Allergologie und Immunologie: Primäre Immundefizienz – wenn wir unsere Gene sind
Schlaglicht der Schweizerischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie

Allergologie und Immunologie: Primäre Immundefizienz – wenn wir unsere Gene sind

Schlaglichter
Ausgabe
2019/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08014
Swiss Med Forum. 2019;19(0102):5-7

Affiliations
Immundefizienz-Sprechstunde, Medizinische Poliklinik und Immundefizienz-Labor, Departement Biomedizin, Universitätsspital Basel

Publiziert am 02.01.2019

Haben Sie sich auch schon gefragt, warum Ihr Patient immer wieder Atemwegs­infekte hat, wieso Ihre Patientin auf alles Mögliche allergisch ist und gleichzeitig rheumatische Beschwerden hat? Falls ja, dann lesen Sie jetzt weiter.

Hintergrund

Die vielen Zellarten des Immunsystems sichern in ihrem komplexen Zusammenspiel, dass der Mensch sich gegen Pathogene wie Bakterien und Viren zur Wehr setzt (Immunabwehr) und dass der eigenen Körper nicht als fremd erkannt wird (Immuntoleranz) [1]. Ungefähr 20% all unserer Gene, also etwa 3000–5000, kodieren für Eiweisse, welche für die Bildung und Funktion dieser verschiedenartigen Immunzellen benötigt werden. So überrascht es nicht, dass es Immun­erkrankungen gibt, die durch Mutationen in diesen Immunsystemgenen entstehen. Galten solche primären, genetisch determinierten Immunerkrankungen (primäre Immundefizienz [PID]) früher als Rarität, nimmt die Anzahl identifizierter PID-Entitäten durch die zunehmend billiger und einfacher erhältliche Gensequenzierung sowie die verbesserten Möglichkeiten, veränderte Gene/Eiweisse funktionell im Labor zu testen, stetig zu. Ende 2017 waren bereits 354 PID-Entitäten beschrieben und diese Zahl wird zweifelsfrei weiter zunehmen [2].
In diesem Schlaglicht werde ich beleuchten, dass Pa­tienten mit PID verschiedensten Fachgebieten zugeordnet werden können und wieso wir klinische Immunologinnen und Immunologen in der Diagnostik und Therapie dieser Patienten zunehmend beigezogen werden.
Tabelle 1 zeigt Missverständnisse hinsichtlich PID auf, denen wir Immunologinnen und Immunologen im klinischen Alltag häufig begegnen.
Tabelle 1: Missverständnisse bei primären Immundefekten/Immundysregulationen (PID).
MissverständnisErklärung
PID sind Raritäten.Zwei der häufigsten PID, die MBL-Defizienz (Komplementaktivierung) und der ­selektive IgA-Mangel finden sich in 1/20 resp. 1/400 Individuen. Zudem zeigen viele Studien, dass PID nachweislich unterdiagnostiziert sind. 
MBL: Mannose-bindendes Lektin
PID manifestieren sich immer im Kindes­alter.Die «common variable immunodeficiency» (CVID) hat als eine der häufigsten PID einen typischen Beginn im Erwachsenenalter.
Ein fehlender Antikörpermangel schliesst eine PID aus.Gewisse klinisch schwer verlaufenden PID haben typischerweise keinen Antikörpermangel (Hyper-IgE-Syndrom [HIES], Interferonopathien).
Die Unterscheidung von primären und sekundären Immundefizienzen ist einfach.Die Unterscheidung kann im Einzelfall sehr schwierig sein und braucht neben einer breiten internistischen und immunologischen Abklärung viel Erfahrung.
Eine immunologische Abklärung kann eine Immundefizienz sicher ausschliessen.Gewisse auch lebensbedrohliche PID sind mit der immunologischen Standarddia­gnostik schwierig fassbar. Beispiel hierfür sind gewisse PID des Komplementsystems (atypisches hämolytisch-urämisches Syndrom) oder Interferonopathien. In diesen Fällen sollte auf Forschungsebene nach möglichen Ursachen gesucht werden.
Eine negative Familienanamnese schliesst eine PID aus.Viele PID-Mutationen entstehen de novo, ohne dass sie von den Eltern vererbt wurden. Zudem haben einige pathogenen PID-Mutationen eine tiefe klinische ­Penetranz, was zu sporadischem Auftreten führt.
PID sind immer Folge von Keimbahn­mutationen («germline mutations»).Gewisse PID wie das Autoimmun-lymphoproliferative Syndrom (ALPS) können durch somatische Mutationen in Immunsystemgenen auftreten.

