Eine einfache saisonale Grippe?
Der erste Eindruck kann täuschen

Eine einfache saisonale Grippe?

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2018/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03232
Schweiz Med Forum 2018;18(15):334-337

Affiliations
Hôpital Neuchâtelois Pourtalès
a Service de médecine interne; b Service des soins intensifs

Publiziert am 11.04.2018

Eine 84-jährige Patientin sucht während der Grippeepidemie die Notaufnahme wegen Abdominalschmerzen, diffuser Myalgien und starker Lumbalschmerzen seit dem Morgen auf. Sie ist febril mit 38,4 °C.

Fallbeschreibung

Eine 84-jährige Patientin mit guter allgemeiner Gesundheit sucht während der Grippeepidemie Anfang Januar die Notaufnahme auf, da sie seit dem Morgen desselben Tages an Abdominalschmerzen mit einmaligem Erbrechen, diffusen Myalgien und starken Schmerzen im Lendenbereich leidet. Sie berichtet zudem von einer Rhino­rrhoe und Ohrenschmerzen, die seit fünf Tagen bestehen, nicht jedoch von Kopfschmerzen. Ebenso wenig klagt sie über Schüttelfrost oder Fieber. Es liegen keine Hinweise auf eine Ansteckung oder eine Reise in der jüngeren Vergangenheit vor.
Bei der Hospitalisierung ist die Patientin in den drei Qualitäten orientiert, normoton und normokard sowie ­febril (38,4 °C). Die Abdomenpalpation gestaltet sich diffus schmerzhaft ohne Peritonismus, die Perkussion der Brustwirbelsäule ist schmerzhaft. Es liegt kein ­Meningismus vor. Darüber hinaus ist die körperlichen Untersuchung unauffällig, insbesondere im Hinblick auf Hals-, Nasen- und Ohrenbereich.
Die Laboruntersuchungen ergeben ein Entzündungssyndrom (CRP 50 μg/l [Norm: <5], Procalcitonin [PCT] 25 μg/l [Norm: <0,25]), ein Blutbild ohne Leukozytose, aber mit Thrombopenie (61 G/l [Norm: 150–400]), eine normale Gerinnung (INR 1,08, partielle Thromboplastinzeit [PTT] 27 Sekunden [Norm: 25–38]), eine Niereninsuf­fizienz der AKIN-Klasse 1 («acute kidney injury») sowie eine venöse Hyperlaktatämie (8 mmol/l). Die Urinuntersuchung mittels Teststreifen liefert ein unauffälliges Ergebnis. Bei der Röntgen-Thorax-Untersuchung wird kein Herd festgestellt.
Auf der Notfallstation entwickelt die Patientin eine Fieberspitze von 40 °C mit Schüttelfrost, Hypotonie (90/60 mm Hg) und Sinustachykardie (110/min). Zwei Paar Blutkulturen werden entnommen.

Frage 1: Welche der folgenden Diagnosen gehört angesichts des klinisches Bildes und der durchgeführten Untersuchungen nicht zu Ihrer initialen Differenzialdiagnose?


a) Saisonale Grippe mit Sekundärinfektion
b) Spondylodiszitis
c) Atypische Pneumonie
d) Sepsis abdominalen Ursprungs
e) Bakterielle Sinusitis
Initial wird eine Differenzialdiagnose in Betracht gezogen, die mehrere Infektionskrankheiten umfasst: saisonale Grippe mit Sekundärinfektion, Sinusitis, Sepsis mit Ursprung im Magen-Darm-Trakt sowie Spondylodiszitis. Bei den zusätzlichen bildgebenden Untersuchungen (Computertomographie der Nasennebenhöhlen und des Brust-, Bauch- und Beckenraums) wird allerdings kein Herd festgestellt. Eine empirische Therapie mit Oseltamivir und Piperacillin-Tazobactam wird ­begonnen. Aufgrund der vorliegenden Schockkriterien wird die Patientin nach Einleitung einer aminergen Unterstützung in die Intensivstation überstellt.
Sechs Stunden nach der Hospitalisierung entwickelt die Patientin diffuse Petechien (Abb. 1). Eine disseminierte intravasale Koagulopathie (DIC) wird vermutet.
Abbildung 1: Petechien auf dem Rücken.

