Dyslipidämien: Wie sind die neuen Empfehlungen in der Praxis anzuwenden?
Neue Empfehlungen der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA/GSLA)

Dyslipidämien: Wie sind die neuen Empfehlungen in der Praxis anzuwenden?

Editorial
Ausgabe
2018/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03419
Swiss Med Forum. 2018;18(47):973-974

Affiliations
a Medizinische Poliklinik, Klinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital und Institut für Hausarztmedizin Bern (BIHAM), Universität Bern
b Abteilung für Medizin CHUV, Lausanne

Publiziert am 21.11.2018

In der vorliegenden Ausgabe des Swiss Medical Forum sind die neuen Empfehlungen der Arbeitsgruppe Lipide und Athero­sklerose (AGLA/GSLA) zu finden; sie haben für Patienten, Praktiker und Versicherer einen grossen Impact.
Basieren die vorgeschlagenen Änderungen auf randomisierten Studien mit einem hohen Wirksamkeitsnachweis und gelten sie für die Mehrheit der Betroffenen? Im Jahr 2013 haben amerikanische Experten bereits die Indikationen für eine Dyslipidämie-Behandlung ausgeweitet [1], indem eine routinemässige Behandlung für jeden LDL-Cholesterin-Wert ≥4,9 mmol/l eingeschlossen wurde, indem das Verschreibungsalter für Statine bei Verdacht auf familiäre Hypercholesterinämie auf 12 Jahre gesenkt wurde und indem die zwei stärksten Statine (Rosuvastatin und Atorvastatin) in hohen Dosen für die Mehrzahl der Risikopatienten empfohlen wurden. Im Jahr 2014 beschloss die AGLA, den amerikanischen Empfehlungen nicht zu folgen, insbesondere um eine Überbehandlung von jungen Menschen mit einem blossen Verdacht auf familiäre Hypercholesterin­ämie zu vermeiden; ebenso wurde die Einschränkung der Auswahl der Statine nicht übernommen angesichts des nachgewiesenen ­Risikos für potentielle unerwünschte Wirkungen unter hochdosierten Statinen, besonders bei multimorbiden Patientinnen und Patienten [2]. Im Jahr 2016 hat die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) beschlossen, die amerikanischen Empfehlungen in groben Zügen zu übernehmen [3] und das Alter eines Behandlungs­beginns für Kinder mit Verdacht auf familiäre Hypercholesterin­ämie auf 8 Jahre zu senken. In diesem Zusammenhang hat auch die AGLA entschieden, ihre Empfehlungen zu überarbeiten, insbesondere um in Übereinstimmung mit der ESC zu bleiben.
Die AGLA hat gewisse Schweizer Eigenheiten beibehalten, die uns angesichts der epidemiologischen Situation in der Schweiz (geringes kardiovaskuläres Risiko im Vergleich zu den nordischen Ländern oder Ost­europa) gerechtfertigt erscheinen. Der kardiovaskuläre Risiko-Score der AGLA [4] wird weiterhin empfohlen, da er besser an unsere Bevölkerung angepasst ist und somit das Risiko einer «Überbehandlung» auf der Basis eines nicht an die Population angepassten prädiktiven Scores vermeidet; auch das Risiko, den Fokus nur auf relativ alte Menschen zu richten, wird vermieden im Gegensatz zum ESC-Score, der auf der kardiovaskulären Mortalität basiert (anstelle der kardiovaskulären Morbidität). Für den Grossteil der Bevölkerung mit geringem Risiko, definiert durch ein kardiovaskuläres Risiko <10% über 10 Jahre nach dem AGLA-Score [4], werden nur Empfehlungen zu Lebensgewohnheiten ohne Medikation vorgeschlagen.
Die neuen Richtlinien der AGLA folgen den Kardiologen, indem sie anerkennen, dass Nüchtern-Lipidmessungen nicht immer erforderlich sind. Die AGLA weist jedoch deutlich auf die Grenzen dieser Massnahme hin, insbesondere für Patienten mit Hypertriglyzerid­ämie oder Diabetiker, bei denen der LDL-Spiegel falsch tief werden kann, wenn sie nicht fasten.
Unter den kontrovers diskutierten Fragen empfiehlt die AGLA wie die Amerikaner und die ESC eine Behandlung aller Patienten mit LDL-Werten ≥4,9 mmol/l. Ist das gerechtfertigt? Leider gibt es keine randomisierten Studien, die diese Frage beantworten. Das Ziel dieser Schwelle ist es, eine familiäre Hypercholesterinämie nicht zu übersehen, da diese Erkrankung oft im Alter zwischen 20 und 60 Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis verursacht. Ein solcher Schwellenwert hat jedoch für eine familiäre Hypercholesterinämie einen posi­tiven Vorhersagewert von nur 11% [5], und 7% der Erwachsenen haben einen LDL-Wert ≥4,9 [6] (Prävalenz der familiären Hypercholesterinämie: 0,5% der Erwachsenen). Das Alter für den Beginn der Behandlung bei dieser Krankheit wurde ebenfalls auf 8 Jahre gesenkt, ohne dass klare Beweise für einen Vorteil eines so frühen Therapiebeginns im Hinblick auf kardiovaskuläre Ereignisse vorliegen, wo doch die meisten Ereignisse in einem Alter über 30 Jahren auftreten [7]. Es erscheint daher sinnvoll, eine individuelle Bewertung jeder Patientin und jedes Pa­tienten mit einer genauen klinischen Diagnostik vorzunehmen, insbesondere mit Hilfe klinischer Anzeichen wie frühem Arcus lipoides corneae oder Sehnen­xanthomen (sehr spezifisch), um eine über­mässige Medikamentenverschreibung zu vermeiden.
