Akutes Leberversagen nach wiederholter Paracetamoleinnahme
Aktuelles aus den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren und Tox Info Suisse

Akutes Leberversagen nach wiederholter Paracetamoleinnahme

Aktuell
Ausgabe
2018/21
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03257
Schweiz Med Forum 2018;18(21):437-439

Affiliations
a Tox Info Suisse, assoziiertes Institut der Universität Zürich; b Regionales Pharmacovigilance-Zentrum Zürich, Klinik für Klinische Pharmakologie &
Toxiko­logie, UniversitätsSpital Zürich und Universität Zürich
* Die beiden Autoren haben zu gleichen Teilen zum Artikel beigetragen

Publiziert am 23.05.2018

Ein aktueller Fall aus den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren und Tox Info Suisse.

Folgen der UAW: Lebensbedrohend/Hospitalisation
Verlauf: Ohne Schaden erholt
Kausalitätsbeurteilung: Wahrscheinlich

Der klinische Fall:

Die 19-jährige Patientin (72 kg, 1,73 m, Body-Mass-Index 24,1 kg/m2) nahm aufgrund von chronischen Magen-Darm-Koliken 2 g Paracetamol ein. Am Folgetag nahm sie nach sportlicher Betätigung 200 mg eines Koffeinpräparats und aufgrund gleicher Magen-Darm-­Beschwerden wiederum Paracetamol – diesmal jedoch gesamt 8 g – ein. Zwei Stunden später verspürte die ­Patientin starke Übelkeit und musste mehrmals erbrechen. Die Übelkeit dauerte auch am Folgetag weiter an, weshalb schliesslich eine Selbstzuweisung auf die Notfallstation erfolgte.
Der Paracetamolspiegel lag drei Tage nach initialer mit wiederholter Paracetamoleinnahme unterhalb der Quantifizierungsgrenze von 8 µmol/l. Suizidale Absichten wurden von der Patientin deutlich verneint. Bereits auf der Notfallstation wurde die intravenöse Gabe von Acetylcystein gemäss Prescott-Schema gestartet. Die Patientin entwickelte auf die parenterale Verabreichung jedoch Urtikaria und leichte Dyspnoe, woraufhin das Acetylcystein pausiert und Antihist­aminika verabreicht wurden. Die Leberenzyme AST (Aspartat-Aminotransferase) und ALT (Alanin-Aminotransferase) sowie die LDH (Laktatdehydrogenase) waren deutlich erhöht (Abb. 1).
Abbildung 1: Zeitverlauf von ALT, AST und LDH in Tagen nach der Ersteinnahme von ­Paracetamol.
Anschliessend setzte man die Antidottherapie mit einer langsameren Infusionsgeschwindigkeit fort. Die Patientin wurde aufgrund steigender Serum-Aminotransferasen und erhöhten INR-Wertes am darauffolgenden Tag in ein Zentrumspital verlegt. Das Prescott-Schema mit Acetylcystein wurde unter intravenöser Gabe von Clemastin und Ranitidin über 48 Stunden fortgeführt, was die Patientin diesmal gut tolerierte. Bei Auslenkung der Gerinnungsparameter wurde Konakion® (Vit­amin K) verabreicht. Hepatitis-Serologien und HIV waren negativ. Die Leberenzyme waren in den nächsten Tagen wieder rückläufig, Bilirubin und Nierenfunk­tionsparameter blieben stets im Normbereich.
Ansonsten wurden von der Patientin keine weiteren Arzneimittel eingenommen. Es waren auch keine prädisponierenden Faktoren wie ein vorbestehendes Leberleiden, überhöhter Alkoholkonsum oder Mangelernährung bekannt. Anamnestisch litt die Patientin seit Jahren an chronischen Oberbauchschmerzen bei blander endoskopischer Untersuchung sowie an einem Reizdarmsyndrom im Kindesalter.

