Radiologie: MR-Neurographie – den Schmerzen auf der Spur
Radiologie

Radiologie: MR-Neurographie – den Schmerzen auf der Spur

Schlaglichter
Ausgabe
2018/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03167
Schweiz Med Forum 2018;18(03):61-64

Affiliations
Diagnostische und Interventionelle Radiologie, UniversitätsSpital Zürich
* Beide Autoren haben zu gleichen Teilen zum Manuskript beigetragen.

Publiziert am 17.01.2018

Die MR-Neurographie hilft durch unmittelbare Aussagen über die Struktur und ­Beschaffenheit des peripheren Nervensystems die Lücke im bisherigen Instrumentarium zur Diagnostik neuropathischer Nervenleiden zu schliessen.

Hintergrund

Die MR-Neurographie (MRN) ist ein auf der Magnetresonanztomographie (MRT) basierendes Verfahren zur Bildgebung der Nervenplexus und der peripheren Nerven. Durch dezidierte MRT-Sequenzen und spezielle, flexible Oberflächenspulen können hochaufgelöste Bilder angefertigt werden, die in vivo Einblicke in das periphere Nervensystem (PNS) ermöglichen. Für eine valide Diagnosestellung sind neben den technischen Voraussetzungen, eine exakte Planung der Unter­suchung, Kenntnisse der möglichen Differentialdia­gnosen des PNS und vor allem auch eine enge Zusammenarbeit mit den klinischen Kollegen notwendig.

Diagnostischer Zusatznutzen

Die diagnostischen Grundlagen bei Verdacht auf eine ­Erkrankung des PNS sind die Anamneseerhebung ­sowie die klinisch-neurologische Untersuchung. Zur ­Eingrenzung von Differentialdiagnosen schliesst sich ­daran meist eine neurophysiologische Funktions­diagnostik an. Diese umfasst in der Regel die Nadelelektromyographie (EMG), die motorische und sensible Elektroneurographie (ENG), die Messung evozierter ­Potenziale (EP) und die quantitative sensorische Testung (QST).
In den meisten Fällen sind diese Verfahren zur korrekten Diagnosestellung und Verlaufskontrolle ausreichend. Dennoch zeigen sich mitunter diagnostische Lücken. So ist eine Lokalisationsdiagnostik vor allem an proximalen, elektrophysiologisch schwer zugäng­lichen Nervensegmenten nur indirekt und nicht punktgenau möglich. Die Differenzierung zwischen mono­fokalem und multifokalem Geschehen kann hierbei schwierig sein, ist jedoch von therapieentscheidender Relevanz. Weiterhin können meist keine unmittel­baren Aussagen über die Ätiologie einer Nervenläsion, beispielsweise Entzündung oder Kompression, getroffen werden.
Bildgebende Verfahren wie die MRN, und mit Einschränkungen auch die Neurosonographie, ermöglichen hingegen unmittelbare Aussagen über die Struktur und Beschaffenheit des PNS, über die innervierte Muskulatur und die umgebenden anatomischen Verhältnisse. Die hochauflösende MRN im Speziellen kann die routinemässige Diagnostik um folgende wichtige Informationen ergänzen [1, 2]:
– direkte, exakte und räumliche Lokalisation der Nervenläsionen;
– Aufzeigen eines Läsionsmusters (Unterscheidung zwischen einem mono- und multifokalen Geschehen);
– Darstellung der Ursache einer Nervenläsion und dadurch schnellere ätiologische Abklärung der Pathologie;
– Beurteilung des Nerven auf faszikulärer Ebene.

Indikationen

Darstellung der Plexus und proximaler ­Nervenstrukturen

Klinische und neurophysiologische Untersuchungen ermöglichen oftmals eine nur ungenaue Lokalisation von Nervenläsionen. Dies trifft insbesondere auf schwer zugängliche proximale Nervensegmente wie die Arm- und Beinplexus, Nervenwurzeln und andere unmittelbar angrenzende Nervenstrukturen zu. Der klinische Verdacht auf eine Plexopathie stellt somit eine wichtige Indikation für eine hochauflösende MRN dar. Weiterhin lässt die MRN spezifische Aussagen über die Ursache der Läsion zu – so kann beispielsweise zwischen tumorösen Prozessen, multifokal inflammatorischen Geschehen und Kompressionen unterschieden werden [3, 4].

