Neurologie: Akuter Hirnschlag: «from dusk till DAWN»
Neurologie

Neurologie: Akuter Hirnschlag: «from dusk till DAWN»

Schlaglichter
Ausgabe
2017/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03163
Schweiz Med Forum 2017;17(5152):1160-1162

Affiliations
Neurologische Klinik, Inselspital, Bern
Service de Neurologie, Centre Hôpitalier Universitaire Vaudois, Lausanne

Publiziert am 20.12.2017

Die endovaskuläre Hirnschlagtherapie hat bis zur Veröffentlichung der positiven Studien im Jahr 2015 eine lange Dunkelperiode durchlebt. Dank dem «DAWN-trial» gibt es im Jahr 2017 einen weiteren Lichtblick, der für viele weitere Hirnschlagpa­tienten ein Grund zur Hoffnung ist.

Hintergrund

Durch die Veröffentlichung der grossen positiven Thrombektomie-Studien in den Jahren 2015/2016 wurde eine neue Ära der akuten Hirnschlagtherapie eingeleitet. Mit der endovaskulären Behandlung stand nun eine klinisch höchst effiziente, schnell durchzuführende Therapieoption zur Verfügung, von welcher eine grosse Patientenpopulation profitiert [1]. Auch wenn manche Zentren bereits Erfahrung mit der Thrombektomie gesammelt hatten, traten durch die Veröffentlichung der Studien viele bislang ungeklärten Fragen auf.
Neben Fragen zu der Organisation von Stroke-Netzwerken und technischen Verbesserungen ist im klinischen Alltag die richtige Selektion von Patienten von grosser Bedeutung. Kürzlich veröffentliche Studien legen nahe, dass nur eine Minderheit von Hirnschlagpatienten alle Einschlusskriterien der verschiedenen randomisierten Studien erfüllt (<1%) [2]. Viele der in ein Spital eingelieferten Hirnschlagpatienten erfüllen nicht alle Kriterien, leiden aber trotzdem unter einem Verschluss einer grossen Hirnarterie, der potentiell durch eine endovaskulären Behandlung zu therapieren wäre. Nach weniger strengen, allgemein akzeptierten Kriterien erfüllen ca. 5–10% der Patienten mit einem akuten Hirnschlag die Kriterien für eine Indikation zur mechanische Thrombektomie [3, 4].
Für den behandelnden Neurologen und Neuroradiologen stellen sich in der Akutsituation daher häufig folgende Fragen: Wie streng hält man sich an die Einschlusskriterien der grossen randomisierten Studien? Welche weiteren Kriterien zieht man für die Indikationsstellung in Betracht? Welchen Patienten enthält man die Therapieform wegen schlechter Erfolgsaussichten vor? Wie geht man beispielsweise bei Patienten mit unklarem Zeitfenster oder Wake-up-Schlaganfällen vor? Wie wichtig ist das Zeitfenster bei der Evaluierung des individuellen Therapienutzen?
Insbesondere die Frage, wie restriktiv das Zeitfenster eingehalten werden muss, wird schon länger kontrovers diskutiert. Generell gilt der Zusammenhang, dass später behandelte Patienten schlechtere Chancen auf einen Therapieerfolg haben als früh behandelte Patienten («time is brain»). Allerdings lässt sich im Einzelfall allein nicht immer an Hand der Zeit abschätzen, ob ein Patient noch von einer Therapie profitieren würde oder nicht. Die prognostische Aussagekraft der Zeit ist also im Einzelfall schwach. Die Hauptursache dafür ist in der verschieden ausgeprägten Kollateralisierung des unterversorgten Gewebes zu suchen [5]. Bei guter Kollateralisierung überlebt das Gewebe länger und auch über die Grenzen von etablierten Zeitfenstern hinaus (Abb. 1, Patient 2). Bei schlechter Kollateralisierung geht das Gewebe zügig unter und ist nicht länger rettbar (Abb. 1, Patient 1). Ein möglicher Ausweg aus dem therapeutischen Dilemma ist daher die zusätzliche Selektion mittels Bildgebung. Durch Darstellung des bereits infarzierten Gewebes und gleichzeitiger klinischer Abschätzung des Volumens des potenziell rettbaren Gewebes können so Patienten mit guten Aussichten auf einen Therapieerfolg für die späte Behandlung mit Thrombektomie ausgewählt werden.
Abbildung 1: Beispiele von zwei Patienten mit einem grossen Gefässverschluss (Patient 1: rechte Hemisphäre, Patient 2: linke Hemisphäre). Patient 1 weist schlechte Kollateralen auf und das bereits infarzierte Gewebe ist gross (rot). Patient 2 zeigt gute Kollateralen in der CT-Angio und das Gewebe erweist sich lediglich als minderdurchblutet (grün), aber nicht infarziert. Patienten mit einem Profil wie Patient 2 und einem grossen neurologischen Defizit wurden in die DAWN -Studie eingeschlossen.

