Eine ungewöhnliche Asthenieursache
Nebenwirkung unter immunmodulierender Therapie

Eine ungewöhnliche Asthenieursache

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2018/25
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03274
Swiss Med Forum. 2018;18(25):540-543

Affiliations
a Service de médecine interne, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne; b Service de médecine interne, Groupement Hospitalier de l’Ouest Lémanique (GHOL), Nyon; c Service d’oncologie médicale, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne; d Service de médecine interne, Hôpital de Saint-Loup, Etablissements Hospitaliers du Nord Vaudois (EHNV)
* Die beiden Autorinnen waren zu gleichen Teilen an der Entstehung dieses Beitrags beteiligt.

Publiziert am 20.06.2018

Ein 51-jähriger, wegen eines superfiziell spreitenden Melanoms bekannter Patient konsultierte uns aufgrund wiederholter Beschwerden mit einer synkopischen Episode und seit einem Monat fortschreitender Asthenie.

Fallbeschreibung

Ein 51-jähriger Patient, der uns aufgrund eines super­fiziell spreitenden Melanoms (SSM) am rechten Schulterblatt mit BRAF-Mutation bekannt war, welches anfangs als pT4b pN2b cM0 klassifiziert wurde und sekundär Metastasen bildete, kam in unser Spital. Er war zunächst mit Vemurafemib (einem Serin-Threonin-Kinase-BRAF-Inhibitor) und später aufgrund einer Progression unter der Initialtherapie mit Ipilimumab (einem CTLA-4-Antikörper) behandelt worden. Der ­Patient konsultierte uns aufgrund wiederholter Beschwerden mit einer synkopischen Episode und seit ­einem Monat fortschreitender Asthenie. Die zuhause erfolgte Blutdruckmessung mit systolischen Werten von <95 mm Hg weist auf eine Hypotonie hin.
Klinisch befindet sich der Patient in reduziertem All­gemeinzustand und ist afebril mit einem arteriellen Blutdruck von 105/65 mm Hg, einem Puls von 95/min und einer Sauerstoffsättigung unter Raumluft von 98%. Die übrige klinische Untersuchung ergibt, mit Ausnahme der bekannten Hautläsionen, keine weiteren Befunde.
In der initialen Laboruntersuchung findet sich eine akute Niereninsuffizienz des AKIN-Stadiums 1 (Krea­tininwert von 150 μmol/l) mit Natrium- und Kaliumwerten im Normbereich. Das kleine Blutbild ist unauffällig mit einem Hämoglobinwert von 160 g/l. Das EKG zeigt einen Sinusrhythmus ohne Repolarisations- oder Leitungsstörungen.

Frage 1: Welche Diagnose erscheint Ihnen in diesem Stadium am wahrscheinlichsten?


a) Schwere Sepsis
b) Lungenembolie
c) Herztamponade
d) Nebenniereninsuffizienz
e) Gastrointestinale Blutung
Das Fehlen eines klinischen Herdbefundes, von Fieber und Entzündungszeichen sowie die progressive Sym­ptomentwicklung sprechen gegen eine infektiöse Ursache. Das Auftreten einer Synkope ohne Entsättigung und Dyspnoe sowie der progressive Symptombeginn lassen nicht auf eine Lungenembolie schliessen. Obgleich ein Perikarderguss mit Herztamponade zu den möglichen Komplikationen eines Melanoms zählt, ­leidet der Patient weder an Dyspnoe, noch an einem kompatiblen klinischen Erscheinungsbild, wie einer Tachykardie oder einer Halsvenenstauung. Auch das EKG deutet nicht auf eine Herztamponade hin. Eine Progression der Krebserkrankung könnte bei hypophysären (sekundäre Nebenniereninsuffizienz) oder beidseitigen Nebennierenmetastasen (primäre Nebenniereninsuffizienz) zu einer symptomatischen Hypotonie führen. Da die Hypotonie nicht stark ausgeprägt und der Elektrolyt­haushalt nicht gestört ist, muss zunächst an eine sekundäre Nebenniereninsuffizienz ohne Auswirkungen auf die Mineralokortikoidachse gedacht werden. Eine gas­trointestinale Blutung erscheint aufgrund eines Hämoglobinwerts von 160 g/l und fehlenden Bluterbrechens unwahrscheinlich.