Fallbericht neurogenes Thoracic-Outlet-­Syndrom (neurogenes TOS; Abb. 1)

Abbildung 1: A) Sagittale MR-Neurographie-Aufnahme. Vergrösserter Processus transversus mit akzessorischer Halsrippe des HWK 7 (*) mit Kontakt zur 1. Rippe, welche den supraklavikulären Plexus brachialis (Pfeil) komprimiert. Als Folge der Kompression ist der supraklavikuläre Plexus brachialis fokal verdickt und signalgesteigert (Pfeil). 
B) Computertomographie der Halswirkbelsäule mit 3D-Rekonstruktion der knöchernen Strukturen: Der Pfeil zeigt auf die bereits in der MRN nachgewiesene Halsrippe des HWK 7 links.
26-jährige Patientin mit diskreter Atrophie der medianusversorgten Thenarmuskulatur und diskreter Parese der ulnarisversorgten, intrinsischen Handmuskulatur auf der linken Seite. Die erhobenen klinischen und neurophysiologischen Befunde ergaben den Verdacht auf ein neurogenes Thoracic-Outlet-Syndrom. Die Patientin wurde mit der Fragestellung nach einer Läsion im Plexus brachialis respektive zur anatomischen Evaluation desselben der MRN zugewiesen. In der sagittalen MRN (Abb. 1A) konnte auf der linken Seite ein vergrösserter Processus transversus mit akzessorischer Halsrippe des Halswirbelkörpers (HWK) 7 mit Kontakt zur 1. Rippe nachgewiesen werden, welche den supraklavikulären Plexus brachialis komprimiert. Als Folge der Kompression ist der supraklavikuläre Plexus brachialis fokal verdickt und signalgesteigert (Pfeil). Zur operativen Planung wurde eine Computertomographie der Halswirkbelsäule (HWS) mit 3D-Rekonstruktion der knöchernen Strukturen angefertigt (Abb. 1B). In dieser zeigt sich die bereits in der MRN nachgewiesene Halsrippe des HWK 7 links.

Faszikuläre Nervenläsionen

Nervenfasern und Faszikel sind im peripheren Nerven somatotop angeordnet. So verlaufen Nervenfasern, die eine Muskelgruppe innervieren, bereits proximal benachbart im Nerv und behalten diese Ordnung im gesamten Nervenverlauf bei [2]. Diese Somatotopie im peripheren Nerven hat zur Folge, dass eine proximale Schädigung eines einzelnen Faszikels zu einem Ausfall des weiter distal gelegenen Kennmuskels führen kann. Diese Läsionen auf faszikulärer Ebene sind neurophysiologisch nur schwer zu diagnostizieren.

Kompressionsneuropathien unklarer Ätiologie

Kompressionsneuropathien wie beispielsweise das Karpaltunnelsyndrom lassen sich meist hinreichend mithilfe klinischer und neurophysiologischer Untersuchungen oder der Neurosonographie diagnostizieren [1]. Die MRN ist im Rahmen von Kompressions­neuropathien vor allem dann indiziert, wenn die klassischen Untersuchungsverfahren in der Zusammenschau keinen eindeutigen Rückschluss auf die ­Ursache der Beschwerden erlauben.

Multifokale Nervenläsionen

Dank der grossflächigen und langstreckigen Abbildung von Nervenverläufen mittels MRN können nicht nur fokale Läsionen, sondern auch komplexe Läsionsmuster identifiziert werden. Die räumliche Verteilung, zeitliche Dynamik und die Morphologie der Nervläsionen sowie eine mögliche Kontrastmittelanreicherung (als Hinweis auf eine Blut-Nerv-Schrankenstörung) können dabei weitere Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Erkrankung zulassen.

Fallbericht chronisch inflammatorische ­demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP; Abb. 2)

Abbildung 2: MR-Neurographie des Plexus lumbosacralis (A) und des Plexus brachialis (B): inhomogene Kaliberauftreibungen der Plexusanteile beidseits (Pfeile) mit patho­logischen, spindelförmigen Signalsteigerungen.
64-jähriger Patient mit seit acht Jahren bestehenden, langsam progredienten, distal betonten Atrophien und Paresen, ausgeprägtem Haltetremor sowie Stand- und Gangunsicherheit. In der Elektrophysiologie fanden sich reduzierte Nervenleitgeschwindigkeiten sowie axonale Schädigungen des Nervus medianus beidseits, des Nervus ulnaris beidseits und des Nervus peroneus beidseits. Bei zusätzlich Proteinerhöhung in der Liquoranalyse wurde die Verdachtsdiagnose der CIDP gestellt. Es zeigten sich in der MRN des Plexus lumbosacralis (Abb. 2A) und des Plexus brachialis (Abb. 2B) deutliche inhomogene Kaliberauftreibungen der Plexusanteile beidseits mit pathologischen, spindelförmigen Signalsteigerungen.

