Orthopädie und Traumatologie: Ein «Tanz» um die Nerven
Orthopädie und Traumatologie

Orthopädie und Traumatologie: Ein «Tanz» um die Nerven

Schlaglichter
Ausgabe
2017/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03168
Schweiz Med Forum 2017;17(5152):1165-1167

Affiliations
Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, Kantonsspital St. Gallen

Publiziert am 20.12.2017

Der direkte vordere Zugang zum Hüftgelenk erlangte mit dem Adjektiv «minimal-invasiv» eine Renaissance. Der ohnehin gute Ruf der Hüftprothetik wurde gerne ­allein dieser «neuen» Technik zugeschrieben. Fast ging vergessen, dass ebenfalls gute Resultate mit anderen Zugängen zum Hüftgelenk möglich sind – sich in vielen Fällen gar besser eignen.

Hintergrund

Dem Patienten in einem Aufklärungsgespräch vor der Implantation einer Hüfttotalprothese sollte man mit grösster Wahrscheinlichkeit ein gutes Resultat ­voraussagen können. Die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte in der Hüftprothetik sind enorm. Die Implantation einer Hüfttotalprothese ist zu einem Routineeingriff mit äusserst guten Resultaten geworden. Der Patient bleibt in der Regel nur noch wenige Tage hospitalisiert. Aber es gibt sie doch, die Komplika­tionen, die den betroffenen Patienten dann zu 100% treffen und der Beginn eines langen Leidensweges sein können. Es ist entscheidend, dass der Operateur neben der Operationstechnik die detaillierte Anatomie des Zugangs­gebietes kennt. Nur so kann er potenzielle Komplikationen ­sicher vermeiden.

Der vordere Hüftzugang

Der direkte vordere Zugang zum Hüftgelenk hat in der Hüftprothetik in den letzten 15 Jahren stark an Beliebtheit gewonnen. Er wird mittlerweile in der Schweiz etwa gleich häufig verwendet wie der dorsale und seitliche Zugang zum Hüftgelenk. Der vordere Hüftzugang ist der einzige Zugang zum Hüftgelenk, der sich – wenn korrekt ausgeführt – an klare anatomische Grenzen, die so­genannte «internervous plane», hält und somit zu keiner Denervation von Muskelanteilen führt. Es können sämtliche Ursprünge und Ansätze der pelvitrochanteren Hüftmuskulatur geschont werden [3]. Davon profitiert der Patient. Die Lernkurve für die Beherrschung dieses Eingriffes ist allerdings relativ flach. Bei zu forschem Vorgehen kann die Komplikationsrate erhöht sein [4]. Es wird daher empfohlen, diesen Zugang zum Hüftgelenk vorerst am Kadavermodell zu üben und bei erster Anwendung einen geübten Kollegen beizuziehen.
In Tabelle 1 sind die gängigen Zugänge zum Hüftgelenk mit ihren möglichen Komplikationen schematisch zusammengestellt. Im Falle einer Revision des Hüftgelenks stellt sich immer die Frage, inwieweit der bestehende ­Zugang bei nochmaligem Eingriff wiederverwendet oder allenfalls erweitert werden kann. Im Falle des ­vorderen Hüftzuganges ist eine distale Erweiterung nur ­beschränkt möglich [3].
Tabelle 1: Gängige Zugänge zum Hüftgelenk mit ihren möglichen Komplikationen.
 Zugang zum Hüftgelenk
DorsalLateralAnterolateral Anterior
Mögliche Komplikationen     
Nevenläsionen    
N. ischiadicus++++
N. femoralis++++
N. glutaeus superior    
 R. superior++++
 R. inferior+++++
N. cutaneus femoris lateralis +++
Muskelläsionen     
M. glutaeus medius und minimus++++
Aussenrotatoren des Hüftgelenkes++
Luxation    
Nach dorsal++++
Nach anterior++++++
Mögliche Erweiterung des Zuganges im Falle einer Revision
Nach proximalBeschränktNeinNeinJa
Nach distal JaJaJaBeschränkt
– Unwahrscheinlich, + selten , ++ gut möglich, +++ häufig

Mögliche Nervenschädigungen

Beim vorderen Zugang zum Hüftgelenk können Nerven auf drei Ebenen direkt geschädigt werden [1–3, 6].
1. Gesamte vorderer Oberschenkelmuskulatur und Haut: Nervus (N.) femoralis mit Ausfall des Musculus (M.) quadriceps femoris, eventuell eines Anteils des M. pectineus sowie des Hautareals des anterome­dialen Oberschenkels, des medialen Kniegelenkes und medialen Unterschenkels.
2. Lokaler Muskel: N. glutaeus superior (Ramus [R.] inferior) mit Ausfall des M. tensor fasciae latae.
3. Begrenztes Hautareal: N. cutaneus femoris lateralis (R. anterior und posterior) mit Ausfall des Hautareals über dem anterolateralen Oberschenkel.
Vollständigkeitshalber sei auch der N. ischiadicus erwähnt. Dieser Nerv kann beim vorderen Zugang zum Hüftgelenk nur indirekt, durch eine lagerungsbedingte Traktion, einen vermehrten Zug bei einer Beinver­längerung oder eine Kompression durch Haken oder Retraktoren, geschädigt werden. In der Mehrzahl der Fälle lässt sich die Ursache einer postoperativen Nervenläsion nicht exakt eruieren.

