Gemeinsame Fehleranalyse in der Grundversorgung
Erkennung und Management von medizinischen Fehlern

Gemeinsame Fehleranalyse in der Grundversorgung

Editorial
Ausgabe
2018/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03244
Schweiz Med Forum 2018;18(1314):293-294

Affiliations
Service de médecine de premier recours, Département de médecine communautaire, de premier recours et des urgences, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève

Publiziert am 28.03.2018

Die aktuelle Ausgabe des Swiss Medical Forum enthält drei Beiträge [1–3] zum Thema «medizinische Fehler», von denen zwei detaillierter auf medizinische Fehler in der Grundversorgung eingehen. Obgleich die Autoren der verschiedenen Artikel die starken Unterschiede der Schätzungen betonen, weisen sie darauf hin, dass die Häufigkeit derartiger Ereignisse in der Grundversorgungspraxis in der Tat hoch ist (bis zu 2–3 Ereignisse pro 100 Konsultationen). Die Lösung zur Erkennung und zum Management medizinischer Fehler scheint auf der Gleichung «Fehlerkultur + Tools + Nutzen» zu beruhen. In diesem Zusammenhang werden oft eine Fehlerkultur, welche die Meldung von Fehlern begünstigt, sowie entsprechende Tools, welche die Meldung von Fehlern erleichtern sollen, diskutiert [4]. Dass die Person, welche den Fehler meldet, einen Nutzen daraus ziehen muss, ist hingegen weniger offensichtlich, jedoch unerlässlich. Die Quittierung der Fehlermeldung, der Vorschlag, das Ereignis zu analysieren, und idealerweise ein Verfahren, das dabei hilft, diesen Fehler in Zukunft zu vermeiden, stellen mög­liche Anreize zur Zusammenarbeit dar. Gerade die schnelle fachliche Beurteilung («die Analyse der Fehlermeldungen durch geschulte Experten […], die rasche Analyse und Erteilung von Empfehlungen») ist in der Grundversorgung jedoch möglicherweise schwer zu gewährleisten. Wer übernimmt diese Aufgabe und welche Ressourcen werden dazu verwendet?
Während dies in manchen grossen Einrichtungen «quality officers» gewährleisten können, stellt ein derartiges Vorgehen für Grundversorger, die in kleineren Versorgungsstrukturen (wie z.B. Gemeinschafts­praxen) organisiert sind, eine ganz andere Herausforderung dar, da sie sich in erster Linie um ihre Patienten kümmern müssen, bevor sie sich um Prozesse zur Erkennung potentieller Fehler sorgen können.
Die Autoren der Beiträge dieser Ausgabe betonen die Wichtigkeit von Qualitätszirkeln, die den idealen Rahmen zum Austausch und für tiefergehende Ana­lysen medizinischer Fehler bieten. Da ich selbst das Glück habe, seit mehreren Jahren einen solchen Qualitätszirkel zu leiten, kann ich bestätigen, dass diese hervorragend geeignet sind, um über medizinische Fehler zu sprechen. Meiner Ansicht nach sind jedoch weitere Tools zum Umgang mit Beinahe-Ereignissen unerlässlich. Ferner denke ich, dass zwischen kleinen (Arztpraxen), mittleren (medizinische Zentren) und grossen Grundversorgungsstrukturen (Spitäler) in Bezug auf die Erkennung und das Management von medizinischen Fehlern und vor allem von Beinahe-Ereignissen eine Möglichkeit zur gemeinsamen Ressourcennutzung (Computerprogramme, Verfahren, Analysen, Feed­backs usw.) entwickelt werden sollte. Wie bei der gemeinsamen Patienten­akte sollten alle Gesundheitsfachleute gegenseitigen Zugriff auf die jeweiligen Erkenntnisse bei der Erkennung und dem Management von medizinischen Fehlern erhalten.