Frage 2: Welches der folgenden Kriterien ist kein Labor­parameter für eine DIC?


a) Schwere Thrombopenie (<50 G/l)
b) Erhöhte Konzentration der D-Dimere
c) Verringerte Konzentration von Fibrinogen (<1 g/l)
d) Schwere Leukopenie (<1 G/l)
e) Verlängerte PTT
In den Laboruntersuchungen (Blutbild und Gerinnungs­tests) werden alle Parameter einer schweren DIC nach­gewiesen: Thrombopenie mit 11 G/l (Norm: 150–400), INR 2,16 (Norm: 0,9–1,2), PTT 73 Sekunden (Norm: 25–38), D-Dimere >10 000 μg/l (Norm: <500) und Fibrinogen 0,8 g/l (Norm: 2–4). Bei der Patientin treten Zahnfleischbluten und eine posteriore Epistaxis auf. Zwei Thrombozytenkonzentrate, vier Beutel «Fresh Frozen Plasma» (FFP) und 2 g Fibrinogen werden verabreicht. Zwölf Stunden nach der Hospitalisierung sind bei der Patientin eine Livedo reticularis an den vier Extremitäten ­sowie eine Purpura zu beobachten. Dies zeugt von der Deregulierung des Gerinnungssystems, bei der gleichzeitig eine thrombotische (Bildung von Mikrothromben) und eine hämorrhagische Komponente (hämorrhagische Nekrose) vorliegen (Abb. 2 und 3).
Abbildung 2: Livedo reticularis.
Abbildung 3: Purpura im Bereich des Oberschenkels.

Frage 3: Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie zu diesem Zeitpunkt?


a) Septischer Schock durch Neisseria (N.) meningitidis
b) Autoimmunerkrankung
c) Virusinfektion
d) Pilzinfektion
e) Septischer Schock durch Streptococcus (S.) pneumoniae
Angesichts der Entwicklung und des Auftretens von Purpuraläsionen wird eine Meningokokkämie vermutet. Eine Infektion mit S. pneumoniae kann zu einer DIC und einem ähnlichen Bild führen, vor allem bei splenektomierten Patienten. Die Purpura fulminans ist eine seltene Komplikation einer bakteriellen Sepsis. Als auslösender Erreger wird am häufigsten N. meningitidis festgestellt, aber auch S. pneumoniae, Haemophilus influenzae oder andere Erreger können die Ursache sein. In Anbetracht des schwerwiegenden klinischen Bildes sind eine Autoimmunerkrankung und eine Pilz- oder Virusinfektion unwahrscheinlich, auch wenn sie bisweilen mit petechialen Läsionen einhergehen können.
Das Ergebnis der Blutkulturen ist nach weniger als 24-stündiger Inkubation positiv auf N. meningitidis (Serotyp W). Wir diagnostizieren einen septischen Schock durch Meningokokkämie mit Purpura fulminans als Komplikation (Assoziation eines Schock­zustands mit einer DIC und einer Purpura).
Eine invasive Meningokokkeninfektion kann sich durch die Erkrankung eines Zielorgans äussern, meist einer Meningitis, mitunter auch einer Arthritis, septischen Perikarditis oder sogar einer Pneumonie oder gynäkologischen Infektion. Als Komplikation einer Meningokokkämie können ein Multiorganversagen mit DIC und Pupura fulminans auftreten [1].

Frage 4: Mit welchem Antibiotikum würden Sie die Patientin nun behandeln?


a) Vancomycin
b) Ceftriaxon
c) Azithromycin
d) Sulfamethoxazol und Trimethoprim
e) Weiterführung der aktuellen Behandlung mit Piperacillin-­Tazobactam
Die Antibiotikatherapie wird auf Ceftriaxon 2 × 2 g/Tag umgestellt. Derzeit empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vier Antibiotikatherapien: Ceftriaxon, Cefotaxim, Chloramphenicol (in der Schweiz nicht empfohlen) und Penicilline [1]. Die Behandlung sollte sieben Tage lang fortgeführt werden [2]. Während im Jahr 2016 lediglich 80% der in der Schweiz isolierten Stämme auf Penicilline ansprachen, betrug das Ansprechen auf die zur Prophylaxe (Rifampicin, Ciprofloxacin) und Behandlung (Ceftriaxon) verwendeten Antibiotika weiterhin 100% [3].
Die Patientin weist 24 Stunden nach der Hospitalisierung ein Multiorganversagen mit anurischer Niereninsuffizienz, einer Schockleber sowie Agitiertheit, die auf eine septische Enzephalopathie zurückgeführt wird und eine Intubation bedingt, auf. Die Lage kompliziert sich durch das Auftreten einer septischen Kardiomyopathie mit einer linksventrikulären, echokardiographisch auf 30–40% homogen verminderten Ejektionsfraktion. Ein Waterhouse-Friderichsen-Syndrom wird in Betracht gezogen und der Patientin Hydrokortison in einer Dosierung von 4 × 100 mg/Tag verabreicht. Die systemische Entwicklung ist langsam positiv und führt zum Absetzen der Katecholamine am Tag 6 sowie zur Normalisierung der Leberfunktion und der Blutgerinnung; die hämodialysepflichtige Niereninsuffizienz und das Koma persistieren hingegen.
Gleichzeitig entwickeln sich die initialen Purpuralä­sionen weiter und konfluieren, bis eine vollständige, alle distalen Phalangen betreffende Nekrose festzustellen ist (Abb. 4 und 5).
Abbildung 4: Hautnekrose am Tag 3.
Abbildung 5: Zustand der Hautnekrose am Tag 6.
Am neunten Tag nach der Hospitalisierung tritt plötzlich eine extreme Bradykardie auf, gefolgt von einer Asystolie. Wir verzichten bei der betagten Patientin auf Reanimierungsversuche.
Die Autopsie offenbart hepatische, renale und viszerale Petechien sowie diffuse thrombotische Läsionen. Die Nebennieren sind davon nicht betroffen, wodurch die Verdachtsdiagnose des Waterhouse-Friderichsen-Syndroms entkräftet wird.
Nachdem Diagnose einer Meningokokkämie war der Fall unverzüglich dem zuständigen Kantonsarzt gemeldet worden.