Klinisch pharmakologische Beurteilung

Paracetamol ist ein Analgetikum und Antipyretikum mit zentraler und peripherer Wirkung, dessen Wirkungsmechanismus nicht eindeutig geklärt ist. Die maximal empfohlene Tagesdosis für Erwachsene liegt bei 4 g, welche nicht überschritten werden sollte. In ­Tabelle 1 sind sämtliche aktuell in der Schweiz verfügbaren Präparate (inkl. Kombinations- und Retard­präparate), die Paracetamol enthalten, aufgeführt. ­Paracetamol wird rasch resorbiert und in der Leber metabolisiert. Der dabei durch Cytochrom-P450 (CYP) gebildete Metabolit N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI) ist hoch reaktiv und toxisch. NAPQI wird durch Bindung an die SH-Gruppe des Glutathions zu dem untoxischen Konjugat Mercaptursäure umgewandelt. Sobald jedoch die NAPQI-Produktion die Glutathionkapazität übersteigt, reagiert dieser Metabolit direkt mit hepatischen Makromolekülen und es kommt zu einer Leberschädigung.
Tabelle 1: Sämtliche in der Schweiz verfügbaren Präparate, die Paracetamol enthalten (Stand Dezember 2017).
 PräparatebezeichnungParacetamol Dosierung (mg)
Einzelpräparate  
Als Filmtabletten, Kautabletten, Brausetabletten, Granulat, Sirup, Suppositorien, InfusionslösungenAcetalgin®, Amavita Paracetamol 500, Arthrolur®, Becetamol®, Ben-u-ron®, Contra-Schmerz® P, Coop Vitality Paracetamol 500, Dafalgan®, Dololur®, Doloran®, Kafa®, Nina®, Osa® Schmerz- und Fieberzäpfchen, Panadol®, ­Paracetafelan®, Paraconica®, Perfalgan®, Sanalgin® N, Seranex® N, ­Tylenol® forte, Zolben®125, 250, 500, 1000
Kombinationspräparate  
Als Filmtabletten, Brausetabletten, Granulat, Sirup

