Neuropädiatrie: Geburtstraumatische Armplexusparese: Was tun?
Schlaglicht der Schweizerischen Gesellschaft für Neuropädiatrie

Neuropädiatrie: Geburtstraumatische Armplexusparese: Was tun?

Schlaglichter
Ausgabe
2019/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.03443
Swiss Med Forum. 2019;19(0102):26-28

Affiliations
Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)

Publiziert am 02.01.2019

Geburtstraumatische Armplexusparesen werden am häufigsten durch Manipula­tionen des Kopfes während der Geburt verursacht. Im Folgenden werden die klinischen Manifestationen vorgestellt und die Kriterien für eine konservative oder operative Therapie.

Einleitung

Geburtstraumatische Armplexusparesen (GAP) wurden erstmals von Smelie 1764 beschrieben und Duchenne de Boulogne prägte 1872 den Begriff «paralysie obstetricale». Duval und Guillain 1898 stellten schliesslich fest, dass ein Zerren der Schulter nach unten zu einem Zerreissen der Wurzeln C5 und C6 führen kann. Beim wahrscheinlich berühmtesten Patienten, Kaiser Willhelm II, war als Folge der Parese eine Verkürzung des linken Armes erkennbar, die er mit langen Handschuhen oder einem Stock zu verbergen suchte.
In der folgenden Übersicht werden die Symptome, die für die Behandlung notwendigen Abklärungen, die Therapie und Prognose dargestellt.

Klinische Manifestation

GAP werden bei etwa 0,1–0,3% aller Neugeborenen ­beobachtet, wobei bei 80% der obere Armplexus (Wurzeln C5 und C6 und eventuell C7) betroffen ist. Bei den anderen 20% findet man eine intermediäre (C7, C8 und Th1), eine untere (C8 und Th1) oder totale (C5–C8 +/–Th1) Armplexusparese.
Die häufigste Ursache ist eine Manipulation im Bereich der Schulter, zum Beispiel bei Schulterdystokien, wodurch es zu einer Zerrung des Plexus kommt. Weitere Risikofaktoren sind eine Makrosomie des Neugeborenen, Steissgeburt, Adipositias der Mutter oder Uterusfehlbildungen. Bei intrauterinen Rotationen kann die Schulter hängenbleiben.
Erste klinische Symptome einer GAP sind meist sofort oder wenige Stunden nach der Geburt erkennbar. Der betroffene Arm wird nicht oder nur beschränkt ­bewegt. Bei der oberen Armplexusparese ist der Arm im Ellenbogen gestreckt und innenrotiert (reduzierte Flexion und Supination durch Parese des Musculus [M.] biceps, M. brachioradialis und M. supinator) (Abb. 1). Ein Hornersyndrom mit eingeschränkten Fingerbe­wegungen ist Zeichen einer unteren Armplexusparese (Abb. 2).
Abbildung 1: A und B : Zwei drei Monate alte Säuglinge mit oberer geburtstraumatischer Armplexusparese (GAP), beide mit gestrecktem Arm in Pronationsstellung und flektierter Hand. C: Horner-Syndrom bei vier Monate altem Säugling mit unterer GAP.
Abbildung 2: Fünfjähriger Patient mit Folgezustand nach geburtstraumatischer ­Armplexusparese links (verkürzter Arm, ­Supination eingeschränkt).
Für die Entscheidung, ob die Parese konservativ (allein mit Physiotherapie) behandelt werden kann, oder ob und wann eine chirurgische Korrektur notwendig ist, werden verschiedene quantitative klinische, neurophysiologische und radiologische (Magnetresonanztomographie) Methoden eingesetzt.

Klinische Untersuchung

Grundlage für die therapeutischen Massnahmen ist eine quantitative klinische Untersuchung der einzelnen Muskelgruppen, die bei unkooperativen kleinen Säuglingen nur spielerisch durchgeführt werden kann. Es wurden verschiedene Gradierungsmethoden vorgeschlagen, wobei sich die von Curtis vorgeschlagene «active movement»-Skala (AMS) gut eignet (Tab. 1).
Tabelle 1: Aktive Bewegungsskala (AMS) für die Evaluation der motorischen Funktion einzelner Muskelgruppen nach Curtis et al. [1].
BeobachtungGradierung
Muskelkraft
Schwerkraft aufgehoben 
Keine Kontraktionen0
Kontraktionen, keine Bewegung1
Bewegung >1/2 Bereich2
Bewegung <1/2 Bereich3
Volle Bewegung4
Gegen Schwerkraft 
Bewegung >1/2 Bereich5
Bewegung <1/2 Bereich6
Volle Bewegung7
Falls sich die Symptome unter Physiotherapie in den ersten Monaten nicht deutlich bessern, muss die für Prognose und Therapie entscheidende Frage nach der Art der Läsion abgeklärt werden, also ob eine isolierte Läsion der Myelinscheiden, eine kombinierte axonale und myelinäre Schädigung mit erhaltenem Perineurium oder ein Wurzelausriss vorliegt. Dazu werden die folgenden neurophysiologischen und bildgebenden Methoden eingesetzt.