DAWN-Studie

Die DAWN-Studie (Diffusion Weighted Imaging [DWI] or Computerized Tomography Perfusion [CTP] Assessment With Clinical Mismatch in the Triage of Wake Up and Late Presenting Strokes Undergoing Neurointervention) wurde als multizentrische, prospektive, randomisierte, kontrollierte Studie entworfen. In der ­Studie wurden Patienten mit einem grossen potenziell rettbaren Gewebe, aber einer Präsentation nach 6 Stunden, oder mit unbekanntem Symptombeginn/Wake-up-Stroke entweder einer mechanischen Thrombektomie oder bestmöglicher medizinischer Versorgung zugeführt (Abb. 1). Das potenziell rettbare Gewebe wurde durch einen sogenannten «klinisch-­bildgebenden Mismatch» definiert. Ein solcher Mismatch liegt vor, wenn der bereits etablierte Infarkt in der Bildgebung bei Aufnahme noch klein ist, das klinisch-neurologische Defizit aber gross ist.
An der diesjährigen Konferenz der «European Stroke Organisation Conference» in Prag wurden die ersten Ergebnisse der Studie vorgestellt. Die Studie wurde zuvor auf Empfehlung des studieneigenen «Data safety monitorings boards» nach einer geplanten Zwischenanalyse bei Einschluss von 206 Patienten gestoppt. Die klinischen Ergebnisse des Thrombektomie-Arms waren überwältigend. Während in der Kontrollgruppe nach 3 Monaten nur 13% der Patienten als funktionell unabhängig eingestuft wurden, waren im Thrombektomie-Arm fast die Hälfte der Patienten (49%) funktionell unabhängig. Diese grossen Unterschiede waren sowohl in spät behandelten Patienten (6–12 Stunden: 55 vs. 20%), als auch in sehr spät behandelten Patienten sichtbar (12–24 Stunden: 43 vs. 7%). Anders ausgedrückt heisst dies, dass von 100 mit einer Thrombektomie behandelten Patienten, 49 Patienten weniger schwer eingeschränkt und 36 Patienten mehr unabhängig waren, als wenn die 100 Patienten mit rein medizinischen Massnahmen behandelt worden wären. Die Ergebnisse belegen ohne Zweifel den Nutzen der Thrombektomie beim akuten Hirnschlag bei Patienten ausserhalb des bislang etablierten Zeitfensters, wenn sie mit modernen bildgebenden Methoden selektioniert wurden.
Eine bestmögliche Auswahl von Patienten für eine Therapieform bedarf sowohl das möglichst genaue Erfassen von allen potenziell profitierenden Patienten als auch das möglichst genaue Klassifizieren von Patienten, welche nicht von der Therapie profitieren. Für ersteres liefert die DAWN-Studie einen wichtigen Schritt nach vorne und erweitert das Thrombektomie-Patientenkollektiv um viele tausende Patienten. Aufgrund der eindeutigen Ergebnisse stellt sich aber auch gleichzeitig die Frage, ob nicht noch mehr, weniger eindeutige Fälle ebenso von dieser Therapieform profitieren würden (beispielsweise Patienten mit grossem Infarkt bei Aufnahme). Es bedarf daher zukünftig weiterer Studien, welche den genauen Schwellenwert für die bestmögliche Indikationsstellung herausfinden, um so den maximalen Benefit aus einer der effektivsten Therapieformen der modernen Medizin herauszuschlagen.

Diskussion

Durch die DAWN-Studie wurde ein wichtiger Meilenstein in der Erweiterung der Indikationskriterien für die Thrombektomie beim akuten Hirnschlag gesetzt. Für viele Patienten, denen bislang nur eine symptomatische Therapie offenstand, steht jetzt eine neue Therapieoption bis zu einem Tag nach Symptombeginn zur Verfügung. Trotzdem soll die Thrombektomie so rasch wie möglich durchgeführt werden, da viele Studien gezeigt haben, dass rasch behandelte Patienten ein günstigeres Schicksal aufweisen als Patienten, die spät behandelt wurden. Die Studienergebnisse müssen schnell in nationale und internationale Empfehlungen übernommen werden und die Bildgebungs-unterstützte Patientenselektion muss in möglichst vielen Zentren etabliert werden. Zukünftige Studien werden zeigen ob auch Patienten mit grösserem Infarktkern von der Thrombektomie profitieren. Das Ziel wird ­bleiben für das gesamte Patientenkollektiv den grösst möglichen Benefit dieser effektiven Therapieform zu erzielen.
Prof. Jan Gralla, Klinikdirektor und Chefarzt, Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie, Universität, Bern.
PM hat Vortrags- und Beraterhonorare von Medtronic und Vergütungen für die Mitgliedschaft im Lenkungsausschuss von Penumbra deklariert (zur Gänze zu Forschungs- und Lehrzwecken verwendet). 
UF hat vom Artikel unabhängige Disclosures deklariert: Studienleiter für die SWIFT DIRECT-Studie und Berater für Medtronic und Stryker. JK hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Urs Fischer
Extraordinarius für Akutneurologie und Stroke
Universitätsklinik für
Neurologie
Inselspital
CH-3010 Bern
urs.fischer[at]insel.ch
1 Goyal M, Menon BK, Van Zwam WH, et al. Endovascular thrombectomy after large-vessel ischaemic stroke: a meta-analysis of individual patient data from five randomised trials. Lancet. 2016;387(10029):1723–31. doi:10.1016/S0140–6736(16)00163–X.
2 Tawil SE, Cheripelli B, Huang X, et al. How many stroke patients might be eligible for mechanical thrombectomy?
Eur Stroke J. 2016;1(4):264–71. doi:10.1177/2396987316667176.
3 Chia NH, Leyden JM, Newbury J, Jannes J, Kleinig TJ. Determining the number of ischemic strokes potentially eligible for endovascular thrombectomy: a population-based study. Stroke. 2016;47(5):1377–80. doi:10.1161/STROKEAHA.116.013165.
4 Vanacker P, Lambrou D, Eskandari A, Mosimann PJ, Maghraoui A, Michel P. Eligibility and predictors for acute revascularization procedures in a stroke center. Stroke. 2016;47(7):1844–9.
doi:10.1161/STROKEAHA.115.012577.
5 Jung S, Gilgen M, Slotboom J, et al. Factors that determine penumbral tissue loss in acute ischaemic stroke. Brain. 2013;136
(Pt 12):3554–60. doi:10.1093/brain/awt246.