Läsionen des Nervus femoralis

Die wohl schwerwiegendste Komplikation bei der ­Implantation einer Hüfttotalprothese ist die Läsion des N. femoralis. Sie wird, unabhängig des Zuganges, mit ­einer Inzidenz zwischen 0,3 und 1,7% angegeben [5]. Abbildung 1 zeigt die Anatomie des N. femoralis in ­Bezug auf den vorderen Zugang zum Hüftgelenk (weis­ser Pfeil). Der N. femoralis läuft medial des M. rectus ­femoris auf dem M. psoas major und teilt sich distal des Leistenbandes in seine Äste auf. Wenige Zentimeter unterhalb der Linea intertrochanterica ziehen Muskeläste zu den Komponenten des M. quadriceps femoris. Diese ­Abgänge verunmöglichen es, den vorderen Zugang zum Hüftgelenk in direkter Linie nach distal zu erweitern [3]. Dies könnte allenfalls bei einer perioperativen Schaftsprengung des Femurs nötig werden. Der Operateur muss beim vorderen Zugang zum Hüftgelenk stets darauf achten, dass er lateral des M. rectus femoris bleibt und die Haken vorsichtig und richtig platziert. Verirrt sich der Operateur in die Region medial des M. rectus femoris, ist mit einem Schaden des N. femoralis zu rechnen. Zudem können eine Verletzung von ­Ästen der Arteria (A.) und Vena (V.) circumflexa femoralis lateralis zu Blutungen mit Hämatom führen [3], was indirekt wiederum eine Nervenläsion begünstigen kann.
Abbildung 1: Anatomie eines rechten proximalen ­Oberschenkels. Ein Wundspreizer hält das Intervall zwischen dem M. tensor fasciae latae (T) und dem M. sartorius (S) ­respektive M. rectus femoris (R) offen. Der rote Stecknadelkopf ­markiert die Aszendensgefässe der A. circumflexa femoris lateralis, die beim vorderen Zugang zum Hüftgelenk ligiert werden müssen. Das Femur ist schwarz gestrichelt dargestellt. Zur Implantation eines Hüftgelenkes müssen der ­Femurkopf reseziert und die Hüftpfanne gefräst werden. Die weisse ­gestrichelte Linie markiert den Hautschnitt für den direkten vorderen Hüftzugang, der als weisser, gebogener Pfeil dar­gestellt ist. Die Nerven sind gelb und orange dargestellt: = N. femoralis, GS = N. gluteus superior (R. inferior), CFL  = N. cutaneus femoris lateralis mit R. anterior (= R’ant) und R. posterior (R’post). Roter und blauer Pfeil = A. und V. femoralis, L = Leistenband, SP = Spina iliaca anterior ­superior, P = M. iliopsoas, VL = M. vastus lateralis. Detailliertere Angaben zur Anatomie des vorderen Zuganges finden sich in der angefügten Literatur.
Eine Femoralisläsion beeinträchtigt den Patienten schwer. Er kann das Knie nicht mehr aktiv extendieren und – klinisch bedeutsamer – die Kniebeugung nicht verhindern (exzentrische Muskelfunktion). Mit anderen Worten, der geschädigte Patient wird beim Gehen immer wieder ungewollt in die Knieflexion geraten. Er wird – erholt sich der Nerv nicht –auf eine Gehhilfe oder Stütze angewiesen bleiben und würde sich wünschen, nie in die Operation eingewilligt zu haben.