Frage 5: Eine Chemoprophylaxe ist erforderlich. Wem muss sie verabreicht werden?


a) Allen Personen, die einige Stunden mit der Patientin Kontakt hatten
b) Personen, die mit der Patientin im selben Haushalt lebten
c) Dem Sohn der Patientin, der vor drei Wochen bei der Pa­tientin übernachtete
d) Der gesamten Nachbarschaft der Patientin
e) Der Pflegefachperson, die den peripheren Venenkatheter legte
Allen Personen, die sich mindestens acht Stunden in einem Umkreis von einem Meter in der Nähe des Patienten aufhielten, muss eine Chemoprophylaxe verabreicht werden, insbesondere Familienangehörigen, die im selben Haushalt lebten, Personen, die dasselbe Schlafzimmer teilten, sowie Personal, das in den zehn Tagen vor der Diagnosestellung und bis zu 24 Stunden nach der Einleitung der Behandlung dem Oralsekret direkt ausgesetzt war (Reanimierung, Intubation). Das Dosierungsschema der Chemoprophylaxe ist in Tabelle 1 angegeben [4].
Tabelle 1: Chemoprophylaxe, gemäss Empfehlung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) [3].
ErwachseneCiprofloxacin 1 × 500 mg p.o.
Rifampicin 600 mg p.o. alle 12 Stunden während 2 Tagen
Ceftriaxon 1 × 250 mg i.m. oder Kurzinfusion i.v.
Kinder ≤14 JahrenRifampicin 10 x mg/kg p.o. alle 12 Stunden während 2 Tagen
Ceftriaxon 1 × 125 mg i.m. oder Kurzinfusion i.v. 
(falls >50 kg: 1 × 250 mg)
Wenn keine andere Möglichkeit: Ciprofloxacin 1×10 mg/kg
Säuglinge unter 
1 ­MonatRifampicin 5 mg/kg p.o. alle 12 Stunden während 2 Tagen
Ceftriaxon 1 × 125 mg i.m. oder Kurzinfusion i.v.
Schwangerschaft, ­StillzeitCeftriaxon 1 × 250 mg i.m. oder Kurzinfusion i.v.
Geimpfte Personen (seit 2011 steht in der Schweiz ein quadrivalenter Konjugat-Impfstoff gegen die Serotypen A, C, W und Y zur Verfügung) müssen ebenfalls die Chemoprophylaxe einnehmen, da der Impfstoff nicht den Serotyp B abdeckt, der in Europa am prävalentesten ist, und da die Wirksamkeit gegen die Serotypen A, C, W und Y nicht 100% beträgt [5].

