Ethische Fragestellungen im Kontext digitaler Transformation des Gesundheitswesens
Diskussion eines Beispiels im Rahmen des ersten Basler Digital Ethics Symposium

Ethische Fragestellungen im Kontext digitaler Transformation des Gesundheitswesens

Aktuell
Ausgabe
2018/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03409
Swiss Med Forum. 2018;18(48):1001-1005

Affiliations
a Autor als Privatperson; b Onkologie, Kantonsspital Baselland und Universitätsspital Basel; c Zentrum für Life Sciences-Recht, Juristische Fakultät
der Universität Basel; d Abteilung für medizinische Informationswissenschaften, HUG – Universitätskliniken Genf; e Reproduktionsmedizin und
gynäkologische Endokrinologie / Andrologie, Universitätsspital Basel; f CMIO Office, Ärztliche Direktion, Universitätsspital Basel

Publiziert am 28.11.2018

Was geschieht mit erhobenen Daten und wessen Eigentum sind sie? Im Rahmen des ersten Basler Digital Ethics Symposium nehmen Experten anhand eines Beispiels Stellung.

Einleitung

PD Dr. med. Jens Eckstein, PhD
Mit grossem Enthusiasmus und noch grösseren Hoffnungen für die Zukunft der Medizin verfolgen wir den Prozess und die Forschung zur Digitalisierung der Medizin. Fast monatlich eröffnen sich neue Perspektiven, die uns zu Ideen anregen, wie diese Fortschritte zum Nutzen unserer Patienten in das Gesundheitswesen implementiert werden könnten. Fast ebenso schnell werden neue Verfahren, die eben noch bahnbrechende Neuerungen waren, in den klinischen Alltag übernommen und Bedenken, die zuvor bestanden haben, ad acta gelegt.
Dass in diesem Bereich Fragen der Gesellschaft noch nicht ausreichend beantwortet sind, zeigt sich mitunter an wenig rational begründeten Ängsten und Vorbehalten gegenüber Themen im Bereich der Genetik und einer tendenziell zunehmenden Unsicherheit, wenn es um die Erhebung, Speicherung und Auswertung von gesundheitsrelevanten Daten geht. Spätestens seit den jüngsten Skandalen um grosse Internet-Firmen beschäftigen sich auch zuvor weniger kritische Gruppen mit der Frage, was eigentlich mit ihren Daten geschieht und wessen Eigentum sie sind. Die bestehenden gesellschaftlichen Regeln müssen angepasst werden und entsprechende Gesetze für Rechtssicherheit bei der Digitalisierung der Medizin sorgen.
Die nachfolgende Schilderung einer persönlichen Geschichte vereint beide Themen in sehr anschaulicher Art und Weise, so dass wir sie als Diskussionsgrundlage für eine Expertenrunde im Rahmen des ersten Basler Digital Ethics Symposium im November 2018 verwenden konnten. Dementsprechend sollen Stellungnahmen der Experten auch keine abschliessenden dogmatischen Beurteilungen darstellen, sondern die Grundlage für Diskussion und Austausch sein.

Persönliche Erfahrungen mit ­genetischer Diagnostik

Dr. sc. Mirko Bischofberger
Im Jahr 2002, ich war damals Student der Biochemie an der ETH Zürich, wurde bei meinem Vater Lungenkrebs diagnostiziert. Damals entdeckte man Lungenkrebs meist durch Zufall, beispielsweise in einem Röntgenbild, im Rahmen einer Operationsvorbereitung. So war es auch bei meinem Vater, dem eine Hüftoperation bevorstand.
Da es sich um den zweiten Fall in meiner Familie handelte, empfahl mir der behandelnde Onkologe damals, ab meinem 40. Lebensjahr regelmässige Vorsorge­untersuchungen durchzuführen. Am Ende sei die Früherkennung entscheidend für die Prognose.
Bedauerlicherweise starb mein Vater. Ich setzte mein Studium fort und lernte, dass viele Krebsarten genetische Ursachen oder zumindest genetische Prädispositionen haben. Einige der beteiligten Gene wurden ­gerade erst entdeckt, im Detail erforscht und beschrieben.

