Beeinflussen Gleitmittel die Fertilität wirklich?

Beeinflussen Gleitmittel die Fertilität wirklich?

Leserbrief
Ausgabe
2019/0304
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08022
Swiss Med Forum. 2019;19(0304):65

Publiziert am 16.01.2019

Beeinflussen Gleitmittel die Fertilität wirklich?

Leserbrief zu: Moffat R, Raggi A, Sartorius G, Conrad B, Lapaire O, De Geyter C. Späte Mutterschaft und Aufschub der Familiengründung. Swiss Med Forum. 2018;18(43):875–80.
Die Autorinnen und Autoren des Artikels «Späte Mutterschaft und Aufschub der Familiengründung» [1] schreiben: «Der eklatante Anteil von 70% der Befragten (auch bei den Ärztinnen und Ärzten) wusste allerdings nicht, dass der Einsatz von Gleitmitteln die Fertilität beeinträchtigt [4].» Dieser Satz wird dann zusätzlich noch als blaugefärbte Zwischenüberschrift prominent in den Text gesetzt.
Da ich selbst – tief beschämt – feststellen musste, dass auch mir der geschilderte Zusammenhang bislang nicht bekannt war, habe ich mich ein wenig auf die Suche nach der verfügbaren Evidenz gemacht …
Die im Literaturverzeichnis an vierter Stelle zitierte, webbasierte Umfrage aus 2017 befragte 127 US-amerikanische Frauen (18–45 Jahre) und 118 Medizinstudentinnen und medizi­nische Weiterbildungsassistentinnen. An der Konstruktion des verwendeten Fragebogens (29 «items») beteiligten sich 15 Reproduktionsendokrinologen, zehn Laien und «individuelle Experten auf dem Gebiet der Fragebogen­erstellung» … Ich habe in dieser Arbeit keine einzige Quelle für die Behauptung entdeckt, dass (ohne nähere Spezifikation) «bestimmte» Gleitmittel die Fertilität beeinträchtigen würden.
Ein Blick in die Literatur offenbart, dass eine negative Konnotation von Gleitmitteln ausschliesslich aus In-vitro-Untersuchungen stammt, welche die Motilität von Sperma­tozoen prüften (wie zum Beispiel eine Publikation mit hohem «selection bias» aus 2017 [2]).
Ich konnte allerdings keine klinische Arbeit entdecken, die diese Laborresultate bestätigen würde. An einer 2018 im British Journal of Gynaecology and Obstetrics veröffentlichten prospektiven Kohortenstudie aus Dänemark (2011–2017) und den USA (2013–2017) [3] nahmen 6467 Frauen im Alter von 18–49 Jahren teil, die weder kontrazeptive noch fertilitäts­steigernde Massnahmen angewendet hatten. 17,5% dieser Frauen verwendeten Gleitmittel. Beim Vergleich mit den Studienteilnehmerinnen, die keine Gleitmittel verwendeten, ergaben sich unabhängig von der Wasser-, Öl- oder Silkonbasis der Mittel keine signifikanten ­Unterschiede. Dies ist keineswegs die einzige klinische Veröffentlichung, die einen Zu­sammenhang zwischen Gleitmitteln und eingeschränkter Fertilität anzweifelt [4] – aus Gründen der Platzlimits bei Leserbriefen verzichte ich hier auf eine weitere Detaillierung.
Ich hoffe, den Autorinnen und Autoren nicht zu nahe zu treten: Für mich ergibt sich aber die Quintessenz, dass in der Literatur nach wissenschaftlichen Belegen gesucht werden sollte, bevor eine als medizinisches Faktum herausgestellte Aussage ungeprüft übernommen wird.
1 Moffat R, Raggi A, Sartorius G, Conrad B, Lapaire O, De Geyter C. Späte Mutterschaft und Aufschub der Familiengründung. Swiss Med Forum. 2018;18(43):875–80.
2 Wilson SL, Adam JK, Krishna SBN. Effects of vaginal lubricants on in-vitro progressive spermatozoa ­motility. Afr J Reprod Health. 2017;21:96–101.
3 McInerneya KA, Hahna KA, Hatcha EE, et al. Lubricant use during intercourse and time-to-pregnancy: a prospective cohort study. BJOG. 2018;125:1541–8.
4 Steiner AZ, Long DL, Tanner C, Herring AH. Effect of vaginal lubricants on natural fertility. ­Obstet Gynecol. 2012;120:44–51.