Traumatische Läsionen und postoperative Komplikationsabklärung

Mit der MRN lassen sich schon frühzeitig traumatische Verletzungen der Nerven lokalisieren (von intraduralen Verletzungen der Nervenwurzelfilamente bis hin zu distalen Schädigungen) und deren Ausmass be­stimmen (von Traktionsverletzungen mit erhaltener ­Nervkontinuität bis hin zu Nervenausrissen mit Stumpfneuromen). Die MRN kann daher für die Operationsindikation eine wichtige Rolle spielen. Postoperativ kann selbst noch nach Einlage von Osteosynthesematerial – dank moderner Sequenzen zur Reduzierung von Metallartefakten – das Behandlungsergebnis ­kontrolliert werden.

Fallbericht Cerclage des Nervus radialis (Abb. 3)

Abbildung 3:A–C) MR-Neurographie Humerus links. Langstreckig im Kaliber aufge­triebener und signalgesteigerter Nervus radialis (Pfeil in B und C) proximal und distal der Cerclage mit konsekutiv neurogenem Ödem der innervierten Muskulatur (* in C) im Sinne einer traumatisch iatrogenen Strangulation. D) In der hochauflösenden Nerven­sonographie pathologisch verdickter Nervus radialis (Pfeil) proximal der Cerclage (*). 
E) Intraoperative Bestätigung des Befundes einer Strangulation des Nerven (Pfeil) 
durch die Cerclage (*).
28-jähriger Patient mit Status nach schwerem Polytrauma mit Luxationstrümmerfraktur des proximalen Humerus links. Die Fraktur wurde initial mit einer Plattenosteosynthese und einer Cerclage behandelt (Abb. 3A). Aufgrund der klinischen Symptomatik und des ENMG-Befunds wurde postoperativ der Verdacht auf eine komplett erscheinende Läsion des Nervus radialis gestellt. In der MRN zeigte sich ein langstreckig im Kaliber aufgetriebener und signalgesteigerter ­Nervus radialis proximal und distal der Cerclage mit konsekutiv neurogenem Ödem der innervierten Muskulatur im Sinne einer traumatisch iatrogenen Strangulation. In der hochauflösenden Nervensonographie konnte der Befund eines pathologisch verdickten Nervus radialis proximal der Cerclage verifiziert werden. Intraoperativ bestätigte sich der Befund einer Strangulation des Nerven durch die Cerclage. Nach erfolgter Cerclage-Entfernung und Neurolyse zeigte sich im klinischen Verlauf ein erfreulich signifikanter Rückgang der Symptomatik.

Intervention

Minimalinvasive Behandlungen, deren präzise Steuerung einen hohen Weichteilkontrast erfordern, sind mit der MRN in ausgewählten Zentren ebenfalls möglich und eröffnen bereits heute schonende Therapie­optionen. Insbesondere im Bereich der Plexus und bei körperstammnahen Nervenstrukturen hat die MR-neurographisch gesteuerte Intervention gegenüber ­sonographisch gesteuerten Interventionen aufgrund der hohen Auflösung in der Tiefe und der synchronen Darstellung der Läsion Vorteile.

Fallbeispiel Pudendusinfiltration (Abb. 4)

Abbildung 4: MR-Neurographie der Pudendusregion. A) Im Seitenvergleich leichte Atrophie des Nervus pudendus links (Pfeil). Der Nervus rectalis inferior ist nur auf der Gegenseite zu erkennen (Pfeilspitze). B) MR-gesteuerte Infiltration des Nervus ­pudendus links auf Höhe der Spina ischiadica (*): gezielte Injektion des Lokalanästhetikums in den Raum zwischen Ligamentum sacrospinale und Ligamentum sacrotuberale entlang des Nervus pudendus bis in den Alcock-Kanal (Pfeil).
48-jährige Patientin mit seit Jahren bestehendem Herpes Zoster genitalis und Schmerzen vaginal und inguinal links im Sinne einer chronischen Neuropathie des Nervus pudendus. In der MRN zeigen sich nur diskrete Befunde mit im Seitenvergleich zu rechts leichter Atrophie des Nervus pudendus links (Pfeil in Abb. 4A), vermutlich als Folge einer chronischen Entzündung. Der Nervus rectalis inferior ist lediglich auf der Gegenseite zu erkennen (Pfeilspitze in Abb. 4A).
Aufgrund der Beschwerderesistenz auf konservative, orale Medikation wurde die Indikation zur MR-gezielten Infiltration des Nervus pudendus links gestellt. ­Unter sterilen Bedingungen wurde dieser unter wiederholter visueller Kontrolle im MRT auf Höhe der Spina ischiadica anvisiert (Asterisk in Abb. 4B). Nach gezielter ­Injektion des Lokalanästhetikums in den Raum zwischen Ligamentum sacrospinale und Ligamentum ­sacrotuberale entlang des Nervus pudendus bis in den Alcock-Kanal (Pfeil in Abb. 4B) berichtete die Patientin über vollständige Regredienz der Schmerzen und konnte in zufriedenem Allgemeinzustand nach Hause entlassen werden.