15 Jahre später

Heute nähere ich mich meinem 40. Lebensjahr. Die Medizin hat sich weiterentwickelt und man weiss, dass viele Arten von Lungenkrebs spezifische genetische Mutationen aufweisen.
Darum fragte ich mich: Wäre es nicht hilfreich für mich zu wissen, ob ich eine dieser Mutationen in mir trage? Es könnte mir helfen, mein persönliches Risiko einzuschätzen und zu entscheiden, wie häufig ich zum Beispiel eine Röntgenuntersuchung durchführen lassen würde. Ausserdem wäre diese Information behandlungsrelevant, sollte ich jemals an Lungenkrebs erkranken.
Dank rasanter technischer Entwicklungen ist es heutzutage möglich sein Genom einfach und günstig sequenzieren zu lassen (oder zumindest gewisse Genmutation zu identifizieren). Ich entschied mich dafür und kontaktierte meinen Hausarzt. Zu meiner Überraschung erfuhr ich aber, dass solche Untersuchungen nur im Rahmen einer onkologischen Therapie durchgeführt werden und dementsprechend auch nur, wenn ich tatsächlich Krebs hätte. Diese Antwort erstaunte mich, weil dieses Vorgehen rein auf eine therapeutische Orientierung ausgelegt war und mir keine Möglichkeit bot herauszufinden, welche genetische Kon­stellation ich habe.
Um doch noch zu meinem Ziel zu kommen, kontaktierte ich die Abteilung für Onkologie des Universitätsspitals in Zürich. Auch hier wurde mir mitgeteilt, dass eine genetische Analyse bei gesunden Patienten nicht empfohlen sei. Mir wurde detaillierter erklärt, dass es zwar wahrscheinlich sei, dass man beliebige Mutationen finden würde, aber in der Folge diese Informa­tionen nicht verlässlich interpretieren könnte. Im schlimmsten Falle würde ich mit der Angst leben müssen, Krebs zu bekommen, auch wenn dies vielleicht nie eintreten würde.
Mir erschien diese Argumentation unlogisch und unwissenschaftlich. Warum würde die moderne Medizin eine Information, die sie im Falle einer Krebserkrankung ohnehin benötigen würde, nicht bereits vorher erheben, um mehr über mögliche Risiken für das Auftreten zu erfahren? Seit wann stellt die Wissenschaft keine Fragen aus Angst vor der Antwort? Und warum entscheiden Ärzte darüber, was ich über meinen Körper erfahren soll und was nicht? Ausserdem lebe ich bereits mit einer gewissen Sorge, warum ist es dann nicht an mir zu entscheiden, wie ich mit diesem ­Wissen umgehen werde?
Egal wie ich argumentierte, ich bekam keine Möglichkeit, mein Anliegen weiter zu verfolgen, weil das gegenwärtige Schweizer Gesetz es nicht zulässt, eine genetische Analyse ohne medizinische Indikation durchzuführen.
Als Wissenschaftler wusste ich aber, dass es ein Leichtes sein würde, die Untersuchungen zum Beispiel in den USA durch private Firmen durchführen zu lassen. Dieser Ansatz hätte jedoch seinen Preis – nicht nur monetär. Die meisten dieser Anbieter werden nämlich ganz oder teilweise geführt von «big data»-Unternehmen, die profitorientiert arbeiten.
Vor diesem Hintergrund stellte sich mir somit eine völlig neue Frage: Wäre ich bereit, meine genetischen Daten an ein privates Unternehmen zu geben, wie ich es beispielsweise mit meinen Emails bei Google und meinen Fotos bei Facebook mache?
Seit dieser Erkenntnis befinde ich mich im Konflikt zwischen unserem restriktiven Gesundheitswesen, das mich daran hindert, mein Genom zu sequenzieren, und einer serviceorientierten Industrie im Ausland, die mir diese Leistung zwar anbietet, in der Folge aber vermutlich meine genetischen Daten kapitalisieren würde. Anders formuliert, weshalb kann ich mein Genom nicht in der Schweiz analysieren lassen und so die Kontrolle über meine Daten behalten? Warum ist dies keine legale, bezahlbare Option in der Schweiz?
Mein Anliegen ist, dass es in der Schweiz bald die Möglichkeit und die entsprechenden Gesetze hierfür gibt. Schliesslich sind die Schweizer heute in der Lage, ihren Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen. Warum sollten sie dann nicht auch entscheiden, was sie mit ihren genetischen Daten anfangen wollen?