Diskussion

Die Meningokokkämie wird von Neisseria meningitidis (verkapselte, gramnegative Diplokokken) ausgelöst. Es sind 13 Serotypen bekannt, von denen sechs letal sein können [1]. Jeder der 13 Serotypen zeigt eine charakteristische geografische Verteilung. In der Schweiz treten laut dem Jahresbericht 2015 des Nationalen Referenzzentrums für Meningokokkeninfektionen hauptsächlich die Serotypen B, W, C, Y und X auf. Unsere Patientin wies eine Infektion mit N. meningitidis des Serotyps W auf. Die Inzidenz der Meningokokkämie schwankt je nach Land zwischen 1 und 5 Fällen pro 100 000 Einwohnern [2]. Das natürliche Reservoir ist der Nasenrachenraum, durchschnittlich sind 8–25% der Bevölkerung transitorisch kolonisiert [1]. Meningokokken werden durch Tröpfcheninfektion übertragen. Die Infektionssymptome können bis zu zehn Tage nach der Kolonisierung durch das Bakterium auftreten. Über 60% der Infektionen manifestieren sich durch eine Meningitis [1], in durchschnittlich 20% der Fälle kommt es zu einer Sepsis [6].
Vor allem Kinder sind von Meningokokkämie betroffen, seltener ältere Menschen. Bei über 50 Jahre alten Patienten ist mehr als die Hälfte der invasiven Infek­tionen mit den Serotypen Y oder W verbunden [3].
Da es sich um ein verkapseltes Bakterium handelt, zählen eine Dysfunktion der Milz, ein Mangel an Komplementproteinen und eine Immunsuppression zu den Risikofaktoren für eine Meningokokkämie.
Die anfänglichen Symptome können banal sein und eine Virusinfektion vermuten lassen: Odynophagie, Rhinorrhoe, Myalgien. Als Komplikation können, so wie in unserem Fall, ein septischer Schock mit Multi­organversagen, DIC und Purpura fulminans auftreten. Die Purpura fulminans geht mit Hautnekrosen an den Extremitäten einher, die oftmals zu Amputationen führen und mit einer erhöhten Mortalität assoziiert sind.
Bei schwerem Schock mit Organversagen (assoziiert mit Petechien und Fieber) muss ein Waterhouse-Friderichsen-Syndrom in Betracht gezogen werden. Dieses Syndrom geht in den meisten Fällen auf eine Infektion mit N. meningitidis zurück und besteht in einer hämorrhagischen Nekrose der Nebennieren (mit akutem, den Schockzustand verstärkendem Versagen der Nebennieren). Die Therapie umfasst eine Hydrokortisonsub­stitution sowie die Behandlung des Schocks und der Bakteriämie [2].
Die Diagnose der Meningokokkämie beruht auf dem Nachweis des Bakteriums in den Körperflüssigkeiten. Die Sensitivität der Blutkulturen beträgt 50–60%, während die Kulturen des Liquor cerebrospinalis sensitiver sind (bis zu 80–90%) [6]. Falls bereits vor der Lumbalpunktion eine Antibiotikatherapie verabreicht wurde, können die Meningokokken mithilfe des PCR-Verfahrens im Liquor mit hervorragender Sensitivität nachgewiesen werden.
Bei älteren Menschen ist die Inzidenz der Meningokokk­ämie zwar geringer, gleichwohl sollte diese Diagnose stets in Betracht gezogen werden, wenn eine mit einem septischen Zustandsbild assoziierte Purpura vorliegt. Wie unser Fall zeigt, ist das anfängliche Bild unter Umständen atypisch, wodurch es zu einer für den Patienten verhängnisvollen Verzögerung der Diagnose und Behandlung kommen kann. Die Mortalität im Zusammenhang mit allen Infektionen durch N. meningitidis beträgt 10%; bei Vorliegen einer Purpura fulminans ist die Mortalität höher.

Antworten:


Frage 1: c. Frage 2: d. Frage 3: a. Frage 4: b. Frage 5: b.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Hannah Wozniak,
dipl. Ärztin
Assistenzärztin
Service de Médecine interne
Hôpitaux Neuchâtelois
Rue de Chasseral 20
CH-2300 la Chaux-de-Fonds
hannah.wozniak[at]hcuge.ch
1 Stephens DS, Greenwood B, Brandtzaeg P. Epidemic meningitis, meningococcaemia, and Neisseria meningitidis. Lancet. 2007;369(9580):2196–210.
2 Milonovich LM. Meningococcemia: epidemiology, pathophysiology, and management. J Pediatr Health Care. 2007;21(2):75–80.
3 Swiss National Reference Center for Meningococci, 2016 Annual Report.
4 Prävention von invasiven Meningokokkeninfektionen, Empfehlungen der Schweizerischen Kommission für Impffragen, der Arbeitsgruppe Meningokokken und des Bundesamtes für Gesundheit, Bulletin 46, November 2001.
5 Zender H, Olivier P, Genné D. Méningites bactériennes ­communautaires aiguës chez l’adulte. Rev Med Suisse. ­2009;5(220):1968–70, 1972–4.
6 Takada S, Fujiwara S, Inoue T, Kataoka Y, Hadano Y, Matsumoto K, et al. Meningococcemia in Adults: A Review of the Literature. Intern Med. 2016;55(6):567–72.