Weitere Wirksstoffe:
Pseudoephedrin, Codein, Ascorbinsäure (Vitamin C), Coffein, Acetylcystein, Pheniramin
Alcacyl® Grippe, Amavita Antigrippe, Co-Dafalgan®, Coop Vitality Grippe & Erkältung, Demogripal® C, Dialgine®, Dolac®, Dolo-Kranit®, Fluimucil Grippe Day & Night, Kafa® plus caféine, NeoCitran® Grippe, Pamed-C, ­Panadol® Extra, Pretuval® Pamed-C Grippe & Erkältung C, Vicks Grippal C, Vicks Medinait, Zolben C300, 500,
RetardpräparatePanadol® Extend665
In der Schweizer Fachinformation sind unter Paracetamol erhöhte Lebertransaminasewerte als seltene unerwünschte Arzneimittelwirkung beschrieben [1]. Die Überdosierung kann zu sehr schweren Leberschäden führen. Die akute, orale Einnahme von 10 g Paracetamol kann bei Erwachsenen bereits hepatotoxisch sein. Patienten mit gleichzeitiger Einnahme mit CYP2E1-­Induktoren (wie Isoniazid), Alkoholiker, mit Malnutrition oder Gluthationmangel haben wahrscheinlich ein erhöhtes Risiko für Hepatotoxizität. Hier werden daher niedrigere Tagesdosen von (2)–3 g empfohlen [2]. Es kommt zu Vergiftungserscheinungen an Zellen der ­Leber und des Nierentubulus in Form von lebensgefährlichen Zellnekrosen durch Binden der Chinonimin-Metabolite an Proteine. Diese Nekrosen können eine hepatozelluläre Insuffizienz, metabolische Azidose und Enzephalopathie hervorrufen, die zu Koma und Tod führen können. Bei der akuten, einmaligen Überdosierung lässt die Plasmakonzentration ab vier Stunden nach Einnahme eine Prognose punkto Hepatotoxizität zu; dazu wird das Matthew-Rumack-Nomogramm verwendet. Bei der chronischen oder mehrzeitigen Einnahme hingegen ist das Nomogramm nicht aussagekräftig. Daher kann in diesen Fällen auf eine Spiegelbestimmung verzichtet werden. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA entschied, dass retardiertes Paracetamol aufgrund der unberechenbaren Pharmakokinetik bei Überdosierungen, der dadurch entstehenden Schwierigkeiten bezüglich Spiegelmessungen und Therapie ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweist und vom Markt genommen werden soll [3]. Eine offizielle Stellungnahme der Swissmedic liegt dazu noch nicht vor.
Klinisch sind nach akuter einmaliger Überdosierung die ersten Anzeichen einer Leberschädigung gewöhnlich nach 24 bis 48 Stunden feststellbar und erreichen das Maximum nach 3–4 Tagen, bei chronischer oder mehrzeitiger Überdosierung später. Vor allem nach akuter Überdosierung können Symptome wie Übelkeit und Erbrechen, abdominelle Schmerzen, Appetitlosigkeit, allgemeines Krankheitsgefühl, Blässe, Unwohlsein, Diaphorese (Schwitzen) auftreten, sind aber nicht obligat. In einer zweiten Phase, während der sich die Beschwerden subjektiv bessern, kommt es zu einer ­Lebervergrösserung, erhöhten Transaminasewerten (1000–10 000 U/l), erhöhten Bilirubinwerten, Thromboplastinzeitverlängerung. Typischerweise sind am Tag 3 dann die Transaminasewerte (AST, ALT) stark ­erhöht. Enzephalopathie, metabolische Azidose und steigende PT/INR sind Indikatoren für eine schlechte Pro­gnose. Ein akutes Nierenversagen kann begleitend bestehen. Bei chronisch exzessiver Paracetamoleinnahme kann neben Nausea, Erbrechen eine meta­bolische Azidose mit erhöhter Anionenlücke durch ­Akkumulation von 5-Oxoprolin (Pyroglutaminsäure) auftreten [4].
Diagnostisch wird bei einer akuten Intoxikation ab vier  Stunden nach Einnahme die Messung des Paracetamolspiegels (1 mg/l = 1 µg/ml = 6,6 µmol/l) empfohlen [5]. Da bei chronischer und mehrzeitiger Einnahme (im beschriebenen Fall wurde Paracetamol an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in einer supratherapeutischen Dosierung eingenommen) die Plasmakonzen­tration nicht hilfreich ist, beschränkt sich die Labordia­gnostik auf die Suche der Leber- und Nierenschädigung (Trans­aminasen, INR und Kreatinin als Ausgangswerte sowie im Verlauf). Zusätzliche Laborkontrollen wie Syntheseleistung der Leber mit Faktor V und VII werden je nach Verlauf empfohlen.