Technisch kein Problem – Interpretation der Befunde schwierig

PD Dr. med. Andreas Wicki, PhD
Die Analyse des menschlichen Erbguts ist heute rasch und günstig zu haben. Ein modernes Sequenziergerät kann bis zu acht komplette Genome pro Tag analysieren. Viele Spitäler haben heute eine Reihe von solchen Maschinen in Betrieb, da sie damit nicht nur Tumoren analysieren, sondern auch Bakterien oder Viren bei Patienten nachweisen können. Die Untersuchung eines ganzen menschlichen Genoms für wissenschaftliche Zwecke ist für 3000 SFr. zu haben.
Das Problem liegt nicht in der Verfügbarkeit oder ­Verlässlichkeit der Analyse, sondern vielmehr in der Interpretation der Resultate. Auch hier ein Beispiel: Fusionsgene wie Bcr/Abl oder Alk sind potente Treibermutationen, die Malignome hervorrufen können. Beide Veränderungen des Erbguts können aber auch bei gesunden Menschen beobachtet werden. Ein Tumor entsteht offenbar nur, wenn die Mutation in der «richtigen» Umgebung vorkommt.
Aktuelle Schätzungen nach Sequenzierung des Erbguts von ca. 1% der weltweiten Krebspatienten lassen vermuten, dass in allen Tumoren zusammen ca. 106 Mutationen und ca. 108 Kombinationen von Mutationen zu finden sind. Die Anzahl Krebspatienten auf der Welt wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit 3,3 × 107 beziffert. Wenn das stimmt, dann gibt es rechnerisch mehr Genotypen als Krebspatienten. Deshalb haben wir auch noch kein tieferes Verständnis, was solche Genveränderungen für (gesunde oder erkrankte) Menschen bedeuten. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel.
Persönlich finde ich, jeder Mensch sollte sein Genom sequenzieren lassen können, wenn er oder sie es wünscht. Man muss sich aber bewusst sein, dass die Bedeutung vieler genetischer Befunde heute noch unklar ist. Deshalb gibt es auch Restriktionen bei der Vergütung solcher Tests durch die Krankenkassen.

Rechtliche Aspekte und Rechtsfragen 
bei der Bestimmung und Interpretation genetischer Daten im Bereich der Gentechnologie und der Gensequenzierung

Prof. Dr. iur. Claudia Seitz, M.A.
Der Fortschritt in der medizinischen und biotechnologischen Forschung, insbesondere in den Bereichen der genetischen Diagnostik und der personalisierten Medizin, stellt das Recht vor neue und ungeahnte Herausforderungen. Das Recht, das mit dem regulatorischen Rechtsrahmen bestimmte Rechtsgüter wie die Würde des Menschen, das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützen soll, ist im Bereich der Biotechnologie ständig vor neue Herausforderungen gestellt und hinkt der Lebenswirklichkeit sehr oft hinterher. Für bahnbrechende Neuerungen in der Medizin und Biotechnologie besteht so zunächst oftmals kein hinreichender Rechtsrahmen.
Die Rechtssetzung ist ein gesellschaftlicher und politischer Prozess und steht vor zahlreichen Herausforderungen, die vom Ausgleich verschiedener ethischer Wertvorstellungen über Sicherheits- und Risikofolgenabschätzung bis hin zu Fragen der Wechselwirkung mit bereits bestehenden Rechtsnormen führen. Gerade im Bereich der Gentechnologie, mit den neuen ungeahnten Möglichkeiten wie sie etwa die Genomsequenzierung oder die CRISPR Cas9-Technologie bieten, fehlt sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene ein hinreichender Rechtsrahmen.
Neben einer Genomeditierung ist eine Genomsequenzierung aufgrund der rasanten technischen Entwicklungen mittlerweile relativ einfach und günstig möglich. Gerade in diesem Bereich stellen sich im Hinblick auf die Bestimmung und Interpretation genetischer Daten zahlreiche Rechtsfragen, die geklärt werden müssen, bevor ein entsprechender Rechtsrahmen neu geschaffen wird.
Genetische Daten stellen aus rechtlicher Sicht besonders sensitive Daten dar, da sie Aussagen über das ­Individuum und seinen Gesundheitszustand zulassen und eines besonderen Schutzes bedürfen. Wie sollen diese besonders sensitiven Daten vor Missbrauch ­geschützt werden? Wer soll Zugang haben? Wem gehören diese Daten? Dürfen diese Daten für Forschungsprojekte zur Entwicklung neuer Therapiemöglichkeiten und zum Wohl aller verwendet werden? Was ist der Umfang eines Rechts auf Nichtwissen bei Zufallsfunden? Welche Rückschlüsse lassen genetische Daten einer Person auf ihre nahen Verwandten zu und wie sind diese Personen zu schützen, insbesondere dann, wenn sie von einer Genomsequenzierung des nahen Angehörigen keine Kenntnis und mithin auch nicht zugestimmt haben? Welche Informations- und Mitteilungspflichten treffen Ärzte, wenn der genetische ­Befund unklar ist? Wie sind genetische Daten grenzüberschreitend vor missbräuchlicher Verwendung zu schützen?
Dies sind nur einige der Fragen, die sich im Hinblick auf genetische Daten stellen. Es braucht einen Dialog zwischen Medizin, Biotechnologie, der Gesellschaft und dem Gesetzgeber, um einen neuen Rechtsrahmen zu schaffen, der vor Missbräuchen und Risiken schützt und der Forschung, der medizinischen Behandlung und nicht zuletzt den Patienten eine Richtschnur zur Orientierung gibt.

