Prävention und Gesundheitswesen: Digitale Epidemiologie – eine neue Zeit ist angebrochen!
Prävention und Gesundheitswesen

Prävention und Gesundheitswesen: Digitale Epidemiologie – eine neue Zeit ist angebrochen!

Schlaglichter
Ausgabe
2018/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03128
Schweiz Med Forum 2018;18(0102):31-33

Affiliations
ZHAW, Department Gesundheit, Institut für Gesundheitswissenschaften, Winterthur
Kantonsärztlicher Dienst, Gesundheitsdirektion Zürich, Zürich

Publiziert am 03.01.2018

Digitale Epidemiologie ist ein «hot topic»! Was bedeutet sie für «Public Health»? Neue Methoden können bereichernd sein für unser Verständnis von Epidemien, Gesundheitsverhalten und -determinanten sowie die Versorgung der Bevölkerung.

Einführung

Fachärztinnen und Fachärzte für «Prävention und Gesundheitswesen» oder schlichtweg für «Public Health» befassen sich traditionell mit der Epidemiologie von Erkrankungen, deren Determinanten und Verbreitung in Bevölkerungen. Gesundheitsförderung, Prävention oder Gesundheitsmonitoring und Systementwicklung, all diese Prozesse brauchen Daten, die erhoben, analysiert und interpretiert werden müssen, um eine nachhaltige und ganzheitliche Bevölkerungsgesundheit zu gewährleisten. Im digitalen Zeitalter stehen auf einmal sehr viele Gesundheitsdaten elektronisch zur Verfügung, die Auskunft geben über den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Die Fachärzteschaft «Prävention und Gesundheitswesen» hat sich anlässlich einer gemeinsamen Fortbildung mit der Vereinigung der Kantonsärztinnen und -ärzte der Schweiz am 17. November 2016 mit Experten dazu ausgetauscht (Antoine Flahault, Institute of Global Health; Séverine Rion Logean, Swiss Re; Marcel Salathé, EPFL; Dr. Olivia Woolley, EPFZ). Die Anzahl an Veranstaltungen zum Thema, die in den darauffolgenden Monaten allein in der Schweiz stattfanden, weisen ebenso wie die steigende Anzahl an Publikationen von 84 im Jahr 2000 auf fast 500 im Jahr 2016 darauf hin: digitale Epidemiologie ist ein «hot topic». Doch was bedeutet digitale Epidemiologie? Und welche Konsequenzen hat sie für «Public Health»?