Therapeutisch steht bei Paracetamolvergiftungen die Gabe von N-Acetylcystein (NAC) als Antidot zur Verfügung (Tab. 2). Dabei werden durch Cystein als essentiellem Vorläufer der Glutathionsynthese die endogenen Glutathionreserven erhöht. Die Effektivität des Antidots hängt dabei von einer frühen Therapie (vor einer Akkumulation des toxischen Metaboliten, d.h. innert 8 Stunden nach Einnahme) ab [6]. Danach ist die Wirksamkeit zunehmend reduziert. Eine andere Indikation liegt bei Patienten mit manifestem Leberversagen (Enzephalopathie) vor, wo NAC die Überlebensprognose erhöht. Für Patienten, die spät zur Therapie kommen, aber (noch) nicht enzephalopathisch sind, gibt es keine Evidenz für den Nutzen von NAC. Trotzdem wird die Therapie in diesen Fällen meistens durchgeführt; das Therapieschema wird dabei in der Regel verlängert, bis die Besserung eintritt [6]. Bei unklaren klinischen Situa­tionen sollte eine individuelle Beurteilung durch das Tox Info Suisse (Telefonnummer 145) erfolgen [6, 7].
Tabelle 2: Massnahmen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der akuten Paracetamoleinnahme [6]. 
N-Acetylcystein(NAC)-Schema: intravenös (nach Prescott): NAC-Gesamtdosis 300 mg/kg i.v. über 20 Stunden; 
peroral (nach Rumack): NAC-Gesamtdosis 1330 mg/kg p.o. über 72 Stunden.
Zeitpunkt der Paracetamoleinnahme bei akuter VergiftungMassnahmen [6]
<4 StundenDekontamination innerhalb von 1–2 Stunden nach akuter Einnahme (mit Aktivkohle, ­bei sehr hohen Dosen allenfalls gastroskopische Tablettenentfernung),
NAC beginnen abhängig von Anamnese bzw. anderen Hinweisen
Spiegelbestimmung erst ab 4 Stunden sinnvoll, da Resorptionsphase davor nicht ­abgeschlossen
<8 StundenSpiegel unterhalb Behandlungslinie im Nomogramm bei genau bekanntem ­Zeitpunkt: NAC nicht nötig
Spiegel nicht verfügbar: NAC beginnen
Ggf. Endoskopie
Ggf. repetitiv Kohlegabe
8–24 StundenNAC beginnen, dann Paracetamolspiegel und Transaminasen bestimmen
Spiegel unterhalb der Behandlungslinie im Nomogramm und Transaminasen ­<2× ­oberer Grenzwert: NAC stoppen
Ggf. repetitiv Kohlegabe
24–36 StundenNAC beginnen
Spiegel unter 10 mg/l (= 66 µmol/l) und Transaminasen <2× oberer Grenzwert ohne ­Zeichen für Hepatotoxizität: NAC stoppen
>36 StundenTransaminasen <2× oberer Grenzwert: NAC nicht nötig
Das Auftreten der Übelkeit und des Erbrechens innerhalb von zwei Stunden nach der Einnahme von 8 g Paracetamol stellt einen engen zeitlichen Zusammenhang dar. Das Andauern der Beschwerden am Folgetag, der Anstieg von Transaminasen und INR sowie die Zunahme der LDH passen zu den genannten klinischen Anzeichen einer Paracetamolintoxikation und drängen das Koffein als Verursacher der Beschwerden in den Hintergrund. Da die Patientin bereits am Vortag 2 g Paracetamol eingenommen hatte, waren die Glutathionreserven möglicherweise bereits reduziert.
In Anbetracht des gegebenen zeitlichen Zusammenhangs, des typischen Verlaufs, der Dokumentation in der Fachinformation und Literatur sowie fehlender Hinweise auf nichtmedikamentöse alternative Ursachen (z.B. Hepatitis) wurde die Kausalität zwischen dem Auftreten des akuten Leberversagens und der Einnahme von Paracetamol formal als wahrscheinlich beurteilt.
Die Autoren haben keine finanziellen oder personlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med. Stefan Weiler, PhD, MHBA
Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie
UniversitätsSpital Zürich
Universität Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
Stefan.Weiler[at]usz.ch
1 Arzneimittelinformation der Swissmedic Dafalgan® (www.swissmedicinfo.ch; 27.09.2017).
2 Olson KR. Poisoning and Drug Overdose. Lange. 2012;69–72.
3 Europäische Arzneimittelbehörde EMA. Modified-release paracetamol-containing products to be suspended from EU market. http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Referrals_document/Paracetamol_31/Position_provided_by_CMDh/WC500240439.pdf (15.12.2017).
4 Weiler S, Bellmann R, Kullak-Ublick GA. 5-0xoproline (pyroglutamic acid) acidosis and acetaminophen- a differential diagnosis in high anion gap metabolic acidosis. Ther Umsch. 2015;72(11–2): 737–41.
5 Rumack BH, Matthew H. Acetaminophen poisoning and toxicity. Pediatrics. 1975;55(6):871–6.
6 Faber K, Reichert C, Rauber-Lüthy C. Merkblatt Akute, einmalige Paracetamolvergiftung. Tox Info Suisse. Juni 2017. http://toxinfo.ch/customer/files/243/MB-Paracetamol_2017_06_d.pdf.
7 Faber K, Reichert C, Rauber-Lüthy C. Merkblatt Paracetamolvergiftung: Wiederholte Einnahme. Tox Info Suisse. Mai 2013. http://toxinfo.ch/customer/files/243/MBParacetamol_wiederholt_2013_05_03_d_neues-Logo.pdf.