Editors' Choice
Das «Kurz und bündig» noch aktueller lesen: «online first» unter www.medicalforum.ch

Editors' Choice

Kurz und bündig
Ausgabe
2018/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.08018
Swiss Med Forum. 2018;18(5152):1075-1076

Publiziert am 19.12.2018

Festtagsausgabe

Mit zwei Festtagsausgaben «Kurz und bündig», verfasst von der ganzen Redaktion, berichten wir über uns speziell beeindruckende Publikationen des Jahres 2018. Beeindruckend wegen der Studien­idee, Methodik oder der Ergebnisse, wobei wir eine Vorliebe für Resultate, die unser selbstverständlich genommenes klinisches Vorgehen in Frage stellen, nicht verschweigen.
Wir möchten uns mit diesen «Sonderausgaben» ganz herzlich bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihr grosses Interesse dem Swiss Medical Forum gegenüber und auch allen Autorinnen und Autoren sowie den Reviewerinnen und Reviewern für die Vielzahl der ausgezeichneten Beiträge und die aufbauend-kritischen, hilfreichen Kommentare bedanken.
Wir wünschen Ihnen allen frohe Festtage und einen guten Start ins 2019.
© Nikkytok | Dreamstime.com

Editors’ Choice 2018

Aus der Feder eines Lieblingsautors

Im «Leben des Galilei» von Bertold Brecht kann man lesen: «Eine Hauptursache der ­Armut in den Wissenschaften ist meist eingebildeter Reichtum. Es ist nicht ihr Ziel, der unend­lichen Weisheit eine Tür zu öffnen, sondern eine Grenze zu setzen dem unendlichen Irrtum.» Die erleuchtende Brillanz, mit der sich der griechisch-amerikanische Mediziner und Mathematiker John P.A. Ioannidis diese ­Maximen zu eigen machte, verfolgen wir seit der Lektüre seiner etwas drastisch betitelten Arbeit «Why Most Published Research Findings Are False» von 2005 [1] mit immer wiederkehrendem Gewinn.
Was bezeichnete Ioannidis damals als «falsch»? Es geht vor allem um den Härtegrad von Daten, Schlussfolgerungen und damit des Wissens schlechthin vieler Anwender/-innen, über den man sich aus den verschiedensten, zum Teil systematisch etablierten Gründen häufig täuscht. Dass man mit Statistik auch Unsinn «be­legen» kann, war zwar schon 2005 nichts Neues mehr. Etwas neuer sind dagegen immer konkretere Kritikpunkte und Vorstös­se zum Gebrauch der Statistik in der klinischen Forschung bis und mit solchen der «American Statistical Association» (ASA) [2]. Im Zentrum der Diskussion steht dabei der p-Wert, von dem die Schwelle von 0,05 tatsächlich schon fast den Status der von Brecht erwähnten Tür zu unendlicher Weisheit geniesst. Von Ioannidis erschien in 2018 eine äusserst lesenswerte Kritik des überhöhten Status von p <0,05: «The Proposal to Lower P Value Thresholds to .005» [3]. Sehr zur Lektüre empfohlen. Wir haben darauf auch schon im «Kurz und bündig» der Ausgabe 18/2018 hingewiesen [4].
1 PLoS Med 2005, doi.org/10.1371/journal.pmed.0020124.
4 Swiss Med Forum 2018, doi.org/10.4414/smf.2018.03279.

Der Knochen als Glukostat des Körpers

Das Skelett übt eine wichtige regulatorische Funktion in der Glukosehomeostase aus. Das Osteoblastenprotein Osteocalcin (in seiner sog. unter-decarboxylierten Form) wirkt als systemisches Hormon und fördert die Beta-Zellen-Proliferation, die Insulinproduktion und die periphere Insulinwirkung. Insulin seinerseits stimuliert via die Osteoblasten den Knochenumbauprozess und die Osteocalcin­produktion. Nun bekommt diese Achse eine weitere Bedeutung: Wenn man bei Osteoblasten die Hypoxie-induzierte Signalkaskade unterbricht (durch Zerstörung des sog. von-Hippel-Lindau-Gens [VHL]), nehmen diese massiv mehr Glukose aus der Zirkulation auf (verbesserte Glukosetoleranz), schalten auf einen vorwiegend glykolytischen Abbau der Glukose (als Warburg-Effekt u.a. bei Krebszellen bekannt) und bauen signifikant mehr Knochen auf, so dass die Knochenmasse ansteigt. Die Osteoblasten sind also prominente Determinanten des systemischen Glukose- und Insulinstoffwechsels via mindestens zwei Mechanismen: Osteocalcin und Hypoxie-Signale via Hypoxie-induziertem Faktor 1 (HIF1)-alpha/VHL. Eine erfolgreiche pharmakologische Modulation des letzteren könnte die Glukosetoleranz verbessern und die Knochenmasse erhöhen!
J Clin Invest 2018, doi.org/10.1172/JCI97794.