Frage 2: Welches diagnostische Vorgehen ist am wenigsten zielführend?


a) Die Anfertigung einer CT Abdomen
b) Die Bestimmung des basalen ACTH-Werts
c) Die Bestimmung des basalen Cortisolwerts
d) Die Bestimmung der Werte der anderen Hypophysenachsen
e) Die Anfertigung einer Schädel-MRT
Nach Ausschluss von Hypotonieursachen wie Sepsis, Herztamponade oder Lungenembolie erscheint es uns sinnvoll zu prüfen, ob eine Störung der Nebennierenachse vorliegt. Der basale Cortisolwert liegt unterhalb der Nachweisgrenze, was auf eine Nebenniereninsuffizienz schliessen lässt.
Es ist nicht immer möglich, mittels Synacthen®-Test zwischen einer primären oder sekundären Neben­niereninsuffizienz zu unterschieden, da das Resultat sowohl bei primärer als auch bei seit Langem bestehender sekundärer Nebenniereninsuffizienz positiv ausfällt. Daher ist ebenfalls eine Bestimmung des basalen ACTH-Werts (Adrenokortikotropin) erforderlich. Bei unserem Patienten ist dieser Wert erniedrigt (4 ng/l; Normwert: 10–60 ng/l während 8 Stunden), was auf eine hypophysäre Ursache hinweist. Folglich ist die Anfertigung einer Computertomographie (CT) des Abdomens in diesem Fall unnötig. Da unser Pa­tient an einer sekundären Nebenniereninsuffizienz leidet, muss eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels angefertigt werden, um nach einer Hypophysenstörung zu suchen. Differentialdiagnosen wären in diesem Fall eine durch die Immuntherapie bedingte Hypophysitis sowie eine Metastasenbildung.
In der Schädel-MRT lässt sich eine Hypophysitis (Abb. 1) nachweisen, die als Nebenwirkung der Ipilimumab-Behandlung beschrieben wird. Vor diesem Hintergrund muss auch nach einer Störung der anderen Hypophysenachsen gesucht werden (Bestimmung des TSH-Werts [Thyreoidea-stimulierendes Hormon], des freien T4, FSH [follikelstimulierendes Hormon], LH [luteinisierendes Hormon], Testosteron, Prolaktin, IGF-1 [Insulin-like growth factor 1]).
Abbildung 1: Schädel-MRT des Patienten mit Anzeichen einer Hypophysitis: ­Verdickung des distalen Endes des Hypophysenstiels, Wölbung des Diaphragma sellae und ­vergrösserte Adenohypophyse.

Frage 3. Welche Therapie schlagen Sie vor?


a) Fortsetzung der Ipilimumab-Behandlung und Kortikosteroid­therapie als Substitutionsdosis
b) Unterbrechung der Ipilimumab-Behandlung
c) Unterbrechung der Ipilimumab-Behandlung und hochdosierte Kortikosteroidtherapie
d) Unterbrechung der Ipilimumab-Behandlung und Kortiko­steroidtherapie als Substitutionsdosis
e) Mineralkortikoidbehandlung
Die Behandlung der durch Ipilimumab hervorgerufenen Hypophysitis besteht in einer hochdosierten Kortiko­steroidtherapie (in der Literatur werden verschiedene Dosierungsschemata beschrieben), um der Entzündungsreaktion entgegenzuwirken. Bei weiterhin bestehender Nebenniereninsuffizienz erfolgt die Gabe einer Substitutionsdosis. Eine Mineralkortikoidbehandlung ist nicht erforderlich, da die Aldosteronproduktion vom Renin-Angiotensin-Aldosteron-System abhängig und folglich bei einer sekundären Nebenniereninsuffizienz nicht gestört ist. Ob Ipilimumab abgesetzt werden muss, ist von der Schwere der Symptome abhängig. Im hier beschriebenen Fall wurde das Medikament dauerhaft abgesetzt. Überdies stellten wir bei unserem Pa­tienten eine kaum symptomatische Verringerung des Testosteronwerts fest, weshalb eine Substitution nicht empfehlenswert ist.

