerden erleidet.

Ernährungsansätze: FODMAPs – 10 Jahre und gut im Rennen

Seit der ersten Vorstellung der FODMAP-Hypothese («fermentable oligo-, di- and monosaccharides and polyols»), die 2005 von Peter Gibson von der «Monash University» publiziert wurde, ist eine ständig steigende Zahl an Publikation zum Thema fermentierbarer Kohlenhydrate und IBS zu verzeichnen. Nachdem 2014 die erste doppelblind-randomisierte Studie zum Thema publiziert wurde, die an 30 IBS-Patienten und 8 Probanden eine überzeugende Symptombesserung unter «Low-FODMAP»-Diät (LFD) versus Plazebo zeigte, sind weitere Publikationen, die den Effekt der Diät bestätigten, veröffentlicht worden [2]. Problematisch bei diesen Outcome-Studien bleibt der Fakt, dass alle Studien in Tertiärzentren durchgeführt wurden und, wie in der Mehrzahl von Nahrungsmittelstudien, mit dem Bias einer problematischen Verblindung und nur kurzem Beobachtungzeitraum (maximal 6 Wochen in den randomisierten kontrollierten Studien) zu kämpfen haben.
Die für eine Symptomreduktion verantwortlichen Effekte der FODMAP-Diät werden weiter untersucht. In einer verblindeten kontrollierten Studie an 83 vorwiegend unter Durchfall leidenden IBS-Pa­tienten (IBS-D-Patienten) konnte eine 4-wöchige LFD eine 57%ige Reduktion von 7-alpha-Hydroxy-cholesten-4-one, welche im Serum die hepatische Gallensalzsynthese und damit eine kompensatorische Erhöhung im Falle eines Gallensalzverlustsyndroms wiederspiegelt, erreichen [3].
Eine klassische Ernährungsberatung führte ebenfalls zu einer Reduktion dieses Metaboliten, allerdings si­gnifikant weniger stark. Eine weitere Arbeit widmete sich dem serotonergen Stoffwechsel, der eine bedeutende Rolle bei IBS spielt. So konnte gezeigt werden, dass das Symptomansprechen auf eine FODMAP-Diät im Vergleich zu einer klassischen IBS-Diät in Abhängigkeit einer Punktmutation im Tryptophan Hydroxylase-1-Gen, die im serotonergen Stoffwechsel eine entscheidende Rolle spielt, gestellt werden konnte [4].

Neue medikamentöse Therapien

Die pharmakologische Therapie des IBS ist in den letzten Jahren um zahlreiche Optionen erweitert worden. Neben der unveränderten Basistherapie mit Allgemeinmassnahmen wie ausreichender Bewegung, Ernährungsadaptation und Stuhlregulation (Verzicht auf fermentierbare Agenzien) sowie phytotherapeutischen Ansätzen stehen verschiedene Substanzen zur Verfügung oder vor Einführung. Auf der Jahresvereinigung der Schweizer Gastroenterologen (SGG) in Lausanne, September 2017, wurden die bislang ersten Schweizer Daten zu Wirksamkeit und Verträglichkeit des 2013 vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugelassenen Linaclotid (IBS-C, «IBS with constipation») vorgestellt. Bezüglich Wirksamkeit wurden mit den Phase-III-Studien vergleichbare Ergebnisse erreicht, allerdings war die Abbruchquote der Therapie mit 33% höher, was wahrscheinlich Ausdruck der sehr potenten antiobstipativen Wirkung ist, die bei leicht- bis mittelgradig schwerem IBS in der vom Hersteller empfohlenen Tagesdosierung zu stark sein kann. Ergänzt wird dieses Medikament 2018 in der Schweiz durch Eluxadolin (IBS-D), einen gemischten Opioid-Rezeptor-Agonisten und -Antagonisten, der in grossen Studien die Endpunkte der «Food and Drug Administration» (FDA) und «European Medicines Agency» (EMA) bezüglich Kombination aus antidiarrhoischer und schmerzreduzierender Wirkung über 12 und 26 Wochen erreichte. Dieses Jahr publiziert wurden Daten, die sich der Vorbehandlung und konkomittierenden Behandlung mit Loperamid widmeten und weder eine negative Interaktion noch eine Einbus­se der Hauptwirkung von Eluxadolin zeigten. Bei IBS-D ebenfalls interessant bleibt der «off-label»-Einsatz von On­dansetron als 5-HT3-Rezeptor­antagonist, wo eine kürzlich begonnene grosse randomisierte und kontrollierte europäische Phase-IV-Studie die klinisch guten Erfahrungen und positive Vorstudien auf ein solides Datenfundament stellen möchte.