Digitale Epidemiologie

Die digitale Epidemiologie macht sich «Big Data» zu Nutzen und erforscht die Unmengen von Daten, welche sich auf Grund der modernen Kommunikation und Technologie digital ansammeln, um Auskunft über den Gesundheitszustand der Bevölkerung und das Auftreten von Krankheiten zu erhalten. Millionen von Menschen gebrauchen heute täglich das Internet oder ihr Mobiltelefon und hinterlassen Spuren im Netz und in Netzwerken. Diese Spuren geben Auskunft, wo sich Menschen aufhalten, aber auch darüber, was sie beschäftigt, wen sie treffen und welchen Lebensstil sie pflegen. Insbesondere die Sozialen Medien, aber auch Google-Anfragen oder Twitter-Einträge können sehr ergiebige Informanten sein. Web-basiertes «data mining» ist deswegen in der Industrie bereits weit verbreitet. Die digitale Epidemiologie kann sich dieser Datenvielfalt ebenfalls zu Nutzen machen [1, 2]. Daten zu Mobilität und Verhalten ermöglichen ein «social tracking», welches die Kontakte und Bewegungen aufzeichnet. Diese Daten können in Bezug zu anderen Daten gesetzt werden («data linkage»), beispielsweise mit den Verkaufszahlen von gewissen Medikamenten. So liessen sich Nebenwirkungen, Therapie, Compliance oder Verbraucherinformationen untersuchen. Aus den Nutzerdaten von Suchmaschinen lassen sich unter ­anderem Rückschlüsse ziehen zu den aktuellen Gesundheitsfragen und -sorgen von Bevölkerungen. Das kontinuierliche und zeitnahe Abbilden von Gesundheitsverhalten und Gesundheitsthemen anhand einer systematischen Analyse der Einträge in sozialen Medien kann zur Überwachung von infektiösen Erkrankungen herangezogen werden und aufwendige Umgebungs­untersuchungen («contact tracing») vereinfachen. Ein möglicher Nutzen kann ein digitales Frühwarnsystem für Fachleute oder Bevölkerungsgruppen sein. Ein bekanntes Beispiel ist Google Flu: anhand der Suchan­fragen Grippe und Grippesymptomen aus den Jahren 2003–2008 konnte die Pandemie 2009 vorhergesagt werden [3]. Aufgrund der Un-Spezifität von Grippesymptomen besteht jedoch eine hohe Fehlerwahrscheinlichkeit. Die Bewirtschaftung von «Google Flu Trends» wurde deshalb wieder eingestellt. Ein aktuelles Beispiel ist Influenza.net, ein Europäisches Netzwerk, welches Freiwillige um die Meldung ihrer Symptome bittet (www.influenzanet.eu). Der Schweizer Partner weist aktuell 822 Registrierte und 6741 Datensätze auf ­(https://de.grippenet.ch).
Global ist der grösste Anteil von Morbidität und Mortalität auf nicht-übertragbare Erkrankungen und psychische Erkrankungen zurückzuführen. Gesundheitsrisiken treten in Clustern auf, sie sind in bestimmten Gruppierungen oder Orten häufiger als in anderen. Diese Cluster lassen sich auch mit den Web-basierten oder sozialen Medien-Daten darstellen. Zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung, Prävention und Kommunikation ist mit detaillierterem und aktuellem Wissen zu den Hintergründen und Prozessen von Verhalten und Meinungsbildung zu Präventionsempfehlungen oder Interventionen noch besser möglich. Auch lassen sich diese Daten zur Erforschung von schützenden oder begünstigenden Determinanten von Erkrankungen verwenden. Digitale Daten stehen zunehmend auch interessierten Bürgern zur Verfügung. Eigene Daten können von Gesundheits-Apps gesammelt, selber genutzt, mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin sowie mit einer digitalen Gemeinschaft geteilt werden (www.midata.coop/). Reichhaltige Informationen zu Gesundheit und Krankheitsvorkommen und -symptomen stehen auf diversen Internet-Plattformen Tag und Nacht bereit. Vielleicht gehört ein Blick auf die Health map (https://www.healthmap.org/en/, Abb. 1), einer Internetseite, die über Krankheitsherde und Epidemien auf der ganzen Welt informiert, in Zukunft zur Vorbereitung einer jeden Urlaubsreise? Für die Gesundheitssystem-Planung hingegen kann die digitale Epidemiologie Bedürfnisse von Bevölkerungsgruppen erfassen und so die medizinischen Angebote anpassen. Global gesehen besteht eine Chance, dem Ziel einer gesundheitlichen Chancengleichheit ein wenig näher zu kommen. Der Zugang zum Internet ist selbst in medizinisch unterversorgten Ländern sicherer als viele andere existentiellen Bedürfnisse. So ermöglicht dieser Zugang Anschlussmöglichkeiten an neue medizinische und epidemiologische Informationen, an Fachpersonen und Therapie-Empfehlungen und damit eine bessere medizinische Versorgung und Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Doch auch gegen gesundheitliche Ungleichheiten in industrialisierten Ländern kann mittels digitaler Mittel und Daten Abhilfe geschaffen werden [4].
Abbildung 1: «Gastrointestinal alerts-healthmap» (Quelle: https://www.healthmap.org/en /, abgerufen am 13. Oktober 2017. Abdruck mit ­freundlicher ­Genehmigung.).
Ersetzt die digitale Epidemiologie nun das traditionelle Sammeln von Daten, die nationalen Gesundheitssurveys und die «Public Health Surveillance»? Werden wir in Zukunft nur noch digital Prävention betreiben? Ganz so weit sind wir (noch) nicht, wenngleich digitale Daten und Mittel schon heute eine nutzbringende Ergänzung sein könnten. Obwohl viele Anwendungen bereits erprobt und umgesetzt werden, stehen noch viele Fragen im Raum und bestehen erhebliche Limitierungen. Insbesondere die noch ungeklärten Fragen zur Nutzung und dem Besitz digitaler Daten. Viele ethische Aspekte der Verwendung dieser grossen Datenflut, unserer Spuren, die wir ungewollt, ungefragt und vielleicht auch unbewusst im Netz hinterlassen, sind noch nicht gelöst. Fragen, die in der Schweiz aktuell im Zusammenhang mit «eHealth» und «mHealth» intensiv diskutiert werden. Es liegen wohl auch noch methodische Limitierungen vor. Die Zuverlässigkeit der digitalen Daten muss geprüft werden. Es stellt sich die Frage nach der Repräsentativität der Daten, die auf Webseiten oder Twitter entstehen oder aus sozialen Netzwerken und anderen Quellen stammen. Ungeklärt ist, wie «echte» Daten von «falschen» unterschieden werden können, oder wie gross das Risiko einer Manipulation der Daten ist. Auch die Evidenz, dass Präven­tionsprojekte, die «digital gehen» («go digital»), besser funktionieren als althergebrachte Methoden, ist noch nicht ausreichend erbracht. Eine weitere Limitierung ist das unzureichende Fachwissen und die fehlende Kompetenz zu digitaler Epidemiologie im «Public Health»-Sektor sowie zur Nutzung digitaler Medien für und von Patienten in der klinischen Medizin, um die Chancen der digitalen Zeit zu nutzen und die Risiken richtig einschätzen zu können. Die Frage, wie sich die Digitalisierung auf die Arzt-Patienten-Beziehung auswirkt, ist u.a. aktuell Gegenstand eines Forschungsprogramms der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (www.samw.ch/de/Foerderung/Kaethe-Zingg-Schwichtenberg-Fonds.html).