Sind meine persönlichen Daten in der Schweiz besser geschützt?

Prof. Dr. med. Christian Lovis
Bei der Betrachtung der Situation zum Schutz persönlicher Daten in der Schweiz kann man zwei Perspektiven wählen: Wie sollte es sein – und wie ist es tatsächlich?

Der rechtliche Rahmen

Die Schweiz verfügt über einen sehr starken rechtlichen Rahmen, der persönliche Daten schützt. Dieser Schutz beginnt bei der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (29. Mai 1874). Das Recht auf Privatsphäre (Artikel 13) wird in der Verfassung als Grundrecht betrachtet und besagt:
– Jede Person hat das Recht auf Privatsphäre in ihrem Privat- und Familienleben, zuhause sowie in Bezug auf ihre Post und Telekommunikation.
– Jede Person hat das Recht, gegen den Missbrauch ihrer persönlichen Daten geschützt zu werden.
Ergänzend zu Artikel 13 gibt es einen starken Schutz gegen Beschränkungen der Grundrechte (Artikel 36): Beschränkungen der Grundrechte müssen eine Rechtsgrundlage haben. Signifikante Einschränkungen können nur auf der Basis des Bundesgesetzes umgesetzt werden. Einzige Ausnahme bildet der Fall ernsthafter und unmittelbarer Gefahr, wenn kein anderes Vorgehen möglich ist. Beschränkungen der Grundrechte müssen im öffentlichen Interesse oder zum Schutz der Grundrechte anderer gerechtfertigt sein. Etwaige Einschränkungen der Grundrechte müssen verhältnismässig sein.
Das Wesen dieser Grundrechte ist unantastbar.
Grundsätzlich gilt, dass im schweizerischen Rechtsrahmen ein starker Schutz der Privatsphäre besteht. Es gibt jedoch auch rechtliche Grundlagen, um diesen Schutz in bestimmten Fällen aufzuheben.
Im Gesundheitssystem ist neben der üblichen Informationsübermittlung im Sinne der öffentlichen Gesundheit und des Bevölkerungsschutzes das Gesetz zur Krankenversicherung (Artikel 42) die wichtigste Ausnahme. Es ermöglicht eine umfasssende Informationsübermittlung an die für die Abrechnung und Kontrolle der Angemessenheit des Ressourcenverbrauchs verantwortlichen Organe.
Zwei Instrumente fehlen jedoch im schweizerischen Rechtsrahmen:
1. Es gibt keine Verpflichtung, Verstösse zu deklarieren, wie dies zum Beispiel beim Portal der US-Behörde für Gesundheit und Soziale Dienste für Rechte besteht.
2. Die Möglichkeiten der Exekutive sind, insbesondere bei massivem Missbrauch oder der Verletzung von Daten von Unternehmen, begrenzt.
Mit wenigen Ausnahmen hat die Schweiz einen starken rechtlichen Rahmen zum Schutz der Privatsphäre.