Migräne ist ein wichtiger kardiovaskulärer Risikomarker!

Ein Vergleich von etwa 51 000 Migränepa­tient(inn)en mit 510 000 migränefreien Individuen in der dänischen Bevölkerung ergab für eine Beobachtungszeit von 19 Jahren (!) eine Verdoppelung des Risikos, einen ischämischen Schlaganfall zu erleiden. Das Risiko war am grössten im Jahr, das auf die Migränediagnose folgte, sowie für Frauen und Migräneformen mit Aura. Weitere, etwas schwächere positive Assoziationen ergaben sich für Herzinfarkte, Enzephalorrhagien, venöse Thromboembolien und Vorhofflimmern/-flattern. Keine Assoziation zeigte sich für Herzinsuffizienz und periphere arterielle Gefässerkrankungen. Eine Migränediagnose sollte also zum Anlass genommen werden, weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren zu identifizieren und effektiv zu behandeln. Die interessante Frage, ob durch gute Kontrolle/Prävention der Migräneattacken das kardiovaskuläre Risiko per se reduziert wird, muss noch unbeantwortet bleiben.

Analgetika für Rücken-/Hüft-/Knieschmerzen: Raum (SPACE) 
für Änderungen

Die SPACE-Studie verglich randomisiert die Analgesie ohne Opiat-ähnliche Medikamente mit jener erreicht durch Opioide bei 240 Pa­tient(inn)en mit – trotz vorbestehender Analgesie – mittelstarken bis starken Schmerzen ausgehend von (Spondyl-)Arthrosen der ­Wirbelsäule, der Hüften oder der Knie. Die ­Interventionen enthielten in beiden Gruppen multiple Schmerzmittel, die je in einem 3-Stufen-Programm eskaliert wurden. Ziel war, sowohl die Schmerzen zu reduzieren als auch die schmerzbedingt eingeschränkten Gelenkfunktionen zu verbessern. Nach 12 Monaten wurden mittels Scores die schmerzbedingten Funktionseinschränkungen und die Schmerzintensität («brief pain inventory») verglichen.
Die schmerzbedingten Funktionseinschränkungen waren nach 12 Monaten in beiden Gruppen gleich, allerdings war die Schmerzintensität in der «Opioidgruppe» doch überraschend signifikant stärker, wenn auch das p lediglich 0,03 betrug. In der Opioidgruppe traten signifikant mehr medikamenteninduzierte Nebenwirkungen auf. Die nicht auf Opioiden basierende Schmerztherapie scheint also in diesen Indikationen der Analgesie mit Opioi­den zumindest ebenbürtig (mit dem Vorteil von weniger Nebenwirkungen) zu sein. Diese Studie, wenn auch klein und mit heterogenen Patient(inn)en, bestätigt immerhin die Resultate verschiedener systematischer Reviews und von Beobachtungsstudien. Die gesamte Datenlage spricht also gegen die Wahl von Opioiden zur Kontrolle von degenerativ bedingten Rücken-, Hüft- und Kniegelenkschmerzen.

Wen wähle ich? Hausarzt, Apotheker oder gar den Coiffeur meines Vertrauens?