PID und Dermatologie: Mutationen, die jucken

Über 30 verschiedene PID gehen mit einer atopischen Dermatitis einher. Neben genetischen Störungen der Bildung der Hautbarriere können die mutierten Gene dieser Patienten immunologisch unter anderem gruppiert werden in dysregulierte Signaltransduktion nach Aktivierung des T-Zell-Rezeptors, alterierte Zytoskelett-Reorganisation nach Immunzellaktivierung oder veränderte Zytokinproduktion [3]. Man spricht von primären (genetisch determinierten) atopischen Erkrankungen [3]. Als Beispiel führen Mutationen in CARD11, einem Eiweiss, welches die Signaltransduktion in T-Zellen organisiert, zu atopischer Dermatitis [4]. Es ist wichtig, diese Formen der atopischen Dermatitis korrekt zu diagnostizieren, unter anderem weil diese teilweise gezielt, das heisst Cortison-frei, behandelt werden können. Bei den Patienten mit CARD11-Mutationen führte exogenes Glutamin, das CARD11 abhängig in T-Zellen aufgenommen wird, zu einer Besserung der T-Zell-Funktion [4].

PID und Infektiologie: hartnäckige Persistenz

Ein Bakterium (Tropheryma Whipplei), das in der Umwelt häufig vorkommt, aber nur ganz selten bei gewissen, meist männlichen Individuen sich vermehren kann und eine Erkrankung (u.a. gastrointestinal, Gelenke) auslöst − das klingt verdächtig nach PID [6]. Und tatsächlich, 2018 wurde erstmals eine Mutation in ­einem Interferon-regulierten Faktor (IRF4) beschrieben, die als ursächlich für eine familiäre Whipple-Erkrankung identifiziert wurde [7]. Es wird wahrscheinlich nicht die einzige Whipple-assoziierte PID bleiben.

PID und Gastroenterologie: Chamäleon

Verschiedene PID führen zu chronisch entzündlichen Darmkrankheiten, die klinisch als Morbus Crohn kategorisiert werden. Für den einzelnen Patienten kann es entscheidend sein, dass jemand die PID-Diagnose stellt. Mutationen in XIAP, einem auf dem ­X-Chromosom kodierten anti-apoptotischen Faktor, können sich klinisch als Morbus Crohn präsentieren [8, 9]. XIAP-Defizienz beinhaltet aber zusätzlich das ­Risiko von schweren, teils Epstein-Barr-Virus-getriggerten Hämophagozytose-Episoden und die Erkrankung ist durch Knochenmarktransplantation heilbar [8]. Auch eine PID der neutrophilen Granulozyten-Funktion (verminderte NADPH-Oxidase), die chronische Granulomatose, kann sich hinter einem Morbus Crohn verbergen [10]. Eine TNF-Blockade bei entzündlicher Darmkrankheit aufgrund einer chronischen Granulomatose ist gefährlich, hat sie doch zu mehreren Todesfällen aufgrund von nicht therapierbaren Infektkomplikationen geführt [11].

PID und Rheumatologie: autoimmunes ­Inter­feron

Der systemische Lupus ist eine systemische Auto­immunerkrankung, charakterisiert durch chronisch erhöhte Interferon-Typ-I-(Interferon-α und Interferon-β)-Produktion, ohne dass eine persistierende Infektion nachgewiesen werden kann. In den letzten Jahren wurden verschiedene PID charakterisiert, die durch Mutationen von Eiweissen entstehen, die in der Erkennung von fremder RNA/DNA beteiligt sind [12]. Diese Muta­tionen feuern auch in der Abwesenheit von Infekten chronisch die immunregulierende Interferonproduktion an. Die Folgen dieser monogenetischen Interferonopathien können sich klinisch als Lupus, Sjögren-Syndrom oder auch als frühkindliches Aicardi-Goutières-Syndrom (eine klinisch schwere, oft familiäre, nichtinfektiöse Gehirnentzündung) zeigen. Da Interferon Typ I seine Wirkung über Aktivierung der JAK1/2-Kinasen entfaltet, stehen für diese Erkrankungen personalisierte Medikamente (JAK-Inhibitoren) zur Verfügung. Wie 2018 gezeigt, sind diese in der Behandlung der Interferonopathien wirksam und im Nebenwirkungsprofil akzeptabel [13].