Alternative Therapien

Lang erwartet wurden die ersten doppelblinden, plazebokontrollierten Daten zum fäkalen Mikrobiota-Transfer (FMT) bei IBS. Von 16 IBS-Patienten wurden acht autolog und acht mit Fremdstuhl nach abführenden Massnahmen und Applikation im Zökum mittels Koloskopie transferiert [5]. Beide Gruppen erzielten eine signifikante Reduktion ihrer Symptom-Scores, ­allerdings keine Signifikanz im Direktvergleich. Einzig der «Quality of Life Score» besserte sich gegenüber der Baseline in der Verumgruppe, nicht aber unter autologer Transplantation. Grössere Studien, Identifikatoren guter Spender und Empfänger mit Korrelation mikrobiologischer und immunologischer Marker sind nötig, um hier mehr Einsicht und bessere Ergebnisse zu ­erreichen.
Zahlreiche psychotherapeutisch orientierte alternative Therapiekonzepte sind aktuell verfügbar. Solche Mind-Body-Therapien, wie zum Beispiel in Kooperation von Komplementärmedizin und Gastroenterologie am UniversitätsSpital Zürich angeboten, wurden bislang aber selten bezüglich Änderung struktureller und messbarer Parameter untersucht. So zeigte eine noch unpublizierte MRI-Studie der «University of Los Angeles» an 39 IBS-Patienten, die acht Wochen einer «mindfulness-based stress reduction»-Therapie absolvierten, eine Verbesserung der zerebralen axonalen Dichte und Kohärenz als Ausdruck einer verbesserten Gehirnarchitektur.

Diskussion

Das IBS hat seinen Weg aus der Versenkung unverstandener Abdominalbeschwerden zu einer klarer definierten Entität mit zunehmendem pathophysiologischen Verständnis und breiteren Therapieoptionen gefunden. Moderne Forschung, neue pharmakologische Ansätze, interessante pathophysiologische Aspekte und nicht zuletzt auch mediale Aufmerksamkeit haben dazu geführt, dass IBS zum «Mainstream»-Thema in der Medizin geworden ist und wir unseren Patienten nicht mehr sagen müssen: «Alles gut, Sie haben nichts».
Der Autor hat eine Tätigkeit als Berater und Referent 
für Allergan deklariert.
PD Dr. med. Daniel Pohl
Leiter Funktionsdiagnostik,
Gastroenterologie
und Hepatologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistr. 100
CH-8091 Zürich
daniel.pohl[at]usz.ch
1 Drossmann D, Gastroenterology 2016;150:1262–79.
2 Halmos EP, Power VA, Shepherd SJ, Gibson PR, Muir JG. A diet low
in FODMAPs reduces symptoms of irritable bowel syndrome. Gastroenterology 2014;146:67–75 e5.
3 Eswaran SL, Selvaraj FM, Princen F, Tooker P, Harvie G, Chey WD. Serum 7c4 Levels Decrease after Low Fodmap Diet in Ibs Patients:
A Potential Mechanism for Benefit. Gastroenterology 2017;152:S160–S.
4 Eswaran SL, Merchant JL, Photenhauer A, Jackson K, Madriaga D, Selvaraj FM, et al. 262 – Tryptophan Hydroxlase 1 (TPH1) Promoter Genotype but not Serum Serotonin Levels Identify IBS-D Patients More Likely to Benefit from the Low Fodmap Diet. Gastroenterology 2017;152:S69.
5 Holster S, Brummer RJ, Repsilber D, König J. 430 – Fecal Microbiota Transplantation in Irritable Bowel Syndrome and a Randomized Placebo-Controlled Trial. Gastroenterology 2017;152:S101–S2.