Datenproduktion, -nutzung und -schutz

Die massive Digitalisierung der Gesellschaft hat zahlreiche Auswirkungen, von denen einige schwer vorhersehbar waren. Gleichzeitig gibt es viele neue Quellen für personenbezogene Daten, die in vier verschiedene Kategorien eingeteilt werden können:
– Öffentliche oder halb-öffentliche, von Bürgern generierte Daten. Dazu gehören Fitness-Systeme, Smartphones, Aktivitäts-Tracker, soziale Medien etc. Diese halböffentlichen Daten, wie beispielsweise Kontakte in sozialen Medien, sind vermeintlich auf diese Medien beschränkt.
– Daten von verschiedenen Einrichtungen wie Verbraucheraktivitäten, Banken, Geolokalisationsdaten, Kommunikations- und Internet-Navigations-Daten etc. Diese Daten sind vermeintlich privat.
– A priori private oder halbprivate Daten wie Gesundheitsdaten, Steuerdaten, militärische Daten etc. Diese Daten gelten als privat oder streng beschränkt auf den Kreis von Personen, die ein Recht auf Zugang zu ihnen haben.
– Automatisch oder halbautomatisch generierte Daten. Diese Daten werden oft unbewusst durch Objekte im Internet der Dinge, Autos oder vernetzte Geräte etc. generiert. Sie werden als privat oder anonymisiert betrachtet, die meisten Menschen sind sich aber oft nicht bewusst, dass sie existieren.
Insgesamt stehen somit potenziell viele Daten zu jedem Bürger zur Verfügung. Diese Daten können von jeder datenproduzierenden Entität verwendet werden. So kann zum Beispiel eine Bank ihre Daten, die sie über eine Person gesammelt hat, verwenden, um das persönliche Risiko einer Kreditvergabe zu kalkulieren.
Es gibt allerdings zunehmend Akteure in verschiedenen Bereichen der Datenproduktionslandschaft (Banken, Fitness-Anbieter, Gesundheitswesen, ...) mit dem Potenzial, sehr grosse multimodale Datenquellen über Einzelpersonen zu aggregieren oder Kohorten von Bürgern zu identifizieren.
Darüber hinaus ermöglichen Datenverknüpfungs­algorithmen trotz der Barrieren, die durch De-Identifizierungsverfahren zum Schutz der Identitäten entstehen, Daten, die primär voneinander getrennt erscheinen, aus heterogenen Quellen zusammenzutragen. Zum Beispiel können Daten aus sozialen Medien, Geolokalisierung und Kreditkartennutzung fusioniert werden, um persönliche Profile zu erstellen. Es ist von Bedeutung, dass ein grosser Teil dieser Daten nicht in der Schweiz und auch nicht in Europa gespeichert wird. Sie werden meist in nichttransparenter Weise für verschiedene Zwecke verwendet, wie beispielsweise der jüngste Skandal von Facebook und Cambridge Analytica zeigte. Letzteres Unternehmen ­meldete nach missbräuchlicher Verwendung von Facebook-Daten Konkurs an, liess jedoch viele Fragen unbeantwortet, wie diejenige zu der Zukunft des geistigen Eigentums des Unternehmens – insbesondere die zu den sogenannten psychographischen Wählerprofilen (The New York Times, 2. Mai 2018).
Der Datenmarkt ist global und intransparent und der schweizerische Rechtsrahmen schützt wenig vor Datenmissbrauch in einem globalisierten Markt.
Zusammenfassend hat die Schweiz gute Bestimmungen zum Schutz von Daten, die nach dem schweizerischen Rechtsrahmen isoliert werden können. Das heisst, Daten die in der Schweiz generiert, gelagert und verarbeitet werden. Ausserhalb dieser Grenzen besteht ein globaler Datenmarkt und ein Geschäft, in dem individuelle Daten als ein wertvolles Gut betrachtet werden, das potenziellen Gewinn generiert. In diesem Fall ist es schwer zu erkennen, für welchen Verwendungszweck Daten gebraucht oder missbraucht werden und welche Folgen damit verbunden sind.

Wie umgehen mit der Unsicherheit genetisch basierter Prognosen?