Im Hinblick auf neue PCSK9-Inhibitoren sind die Empfehlungen der AGLA etwas konservativer als jene der ESC, die grosse Patientengruppen umfassen, einschliesslich Verdacht auf familiäre Hypercholesterin­ämie, muskuläre Unverträglichkeit gegenüber Statinen (bis zu 20% der behandelten Patienten!) und sogar Patienten mit sonografisch nachgewiesenen Karotis-Plaques [8]. Den Einschränkungen durch das BAG folgend, sind die Schweizer Empfehlungen restriktiver und fokussieren vor allem auf Patienten mit einem ­grossen kardiovaskulären Risiko oder mit Verdacht auf familiäre Hypercholesterinämie. Es handelt sich jedoch, wie oben bereits erwähnt, um Patienten mit Verdacht auf diese Erkrankung. Eine Verbesserung der Prognose durch Hinzufügen dieser neuen Medikamente zu den Statinen wurde bisher nur bei Patienten gezeigt, die bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung haben [9]. Bei einer Abnahme des LDL-Cholesterins >50% war der Vorteil kleiner als erwartet, mit einer Senkung des relativen Risikos kardiovaskulärer Ereignisse um 15% und des absoluten Risikos um 1,5%, entsprechend einer Anzahl der notwendigen Behandlungen (NNT) von 67 über 2 Jahre hinweg. Die Kosten bleiben ebenfalls relativ hoch bei USD 350 000/QALY [10], was viel höher ist als die USD 100 000/QALY, die für die Qualifikation als kosteneffektive Behandlung akzeptiert werden. In diesem Kontext scheint es derzeit sinnvoll, diese Behandlung vor allem auf Personen mit sehr hohem Risiko zu beschränken und gleichzeitig auf eine schnelle Senkung der Kosten zu hoffen.
Eine relativ kontroverse Empfehlung sind die Zielwerte bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz: LDL <1,8 mmol/l bei einer Clearance <30 ml/min/1,73 m2 (sehr hohes Risiko) und <2,6 mmol/l für eine Clearance <60 (hohes Risiko). Welche Belege gibt es für diese Ziele? Studien bei Dialysepatienten zeigten enttäuschende Ergebnisse ohne Nutzen für das kardiovaskuläre Risiko. Bei Patienten mit weniger fortgeschrittener Nierenfunktionsstörung zeigte vor allem die SHARP-Studie [11], dass eine Kombination von Simva­statin 20 mg und Ezetimib 10 mg zu einer relativen Risikoreduktion von 17% für grosse kardiovaskuläre Ereignisse führte, bei ­einer absoluten Risikoreduktion von 2,1%. Keine Studie hat jedoch verschiedene LDL-Zielwerte getestet, im Gegensatz zum akuten Koronarsyndrom, für welches Untersuchungen gezeigt haben, dass ein Zielwert <1,8 eine Verbesserung der kardiovaskulären Prognose ermöglicht. Es erscheint daher vernünftig, wenn praktizierende Ärztinnen und Ärzte diese Empfehlungen mit Vorsicht anwenden, insbesondere bei älteren multimorbiden Patienten, die häufig Polypharmazie, eingeschränkte Nieren- und Leberfunktion und daher ein erhöhtes Risiko für Statin-Intoleranz und unerwünschte Wirkungen einschliesslich Rhabdomyolyse mitbringen.
Zusammenfassend erscheint es uns vernünftig, dass praktizierende Ärzte der Mehrheit der AGLA-Empfehlungen folgen, jedoch bestimmte Empfehlungen mit Vorsicht und gemäss ihrer eigenen klinischen Beurteilung anwenden, um eine Übermedikation zu vermeiden. Für die Zukunft scheint uns wesentlich, dass die Empfehlungen von Fachgruppen auf klaren Beweisen für eine Verbesserung der Prognose der Patientinnen und Patienten basieren und dass in jeder Empfehlung ein Evidenzgrad angegeben wird!
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Nicolas Rodondi
Medizinische Poliklinik
Klinik für Allgemeine ­Innere Medizin
Inselspital und Institut für Hausarztmedizin Bern (BIHAM)
Universität Bern
CH-3010 Bern
Nicolas.Rodondi[at]insel.ch
 1 Stone NJ. Reducing residual risk in secondary prevention of cardiovascular disease. Circulation. 2012;125(16):1958–60.
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 3 Catapano AL, Graham I, De Backer G, et al. 2016 ESC/EAS Guidelines for the Management of Dyslipidaemias. Eur Heart J. 2016;37(39):2999–3058.
 4 AGLA. Swiss Atherosclerosis Association https://www.agla.ch.
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 9 Sabatine MS, Giugliano RP, Pedersen TR. Evolocumab in patients with cardiovascular disease. N Engl J Med. 2017;377(8):787–8.
10 Lyko C, Blum M, Aubert C, Gencer B, Rodondi N, Collet TH. Inhibiteurs de PCSK9. Forum Med Suisse. 2017;17(45):8.
11 Baigent C, Landray MJ, Reith C, et al. The effects of lowering LDL cholesterol with simvastatin plus ezetimibe in patients with chronic kidney disease (Study of Heart and Renal Protection): a randomised placebo-controlled trial. Lancet. 2011;377(9784):2181–92.