Ein strenger akademischer Lehrer am Inselspital pflegte über Jahre, den von ihm als eher unbegabt (ab-)qualifizierten Student(inn)en eine Coiffeurlehre als Alternative zum Arzt­beruf zu empfehlen. Das Potential dieses Transfers kam jetzt ans Licht: Hypertensive, schwarze Kunden von Coiffeurgeschäften (>1 Haarschnitt alle 6 Wochen in den letzten 6 Monaten) wurden prospektiv randomisiert in eine Gruppe mit aktiver Kontrolle (der Coiffeur – nach entsprechender Schulung – empfahl konkrete Lebensstiländerungen und eine Konsultation beim Hausarzt) und in eine experimentelle Gruppe. Bei letzterer instruierten die Coiffeure die Patienten in ähnlicher Weise, wiesen aber die Kunden einem Pharmazeuten zu, der auch vor Ort im Coiffeur­geschäft tätig sein konnte und regelmässig die Blutdruckeinstellung diskutierte sowie zeitnah Therapieanpassungen vornahm. Ein Einverständnis des Hausarztes wurde immerhin noch eingeholt. Die Resultate sind eindrücklich: Bei einem systolischen Blutdruck von durchschnittlich etwa 153 mm Hg in beiden Gruppen fiel dieser Wert in der Coiffeur-Pharmazeuten-Gruppe um 27 mm Hg und damit hochsignifikant (p <0,001) mehr ab als um die 9 mm Hg in der aktiven Kontrollgruppe (Zuweisungsempfehlung zum Hausarzt).

Wann endlich ein verlässlicher Tumormarker für das (klinisch relevante) Prostatakarzinom?

Seit mehr als etwa 30 Jahren haben wir das Prostata-spezifische Antigen (PSA, in aktuell erhöhter Sensitivität), wissen aber nach wie vor nicht, ob und wann wir diesen Screening-Test überhaupt anbieten sollen. Der Test ist auch behaftet mit seinem Ruf, eine Überbehandlung zu induzieren, und die meisten der etwas hilflos erscheinenden Fachrichtlinien delegieren den Entscheid an die Hausärztin oder den Hausarzt, die den Test mit dem Pa­tienten besprechen (und dann interpretieren) sollen. In einem sogenannten «cluster randomized clinical trial» (siehe Erklärung am Schluss, [Kasten]) wurde untersucht, ob ein einzelner PSA-Test, angeordnet und/oder durchgeführt in Hausarztpraxen in England bei Männern zwischen 50 und 69 Jahren, einen Effekt auf die Mortalität jeder Ursache nach zehn Jahren habe. Bei etwa 190 000 einmalig mit PSA gescreenten Männern war die Mortalität im Vergleich zu knapp 220 000 nicht getesteten Männern gleich hoch. Im Verlauf fand man bei 4,3% der Männer in der Screening-Gruppe und bei der Kontrollgruppe nur bei 3,6% ein Prostatakarzinom (p <0,001). Allerdings machte die Mehrdia­gnose an Prostatakarzinomen mit niedrigem Risiko (Gleason <6), aber nicht weniger intensiven subjektiven Sorgen, den guten Teil des Unterschieds aus. Diese Studie ist kompatibel mit anderen, die in den USA und Europa an zusammen fast 240 000 Männern schon vor bald zehn Jahren die Kontroverse um den Nutzen des PSA-Screenings (einmalig) auch nicht lösen konnten [2, 3] respektive – etwas direkter formuliert – keinen überzeugenden Nutzen dafür fanden.

Was ist ein «cluster randomized clinical trial»?

Eine «normale», randomisierende, klinische Studie wird typischerweise in Zentren mit auf die untersuchte Krankheit spezialisierten Ärzt(inn)en und strengen, die Patientenpopulation vereinheitlichenden Einschlusskriterien durchgeführt. Diese Studien bilden die Grundlage der meisten Richtlinien basierend auf sogenannter «evidence based medicine». Kritik an ihnen bemängelt, dass sie den Nutzen überschätzen, die Nebenwirkungen unterschätzen und von fraglicher Repräsentanz für alle anderen Patient(inn)en («real world experience») sind.
In einem «cluster randomized clinical trial» werden nicht Individuen, sondern Gruppen («clusters») zum Beispiel von Hausarztpraxen, Gesundheitszentren etc. randomisiert. Von diesem Studiendesign erhofft man sich, dass die geprüfte Intervention für einen viel heterogeneren (eben «real world») Kreis von Patient(inn)en anwendbar sein wird. Nachteile sind unter anderem, dass sich die Individuen innerhalb ­eines «clusters» beeinflussen, weil sie sich und die Ärztinnen respektive Ärzte kennen. Korrekturberechnungen sind auch nötig wegen der Beobachtung, dass Individuen innerhalb eines «cluster» X (z.B. Hausarztpraxis im Val d’Anniviers) sich untereinander in vielen Beziehungen ähnlicher sind als den Individuen eines anderen «clusters» Y (z.B. Hausarztpraxis an der Langstrasse in Zürich).
1 ​JAMA 2018, doi:10.1001/jama.2018.0154.