Frage 4: Welche Prognose würden Sie stellen?


a) Tödlicher Ausgang
b) Mögliche Korrelation zwischen den Nebenwirkungen und der Wirksamkeit der Behandlung
c) Schlechte onkologische Prognose aufgrund des Absetzens der immunmodulierenden Therapie
d) Erholung der Nebennierenrindenachse
e) Eine Erholung der gonadotropen ist unwahrscheinlicher als eine Erholung der Nebennierenrindenachse
Bei Erkennen der immunologischen Komplikation, die im Durchschnitt neun Wochen nach Behandlungs­beginn auftritt, ist ein tödlicher Ausgang sehr unwahrscheinlich. Die immunologischen Nebenwirkungen, aufgrund deren die Ipilimumab-Therapie abgesetzt und eine Kortikosteroidbehandlung begonnen werden muss, scheinen die Prognose des Patienten nicht zu verschlechtern [1].
Überdies scheint sogar eine positive Korrelation zwischen dem Auftreten immunologischer Nebenwirkungen und der Wirksamkeit der Immuntherapie zu bestehen. Beim Auftreten schwerer Nebenwirkungen wäre diese noch stärker [2].
Die Erholung der Nebennierenrindenachse kann erst später beurteilt werden und fünf oder mehr Monate dauern. Eine Nebenniereninsuffizienz ist nur selten reversibel. Daher ist oftmals eine Fortsetzung der Kor­tikosteroidgabe als Substitutionsdosis erforderlich [3]. Eine Erholung der gonadotropen und thyreotropen Achse kommt hingegen häufiger vor.
Im vorliegenden Fall blieb die onkologische Progression trotz des Absetzens von Ipilimumab mehrere Jahre lang stabil. Aus endokrinologischer Sicht ist in der MRT eine gute Ausheilung der Hypophysenentzündung sichtbar. Die Nebennierenrindenachse hat sich jedoch nicht erholt, weshalb der Patient weiterhin eine Kortikosteroidbehandlung als Substitutionsdosis erhält. Die gonadotrope Achse hat sich hingegen spontan erholt.

Frage 5: Welche Organe können von immunologischen Nebenwirkungen immunmodulierender Behandlungen betroffen sein?


a) Das Verdauungssystem
b) Die Nieren
c) Die Lungen
d) Die Haut
e) Alle oben genannten Antwortmöglichkeiten
Immunologische Nebenwirkungen («immune-related adverse events» [irAEs]) können alle Organsysteme betreffen und werden entsprechend ihres Schweregrads von 1 bis 5 (von leichten Nebenwirkungen bis hin zum Todesfall) eingestuft. Sie sind zum Teil dosisabhängig.
Am häufigsten treten Haut- oder Verdauungsbeschwerden geringer Intensität auf. In Tabelle 1 sind ­einige Nebenwirkungen an verschiedenen Organen aufgeführt.
Tabelle 1: Nicht erschöpfende Zusammenfassung verschiedener in der Literatur im Zusammenhang mit der Ipilimumabbehandlung beschriebener Nebenwirkungen [2, 5].
SystemAnzeichen und SymptomeHäufigkeit
HautPruritusCa. 50%
Hautausschlag
Vitiligo
Stevens-Johnson-Syndrom/­toxische ­epidermale NekrolyseSelten
VerdauungstraktDiarrhoe30%
Kolitis5%
LeberErhöhte Transaminasewerte<10%
EndokrinologieHypophysitis1,5–6% 
(schwer <2%)
Thyreoiditis2–4%
Primäre NebenniereninsuffizienzSelten
LungeLungenentzündung<3%
AugenEpiskleritis, Uveitis, Konjunktivitis, ­ulzerierende Keratitis<1%
NierenAkute Niereninsuffizienz<1%
NeurologiePeriphere Neuropathie: 
– Motorische periphere Neuropathie
– Sensible periphere NeuropathieSelten (<1%)
Myasthenia gravis
Guillain-Barré-Syndrom
Aseptische Meningitis
HämatologieMedulläre AplasieSelten
Neutropenie
Thrombozytopenie
Hämophilie A
Da die irAEs ein sehr breites Spektrum klinischer Manifestationen aufweisen, von denen jedes Organ unterschiedlich stark betroffen sein kann, ist es wichtig, dass Ärzte diese bei der Differentialdiagnostik berücksich­tigen. Mitunter ist es schwierig, ein irAE von einer anderen Diagnose zu unterscheiden. Daher ist es wichtig, multidisziplinär vorzugehen.