Läsion des Nervus glutaeus superior

Die Schädigung des M. tensor fasciae latae, sei dies direkt durch das operative Trauma oder indirekt durch die Läsion des Endastes des R. inferior des N. glutaeus superior, wird unterschätzt und ist wohl häufiger als angenommen [1]. Die Musculi glutei medius und minimus werden dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen. Eine Beeinträchtigung des M. tensor fasciae latae nach dem vorderen Hüftzugang wird in bis zu 30% beobachtet. Er ist ein wichtiger Flexor in der Schwung- und bedeutender Abduktor in der mittleren Standphase beim Gehen. Sein Ausfall stört den aktiven Patienten sehr. Das Balancieren auf dem betroffenen Bein ist erschwert und stört zum Beispiel beim Wandern. Allerdings kann die Funktion des M. tensor fasciae latae zum einen durch den M. rectus femoris (Flexion) und die Glutealmuskulatur (Abduktion) teilweise kompensiert werden.
Die Abbildung 1 zeigt den Verlauf des R. inferior des N. glutaeus superior am dorsalen, medialen Rand des M. tensor fasciae latae. In der oberen Hälfte des Muskels – exakt im Bereiche des Zugangsgebietes (weis­ser Pfeil) – ist der Nerv am verletzlichsten. Der N. gluteus superior läuft proximal zwischen den Musculi glutei medius und minimus und tritt distal zusammen mit dem R. ascendends der A. circumflexa femoris lateralis in einem sogenannten neurovaskulären Hilus in den M. tensor fasciae latae ein [1]. Werden die Ascendensgefässe zu nahe am Muskeleintritt koaguliert oder in diesem Bereich ein Wundspreizer unvorsichtig platziert, kann dies zu einer Schädigung des Nervs führen [1].

Läsion des Nervus cutaneus femoris lateralis

Eine Schädigung gewisser Seitenäste des N. cutaneus femoris lateralis lassen sich in einem Drittel der Fälle – immer dann wenn ein sogenannter «Fan-Type» (multiple, besenförmige Aufteilung des N. cutaneus femoris lateralis) vorliegt – nicht vermeiden [6]. Je nachdem, welche Anteile des N. cutaneus femoris lateralis gestört werden, führt dies zu einem meist temporären Taubheitsgefühl am anterolateralen Oberschenkel (R. anterior) oder im Bereiche des lateralen Gesässes (R. posterior). Diese Komplikation ist zwar nicht schwerwiegend – die Funktion des Hüftgelenkes wird dadurch nicht eingeschränkt –, kann aber in gewissen Fällen stark störend sein. Meistens erholen sich die Hautnerven vollständig oder werden durch andere Hautnerven kompensiert.
Die Abbildung 1 zeigt einen Verlauf des N. cutaneus ­femoris lateralis. Durch die geeignete Wahl des Hautschnittes (weisse gestrichelte Linie) können die Rami anterior und posterior problemlos geschont werden. Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Nerven auf dieser Höhe stets in der tiefen Subkutanschicht (unterhalb der «membranous layer of the superficial fascia») laufen [6]. Zusammen mit der tiefen Subkutanschicht können die Hautnerven somit zur Seite gehalten werden.

Diskussion

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der direkte vordere Zugang zum Hüftgelenk sehr muskelschonend durchgeführt werden kann. Der Zugang ist deshalb bei Patienten wie Operateuren beliebt. Mit der richtigen Technik wird der erfahrene Operateur weder die lokale pelvitrochantere Muskulatur noch die Innervation zur Quadrizepsmuskulatur beeinträchtigen. Genaue Kenntnisse der Anatomie sind dabei sehr wichtig.
Dennoch lassen sich Schäden im Versorgungsgebiet der lokalen Haut am anterolateralen Oberschenkel in einem Drittel der Fälle nicht sicher vermeiden [6]. Auch wenn dies keine gravierende Komplikation darstellt, können Missempfindungen den Patienten vorübergehend empfindlich stören. Der Patient sollte darüber aufgeklärt werden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen ­Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Karl Grob, PhD
Stv. Chefarzt,
Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates
Leiter Hüftchirurgie & ­Consultant für Knieprothetik
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95
CH-9007 St. Gallen
karl.grob[at]kssg.ch
1 Grob K, Manestar M, Ackland T, Filgueira L, Kuster MS. Potential Risk to the Superior Gluteal Nerve During the Anterior Approach to the Hip Joint: An Anatomical Study. J Bone Joint Surg Am 2015;97(17):1426–31.
2 Grob K, Monahan R, Gilbey H, Ackland T, Kuster MS. Limitations of the Vastus Lateralis Muscle as a Substitute for Lost Abductor Muscle Function: An Anatomical Study. J Arthroplasty 2015;30(12):2338–42.
3 Grob K, Monahan R, Gilbey H, Yap F, Filgueira L, Kuster M. Distal Extension of the Direct Anterior Approach to. J Bone Jt Surg 2015:126–132.
4 Jewett BA, Collis DK. High complication rate with anterior total hip arthroplasties on a fracture table. Clin Orthop Relat Res. 2011;469(2):503–7.
5 Moore AE, Stringer MD. Iatrogenic femoral nerve injury: a systematic review. Surg Radiol Anat. 2011;33(8):649–58.
6 Rudin D, Manestar M, Ullrich O, Erhardt J, Grob K. The Anatomical Course of the Lateral Femoral Cutaneous Nerve with Special Attention to the Anterior Approach to the Hip Joint. J Bone Joint Surg Am. 2016;98(7):561–7.