Diffusion Tensor Imaging: Von der Morphologie hin zur Funktion

Erweiterte, neue Möglichkeiten, physiologische von pathologischer Nervenfunktion zu unterscheiden, bietet das «Diffusion Tensor Imaging» (DTI; Abb. 5). Beim DTI werden mit einer speziellen MR-Technik Informationen über die Diffusion von Wasserstoffmolekülen im Nerv gewonnen. Ist die Diffusion innerhalb eines Nerven gestört, ist in der Regel auch die Nervenfunktion gestört – auch wenn der Nerv möglicherweise in den morphologischen MR-Bildern oder der Sonographie noch normal erscheint. DTI-Bilder werden oftmals aufwendig nachbearbeitet, um daraus (teils farbkodierte) Para­meterkarten für die Visualisierung der Diffusions­parameter zu er­stellen. Überwiegend nichtphysiologische Diffusions­bewegungen, wie sie in geschädigten Nerven­abschnitten zu finden sind, können Hinweise auf eine Mikrostrukturstörung des Nerven geben. Die DTI hat sich als valide Technik erwiesen [5] und wird in spezialisierten Zentren bereits heute routinemässig angewandt [6].
Abbildung 5: «Diffusion Tensor Imaging» des Nervus ulnaris (Pfeil) bei Sulcus ulnaris Syndrom. Hier dargestellt sind Parameterkarten für die Diffusionsparameter «apparent diffusion coefficient» (A) und «fractional anisotropy» (B), die als Biomarker für die Nervintegrität gelten. Punktgenaue Messungen dieser Para­meter im Nervus ulnaris sind anhand dieser Karten möglich.

Diskussion

Die MRN hilft, die diagnostische Lücke zu schliessen, die das bisherige Instrumentarium zur Diagnostik bei neuropathischen Leiden offen lässt. Über die klinische Untersuchung und die elektrophysiologischen Methoden hinaus lassen sich anhand der Bildgebung wichtige zusätzliche Informationen gewinnen, die eine ­Eingrenzung der potentiellen Diagnosen zulassen. ­Minimalinvasive Behandlungen, bei deren präziser Steuerung ein hoher Weichteilkontrast erforderlich ist, sind mit der MRN in ausgewählten Zentren ebenfalls möglich und eröffnen bereits heute schonende Therapieoptionen. Die moderne MR-Bildgebung überspringt zudem die Grenze der rein morphologischen Darstellung und bietet mit der DTI funktionelle Biomarker zur Evaluierung der Nervenintegrität.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persön­lichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag ­deklariert.
PD Dr. med.
Roman Guggenberger
Leiter muskuloskelettale Radiologie,
Diagnostische und Inter­ventionelle Radiologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
roman.guggenberger[at]
usz.ch
und
Dr. med. Michael Ho
Bereich MR-Neurographie,
Diagnostische und Inter-ventionelle Radiologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
michael.ho[at]usz.ch
1 Pham M. MR neurography for lesion localization in the peripheral nervous system. Why, when and how? Nervenarzt. 2014;85:221–35.
2 Godel T, Weiler M. Klinische Indikationen hochauflösender MRT-Diagnostik des peripheren Nervensystems. Der Radiologe. 2017;57(3):148–56.
3 Ho M, Andreisek G. Moderne Bildgebung von Läsionen des peripheren Nervensystems. Rheuma Schweiz. 2015;28–34.
4 Bäumer P. Diagnostische Kriterien in der MR-Neurographie. Der Radiologe. 2017;57(3):176–83.
5 Ho M, Manoliu A, Kuhn F, Stieltjes B, Klarhöfer M, Feiweier T, Marcon M, Andreisek G. Evaluation of Reproducibility of Diffusion Tensor Imaging in the Brachial Plexus at 3.0 T. Investigative Radiology. 2017;52:482–7.
6 Guggenberger R, Markovic D, Eppenberger P, Chhabra A, Schiller A, Nanz D, et al. Assessment of median nerve with MR neurography by using diffusion-tensor imaging: normative and pathologic diffusion values. Radiology. 2012; 265(1):194–203.