PID und Pneumologie: Antikörper 
messen lohnt sich

Antikörpermangelsyndrome, egal welcher Ätiologie, prädisponieren zu Infekten der Atemwege [14]. Neben Pneumonien können sich Bronchiektasen entwickeln, die irreversibel sind. Auch in neueren Kohortenstudien beträgt die diagnostische Verzögerung bei diesen Patienten im Mittel zehn Jahre und mehr [15]. Die Dia­gnostik, Messung der Serumimmunglobuline (Serum-IgG, -IgA und -IgM, allenfalls IgG-Subklassen), ist einfach und günstig. Ein Serum-IgG kostet in der Diagnostik gleich viel wie ein C-reaktives Protein (CRP). Eine Messung der Serumimmunglobuline sollte deshalb bei jedem infektanfälligen Patienten durchgeführt werden. Antikörpermangelsyndrome können primär (PID) oder sekundär (exogene Ursache, z.B. Medikamente [Steroide, Anti-CD20]) bedingt sein [16]. Die Differentialdiagnose beider Arten der Antikörpermangelsyndrome ist breit und oft nicht einfach. Ein auf den ersten Blick Steroid-induzierter Antikörpermangel kann auf den zweiten Blick Folge einer PID sein, wenn die Indikation für die Steroidtherapie Ausdruck einer PID war (z.B. Immunthrombopenie). Eine Immunglobulinsubstitution kann einen Antikörpermangel unabhängig der Ätiologie ausgleichen und die Infektanfälligkeit reduzieren [14]. Allerdings wird die zelluläre Ursache damit nicht behoben. Im Extremfall braucht der junge Patient mit Abwehrkörpermangel keine Immunglobulinsubstitution, sondern eine Knochenmarktransplantation. Dies beispielsweise bei der «X-linked lymphoproliferative disease» (XLP) bedingt durch Mutationen im SLAM-assoziierten Protein (SAP), die ohne Transplantation zu fast 100% letal verläuft [17]. Eine immunologische Abklärung ist deshalb bei Nachweis eines Antikörpermangels immer sinnvoll.

PID und Onkologie: Wenn Mutationen 
die Bremsen lösen

Die Immunonkologie und Checkpoint-Inhibitoren sind durch die durchschlagenden Erfolge in der Behandlung von Melanompatienten sowie durch den Medizin-Nobelpreis 2018 in aller Munde. Die medikamentöse, Antikörper-vermittelte Blockade von inhibitorischen Immun­eiweissen wie CTLA-4 oder PD-1 lösen die Bremse der Immunantwort gegen Tumoren und revolutionieren die onkologische Behandlung. Nur den wenigsten hingegen ist bekannt, dass 2018 weltweit über 130 Patienten charakterisiert wurden, die seit Geburt mit gelöster Immunbremse durchs Leben gehen [18]. Die CTLA-4-Insuffizienz, bedingt durch heterozygote Mutationen im CTLA-4-Eiweiss, führt zu verminderter Funktion von r­egulatorischen T-Zellen und wohl aus diesem Grund zu verschiedensten Autoimmunerkrankungen, die denen gleichen, die bei Tumorpatienten unter Checkpoint-Inhibitor-Therapie auftreten (Autoimmun-Enterokolitis, autoimmune Endokrinopathien etc.) [19]. Das Wissen um diese Checkpoint-PID gibt Hinweise darauf, wie die Immuntoxizität unter Checkpoint-Inhibitoren zustande kommt und wie man diese behandeln oder noch besser prophylaktisch vermeiden kann.

Diskussion

Die Diagnostik, Therapieeinleitung und Therapiekon­trolle von Patientinnen und Patienten mit PID als genetisch determinierte immunologische Erkrankungen sind die Kernkompetenz von Fachärztinnen und Fachärzten für klinische Immunologie. Die klinischen Immunologinnen und Immunologen arbeiten im Idealfall eng und konstruktiv-interdisziplinär mit weiteren involvierten Fachärztinnen und Fachärzten zusammen. Die korrekte molekulare Diagnostik von Patienten mit möglicher PID ist komplex und setzt oft ein assoziiertes und auf ­Immundefizienz spezialisiertes Forschungslabor voraus. Deshalb sollten PID-Patienten durch klinische Immunologen an einem universitärem Zentrum (mit)betreut werden. Jeder aufmerksame Grundversorger kann durch Bestimmung der Serumimmunglobuline dazu beitragen, die diagnostische Verzögerung bei Patienten mit PID zu verkürzen und somit irreversible Organschäden zu verhindern.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Mike Recher
Immundefizienz-Sprechstunde
Medizinische Poliklinik und Immundefizienz-Labor
Departement Biomedizin
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
CH-4031 Basel
mike.recher[at]usb.ch
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