Elektrophysiologische Methoden

Mit der Elektromyographie (EMG) von verschiedenen Schulter-/Armmuskeln können durch Ableitung von Potentialen motorischer Einheiten und Spontanaktivität die Ausdehnung und der Schweregrad der Plexusläsion abgeschätzt werden. Der Nachweis von Spontanaktivität ist ein Hinweis auf axonale Läsionen. Die Spontanaktivität kann aber erst etwa zwei bis drei Wochen nach dem Trauma nachgewiesen werden, das heisst, der Nachweis von Spontanaktivität in den ersten zwei Wochen nach der Geburt spricht für eine intra­uterine Läsion des Plexus. Die motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) können in den ersten Tagen nach Auftreten der Plexusläsion noch bestimmbar sein und sind danach meist nicht mehr ableitbar. Eine normale oder fast normale sensible NLG bei fehlender motorischer NLG weist auf einen Wurzelausriss pro­ximal vom Ganglion spinale hin. Somatosensorisch evozierte Potentiale auf Reizung verschiedener Finger oder anderer Hautareale können Informationen liefern, welche Wurzel am meisten betroffen ist und teilweise auch über das Ausmass der Plexusschädigung.

Bildgebende Verfahren (MR-Neurographie)

Die MR-Neurographie ist die Standarduntersuchung, um den Plexus darzustellen und Informationen über die intraduralen Wurzeln und die supra- respektive ­infraklavikulären Plexusanteile zu bekommen. Intakte, abgerissene, vernarbte oder verschobene Wurzeln lassen sich mit der MR-Bildgebung nachweisen. Die MR-Resultate sind für die Therapieplanung entscheidend. Es geht vor allem darum abzuschätzen, ob neurochirurgische Eingriffe die Prognose verbessern können.

Therapeutische Massnahmen

Physiotherapie

Die Physiotherapie sollte schon in den ersten Tagen nach der Geburt einsetzen. Hauptziel ist zunächst die Erhaltung der Beweglichkeit im Ellenbogen-, Hand- und vor allem im Schultergelenk. In letzterem muss die wegen Ausfalls der Aussenrotatoren stark ausgeprägte Innenrotation behandelt werden, um ein dysplastisches Wachstum der Schultern zu vermeiden. Etwa 70–80% der Patienten erholen sich innert wenigen Wochen und zeigen später meist keine Restsymptome.
Bei Kindern, die sich in den ersten Monaten nicht erholen, müssen neben der Erhaltung der Beweglichkeit Folgesymptome vermieden werden und dem Alter entsprechende therapeutische Ziele festgelegt werden. Dazu gehört in den ersten Monaten die Vermeidung ­eines Tortikollis und die damit oft verbundene Plagiocephalie. Später soll trainiert werden, die Hand auf der betroffenen Seite einzusetzen. Bei stark ausgeprägten Kontrakturen können Botulinumtoxin-Injektionen die Beweglichkeit der Gelenke verbessern. Da die betroffenen Patienten meist keine kognitiven Defizite zeigen, lernen sie in der Regel schnell, wie sie den betroffenen Arm einsetzen können.

Operative Massnahmen

Die operativen Massnahmen am Plexus werden geplant, wenn der Patient im Alter von drei Monaten keine Besserung zeigt. Die Art des Eingriffs richtet sich nach den MR- und neurophysiologischen Resultaten. Am häufigsten werden im Alter zwischen drei und sechs Monaten Neurolysen bei erhaltener Kontinuität, autologe Transplantationen zur Wiederherstellung der Kontinuität oder ein Nerventransfer bei Vorliegen eines Nervenausrisses durchgeführt.
Bei einer unvollständigen Erholung (Abb. 2) können im Alter zwischen zwei bis sieben Jahren Sekundäreingriffe (Transposition von Muskeln, derotative Osteo­tomien) erforderlich werden. Diese müssen den indi­viduellen Bedürfnissen angepasst werden. Der Patient auf Abbildung 2 zum Beispiel spielt sehr gut Klavier und hat einen Eingriff zur Verbesserung der Supination abgelehnt.
Bei oberen Plexusparesen verbesserten sich postoperativ in 80% der Fälle die Abduktion im Schulter­gelenk, bei 50% die Aussenrotation und bei 82% der Pa­tienten die Ellenbogenbeugung.

Schlussfolgerung

Die mehrheitlich durch Zugkräfte bei einer Schulterdystokie verursachte GAP kann in den ersten Lebenstagen diagnostiziert werden und sollte schon in den ersten Lebenswochen physiotherapeutisch behandelt werden. Da sich etwa zwei Drittel der Patienten in den ersten Lebensmonaten weitgehend erholen, sind weitere Abklärungen mit MR-Neurographie oder neurophysiologischen Methoden nur bei Patienten, die im Alter von drei Monaten keine oder nur eine geringe Verbesserung zeigen, indiziert. Anhand dieser funktionellen und bildgebenden Resultate sowie den kli­nischen Befunden muss entschieden werden, ob der Plexus im Alter zwischen drei und sechs Monaten chirurgisch behandelt werden muss. Mit den operativen Eingriffen kann die Funktion im Schulter- und Ellenbogengelenk bei etwa 70% der Patienten gebessert werden. Bei Patienten, die nach dem zweiten Altersjahr noch Ausfälle zeigen, kann die Funktion des Armes durch Sekundäreingriffe verbessert werden.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. em. Dr. med.
Jürg Lütschg
Im Kirschgarten 5
CH-4102 Binningen
juerg.luetschg[at]unibas.ch
– Antoniadis G. Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis. In: Pädiatrische Neurochirurgie, Hrsg. Bächli H, Lütschg J und Messing-Jünger M. Springer Verlag Heidelberg; 2018.
p. 600–97.
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