Diese Bündelung der Kapazitäten zur Erkennung von Beinahe-Ereignissen ist meiner Meinung nach für alle Strukturen und Akteure in der Grundversorgung unerlässlich, um auf «Gefahren» hin­zuweisen. Denn wahrscheinlich wird ein wichtiger Faktor für den Umgang mit medizinischen Fehlern in der Grundversorgung in unserer Fähigkeit bestehen, Warnsignale für medizinische Fehler frühzeitig zu erkennen. Die oben genannten Gefahren werden angesichts des Versorgungsumfangs und der Zahl der Ärzte, der Komplexität der medizinischen Situationen, der Polymorbidität, der Zunahme der prognostischen und diagnostischen Tests sowie der Therapiekombinationen in unserer täglichen Praxis immer mehr zunehmen. Inwiefern sind wir als Grundversorger darauf vorbereitet, eine geringfügige Gefahr (ein schwaches ­Signal), die ohne unser Handeln zu einem medizinischen Fehler oder gar einem medizinischen Fehler mit tragischem Ausgang führen kann, zu erkennen, zu interpretieren und entsprechend darauf zu reagieren?
Seit der Katastrophe der Raumfähre Columbia ist in den meisten MBA-Programmen von «ambiguous threats», unklaren Bedrohungen, die Rede [5]. Am 1. Februar 2003 wurde die Columbia während des Wiedereintritts in die Erdatmosphäre zerstört und alle sieben Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Die Explosion war durch Schäden beim Start bedingt, die durch ein abgerissenes Teil der Schaumstoffisolierung, das sich vom Aussentank der Raumfähre gelöst hatte, entstanden waren. Während sich die Columbia in der Erdumlaufbahn befand, hatten Ingenieure Schäden vermutet, entsprechende Untersuchungen wurden jedoch trotz der Gefahr von den NASA-Direktoren beschränkt [6].
In der Medizin gibt es wie in jedem anderen Unternehmensbereich unzählige Gelegenheiten, einen Fehler zu verhindern, wenn das entsprechende Signal früh genug erkannt wird und ge­eignete Massnahmen in ausreichender Intensität eingeleitet werden. Die Gefahr, dass diese Gelegen­heiten nicht ergriffen werden, ist jedoch aufgrund bestimmter kognitiver Verzerrungen, inadäquater Gruppendynamiken und Unternehmenskulturen relativ hoch [5]. Triacca et al. gehen in dieser Ausgabe auf die meisten kognitiven Verzerrungen ein, die zum ­falschen Umgang mit «ambiguous threats» beitragen können [2]. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Bestätigungsfehler, das heisst die Tendenz, lediglich Aspekte zu berücksichtigen, welche die Ausgangshypothese bestätigen. Überdies kann es, je nach Gruppendynamik, für eine(n) Mitarbeiter(in) schwer, wenn nicht gar unmöglich sein, eine abweichende Meinung zu äussern. Und schliesslich sind die unterschiedlichen Reaktionen verschiedener Organisationen auf dasselbe Signal mit der Art (wissenschaftliche Evidenz versus Intuition) und Menge der Informationen, die erforderlich sind, um sich potentieller Gefahren bewusst zu werden, zu erklären.
Ohne die Bündelung der Kapazitäten zur Erkennung und Verstärkung des Signals dürfte es für Grundversorger sehr schwer sein, entsprechende Gefahren zu identifizieren.
Als Pioniere der gemeinsamen Entscheidungsfindung könnten die Grundversorger als erste entsprechende Tools nutzen, die den gemeinsamen Zugriff auf die ­jeweiligen Erkenntnisse bei der Erkennung und dem Management von medizinischen Fehlern ermöglichen.
Der Autor dankt Frau Anne Lichtschlag für ihr sorgfältiges Lektorat.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Idris Guessous
Service de médecine de ­premier recours
Département de médecine communautaire, de premier recours et des urgences
Hôpitaux Universitaires de Genève
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
CH-1205 Genève
idris.guessous[at]hcuge.ch
1 Froesch-Gay H, Gouveia A, Stager P. Fehlererkennung und -management in der medizinischen Grundversorgung. Schweiz Med Forum. 2018;18(13–14):297–303.
2 Triacca ML, Gachoud D, Monti M. Kognitive Aspekte medizinischer Fehler. Schweiz Med Forum. 2018;18(13–14):304–307.
3 Wasserfallen J-B, Caci M. Prävention rechtlicher Auswirkungen der ärztlich-pflegerischen Tätigkeit. Schweiz Med Forum. 2018;18(13–14):308–311.
4 Kachalia A. Improving patient safety through transparency. N Engl J Med. 2013;369(18):1677–9.
5 Roberto MA1, Bohmer RM, Edmondson AC. Facing ambiguous threats. Harv Bus Rev. 2006;84(11):106–13, 157.