Diskussion

Immunmodulierende Therapien wie Ipilimumab kommen bei der Behandlung metastasierender Melanome zunehmend häufiger zum Einsatz.
Ipilimumab verstärkt die Immunreaktion gegen den Tumor, indem es die Inhibition der zytotoxischen T-Zellen durch den CTLA-4-Rezeptor hemmt.
Zu Beginn der Behandlung kann es in Zusammenhang mit der lokalen Entzündungsreaktion vorübergehend zum Wachstum des Tumors kommen. Daher mussten die üblichen radiologischen Kriterien zur Beurteilung des Ansprechens auf die Therapie (RECIST-Kriterien) entsprechend angepasst werden («immune-related response criteria» [irRC]) [3, 4].
Immunmodulierende Therapien sind im Aufwind begriffen und gehen mit irAEs einher. Die Kenntnis der mit den antitumoralen Immuntherapien einhergehenden Komplikationen ist umso wichtiger, da die Wirksamkeit und Indikation dieser Behandlungsform rasch zunehmen. Die Ziele der Wirkstoffe sind zahlreich: zu den CTLA-4- kommen PD-1-, PD-L1- sowie weitere noch in der Studienphase befindliche Antikörper.
Angesichts des immer häufigeren Einsatzes dieser Behandlungen ist es wichtig, dass Grundversorger bezüglich immunologischer Nebenwirkungen sensibilisiert sind, um diese diagnostizieren und schnellstmöglich wirksam behandeln zu können.
Die Therapie von Nebenwirkungen im Zusammenhang mit Ipilimumab beruht auf einer symptomatischen Behandlung bei Schweregrad 1 und einer Unterbrechung der Behandlung bei Nebenwirkungen vom Schweregrad 2, welche nach dem Abklingen der Symptome fortgesetzt wird. Kommt es eine Woche nach dem Absetzen der immunmodulierenden Therapie zu keiner Besserung, wird mit einer Kortikosteroidbehandlung begonnen. Bei Symptomen ≥ Schweregrad 3 muss Ipilimumab unverzüglich abgesetzt und eine hochdosierte Kortikosteroidtherapie (1–2 mg Methylprednisolon pro kg, anschliessend Prednison p.o., in der Literatur werden verschiedene Dosierungsschemata beschrieben) begonnen werden.

Schlussfolgerungen

Bei der onkologischen Behandlung kommen immer häufiger immunmodulierende Therapien zum Einsatz, die verschiedene Nebenwirkungen haben, die früh­zeitig festgestellt werden müssen. Durch eine schnelle und richtige Behandlung können die mit diesen Medikamenten einhergehende Morbidität und Mortalität verringert werden. Es muss jedoch auch die positive Korrelation betont werden, die zwischen immunolo­gischen Nebenwirkungen und der Wirksamkeit der Immuntherapie besteht.

Antworten


Frage 1: d. Frage 2: a; Frage 3: c; Frage 4: b; Frage 5: e.
Die Autoren danken Prof. Dr. med. Hagmann (Institut für Radiodia­gnostik und interventionelle Radiologie, CHUV) für die Beurteilung des Falles und die Abbildungen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Giulia Paganetti, dipl. Ärztin
Service de médecine interne
Centre hospitalier
universitaire vaudois
Rue du Bugnon 46
CH-1011 Lausanne
giulia.paganetti[at]chuv.ch
1 Weber J. Controversies in its development, utility and autoimmune adverse events. Cancer Immunol Immunother. 2009;58(5):823–30.
2 Kähler KC, Hassel JC, Heinzerling L, Loquai C, Mössner R, Ugurel S, et al. Management of side effects of immune checkpoint blockade by anti-CTLA-4 and anti-PD-1 antibodies in metastatic melanoma. J Dtsch Dermatol Ges. 2016;14(7):662–81.
3 Weber JS, Kähler KC, Hauschild A. Management of immune-related adverse events and kinetics of reponse with Ipilimumab. J Clin Oncol. 2012;30(21):2691–7.
4 Kähler KC, Hauschild A. Treatment and side effect management of CTLA-4 antibody therapy in metastatic melanoma.
J Dtsch Dermatol Ges. 2011;9(4):277–86.
5 Postow M, Wolchok J. Toxicities associated with checkpoint inhibitor immunotherapy. Post TW, ed. UpToDate. Waltham, MA: UpToDate Inc.