Dr. rer. nat. Maria De Geyter
Genetische Untersuchungen in der Medizin haben unterschiedliche Anwendungen und Zielsetzungen. Einerseits gibt es diagnostische Tests, die eingesetzt werden, um eine Diagnose stellen zu können und so Patienten zu einem Krankheitsbild zuzuordnen oder dieses zu bestätigen. Auch genetische Erkrankungen unterliegen wie praktisch alle Erkrankungen in der Medizin einer grossen Variabilität. Eine Diagnose erlaubt somit keine definitiven Rückschlüsse auf die Prognose. Ein Beispiel hierfür ist die Veranlagung zum hereditären Brust- und Ovarialkrebs, bedingt durch Mutationen in den BRCA1- und BRCA2-Genen. Trägerinnen solcher Mutationen haben ein deutlich erhöhtes Risiko gegenüber der Allgemeinbevölkerung, unter anderem Brust- und Eierstockkrebs zu entwickeln. Dennoch beträgt dieses Risiko nicht 100%, so dass manche Trägerinnen nie an Krebs erkranken, während einige an Brustkrebs, andere an Ovarialkrebs oder wieder andere mehrfach an Krebs erkranken. Die genetische Untersuchung erlaubt hier nur, die Risikogruppe der BRCA1/2-Trägerinen zu identifizieren und Vorsorgeuntersuchungen in die Wege zu leiten, aber keine genaue Prognose für die Einzelperson.
Ein anderes Beispiel ausserhalb der Krebsveranlagungen ist die Trisomie 21, das Down-Syndrom. Ursache hierfür ist ein drittes Chromosom 21 anstatt der üblichen zwei. Während einige Kinder mit einem Down-Syndrom Herz- und/oder Nierenfehlbildungen aufweisen, früh eine Leukämie entwickeln oder eine stärkere Intelligenzminderung aufweisen, haben andere Kinder keine organischen Fehlbildungen oder weitaus bessere kognitive Leistungen.
Was die Ursache dieser Variabilität ist, wird derzeit intensiv erforscht. Wahrscheinlich ist, dass auch Veränderungen in den anderen 20 000 Genen eine Erkrankung positiv wie negativ beeinflussen können, ebenso wie Wechselwirkungen mit der Umwelt. Schlussendlich kann die genetische Ursache zwar oftmals ein Spektrum angeben, die individuelle Prognose sollte sich aber immer auch an den klinischen Parametern orientieren.
Genetische Untersuchungen werden zunehmend auch im prognostischen Bereich eingesetzt. Bei vielen Krebserkrankungen wird heutzutage im Krebsgewebe gezielt nach genetischen oder chromosomalen Veränderungen gesucht, um die Prognose der jeweiligen Erkrankung zu präzisieren und die therapeutischen Massnahmen entsprechend anzupassen. So haben beispielsweise Leukämiepatienten mit einer P53-Mutation eine schlechtere Prognose als solche ohne Mutation. Auch können solche Informationen helfen, die Therapie anzupassen und zu individualisieren, wie beispielsweise im Fall, wenn im Tumorgewebe eine BRAF-Mutation vorliegt. Dies wird insbesondere in der personalisierten Medizin angewendet.
Zusammenfassend gilt es dementsprechend zu bemerken, dass selbst bei bekannten Assoziationen zwischen genetischen Mutationen und Erkrankungen die genetischen Befunde nur ein Mosaikstück im Bild der individuellen Erkrankung sind und die Variabilität oft von «gesund» bis «schwer krank» reichen kann.

Zusammenfassung

PD Dr. med. Jens Eckstein, PhD
Die vorliegenden Beiträge veranschaulichen, wie viele unterschiedliche Aspekte bei einem vermeintlich einfachen Wunsch nach der Sequenzierung des eigenen Genoms zum Tragen kommen. Selbstverständlich handelt es sich auch hierbei nur um einen Bruchteil der zu berücksichtigenden Fragen. Wie so oft bedarf es zur Aufarbeitung komplexer Fragestellungen der verschiedenen Perspektiven von Experten und der leider oft vergessenen Betroffenen. Ich möchte an dieser Stelle Herr Dr. Bischofberger für seine Bereitschaft danken, seine Geschichte mit uns zu teilen. Sie ermöglicht uns, eine schwierige Diskussion anhand eines anschaulichen Beispiels zu führen. Für die Diskussion danke ich ganz herzlich den Koautoren und den Teilnehmern des ersten Basler Digital Ethics Symposiums. Solange offene Gespräche zu ethischen Fragen neuer Technologien stattfinden, entwickeln wir uns als Gesellschaft weiter und erlangen mit dem unvermeidbaren Zeitversatz am Ende doch einen gesellschaftlichen Konsens und einen Rechtsrahmen, der gemeinsam getragen werden kann.
Wir danken Frau Julie De Geyter für ihre Unterstützung beim Verfassen dieses Textes.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med. Jens Eckstein, PhD
Petersgraben 4
CH-4031 Basel
jens.eckstein[at]usb.ch