Outlook

Weder «Public Health» noch die klinische oder personalisierte Medizin werden an der Digitalisierung der Gesundheitsdaten vorbeikommen. Wichtig wäre, dem Zug nicht hinterherzurennen, sondern in der Lokomotive zu sitzen und für die Patienten und Bevölkerungen den gesundheitlich besten und nicht-kommerziellen Nutzen aus den neuen Möglichkeiten zu ziehen. Dies verlangt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der digitalen Epidemiologie und der digitalen Möglichkeiten der Fachpersonen im Gesundheits- sowie im Bildungssektor. Digitale Kompetenzen in «Public Health» und Klinik sind deshalb auf allen medizinischen Bildungsebenen zu integrieren und zu lehren.
Die Autorinnen haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Julia Dratva
Technikumstrasse 71
Postfach
CH-8401 Winterthur
julia.dratva[at]zhaw.ch
1 Salathé M, Bengtsson L, Bodnar TJ, et al. Digital epidemiology.
PLoS Comput Biol. 2012;8:e1002616.
2 Makri A. Robert Koch Institut: towards digital epidemiology.
Lancet. 2017;390(10097):833.
3 Ginsberg J, Mohebbi MH, Patel RS, Brammer L, Smolinski MS, Brilliant L. Detecting influenza epidemics using search engine query data. Nature. 2009;457:1012–4.
4 Graham GN, Ostrowski M, Sabina AB. Population health-based approaches to utilizing digital technology: a strategy for equity. J Public Health Policy. 2016;37:154–66.