Hyperinsulinämische Hypoglykämie bei Insulinom
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Hyperinsulinämische Hypoglykämie bei Insulinom

Der besondere Fall
Ausgabe
2019/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08047
Swiss Med Forum. 2019;19(1314):238-240

Affiliations
Spital Limmattal, Schlieren
a Medizinische Klinik; b Medizinische Klinik, Endokrinologie und Diabetologie

Publiziert am 27.03.2019

Die Patientin litt seit ungefähr zwei Jahren unter Anfällen von unspezifischen und wechselnden Beschwerden, unter anderem Kopfschmerz, Desorientiertheit, Zittern, Kaltschweissigkeit und Präsynkopen.

Hintergrund

Das sehr seltene Insulinom (Inzidenz 0,1–0,4:100 000/Jahr, jedes Alter möglich, höchste Inzidenz zwischen 40. und 50. Lebensjahr [3]) ist der häufigste funktionell aktive neuroendokrine Tumor des Pankreas (40–70%), gefolgt von Gastrinomen, Glucagonomen, VIPomen und anderen. Es entsteht aus den im Pankreas vorkommenden Langerhans-Inselzellen (β-Zellen) und tritt gehäuft auf in Pankreaskopf und -schwanz. Prinzipiell ist es jedoch in jedem Organabschnitt möglich. Bei Frauen tritt es häufiger auf als bei Männern (ca. 1,5:1 [4]). Da es autonom Insulin produzieren kann, führt ein relativer Insulin­überschuss häufig zu symptomatischen, teils folgenschweren Hypoglykämien. Die Symptome manifestieren sich nicht immer eindeutig, teilweise un­spezifisch, von anderen Beschwerden überlagert oder ­zeigen eine Dynamik über die Zeit. Gründe für eine Arztkonsultation sind häufig Bewusstseinsstörungen wie Synkopen oder präsynkopale Zustände.

Fallbericht

Anamnese

Die Patientin litt seit ungefähr zwei Jahren unter Anfällen von unspezifischen und wechselnden Beschwerden, unter anderem Kopfschmerz, Desorientiertheit, Zittern, Kaltschweissigkeit und Präsynkopen. Es fand sich in den neurologischen und kardiologischen ­Abklärungen kein pathologischer Befund. Fortan bemerkte die Patientin eine deutlich Frequenz- und Schweregradzunahme der präsynkopalen/synkopalen Zustände. Aufgrund eines längeren Bewusstseinsverlustes erfolgte eine Spitalzuweisung bei symptomatischer Hypoglykämie. Der vom Notarzt gemessene Blutzuckerspiegel betrug 2,5 mmol/l. Die Gabe von 40%-iger Glukoselösung führte noch vor Ort zu einer vollständigen Regredienz der Beschwerden. Trotz laufender Glukosein­fusion (5%) entwickelte sich erneut eine drastische Senkung des Blutzuckerspiegels von 5,2 auf ­2,9 mmol/l auf der Notfallstation, weshalb eine stationäre Aufnahme erfolgte. Eine B-Symptomatik oder andere ­Beschwerden wurde von der Patientin verneint, sie berichtete jedoch über eine ungewollte Gewichtszunahme von 99 auf 104 kg. Am Vortag habe sie erstmalig eine sofortige Regredienz der Beschwerden nach dem Genuss eines Süssgetränks festgestellt.

Status

Die stabile und zu allen Qualitäten orientierte 56-jährige Patientin präsentierte sich in gutem Allgemein- und adipösem Ernährungszustand. Die neurologische, kardiale, pulmonale und abdominale Untersuchung zeigten keine richtungsweisenden Auffälligkeiten, bis auf einen leicht erhöhten Blutdruck mit 156/88 mmHg bei normokarder Herzaktion.

Befunde

Bei Aufnahme fand sich laborchemisch bis auf eine Hypokaliämie kein pathologischer Befund, speziell waren das Thyreoidea-stimulierende Hormon (TSH), Entzündungszeichen und Nierenfunktion normal und das HbA1c 4,9%.

Diagnose

Im stationären Setting wurde ein Fastentest durch­geführt. Er fiel pathologisch aus und musste nach 54 Stunden bei neuroglykopenen Symptomen abgebrochen werden. Bei Abbruch lagen ein Glukosespiegel von 1,7 mmol/l, ein Insulinspiegel von 80,5 pmol/l sowie ein C-Peptid von 0,9 nmol/l vor. Ebenfalls ver­änderte sich der MMS/Uhrentest deutlich (Abb. 1). Nach Gabe von Glukoselösung normalisierte sich die Klinik vollständig.
Abbildung 1: Mini-Mental-Status (MMS)/Uhrentest. 
Links: Vorgabe; Mitte: Beginn Fastentest; rechts: Abbruch Fastentest (nach 54 Stunden).
Aufgrund des pathologischen Fastentests und Vor­liegens der Whipple-Trias konnte die Diagnose einer hyperinsulinämen Hypoglykämie gestellt werden. Zur Insulinomsuche wurde eine Bildgebung veranlasst.
Die Positronen-Emissions-Computertomographie (PET-CT) zeigte jedoch keine Hinweise auf ein Somatostatin-Rezeptor-2(SSTR-2)-positives Insulinom respektive einen anderweitigen neuroendokrinen Tumor (NET), weshalb eine weitere Bildgebung notwendig wurde (Abb. 2).
Abbildung 2: PET/CT mit 144 MBq 68Ga-DOTATATE: negativ. (Wir danken der Klinik für Nuklearmedizin des UniversitätsSpitals Zürich für das Bildmaterial.)
Die daraufhin durchgeführte Magnetresonanztomografie (MRT) des Pankreas zeigte eine umschriebene Raumforderung (max. 12 × 9 mm) im Pankreaskopf, morphologisch vereinbar mit einer neuroendokrinen Neoplasie, ohne Hinweis auf Lymphknoten- oder Organmetastasen (Abb. 3).
Abbildung 3: MRT-Pankreas: umschriebene Raumforderung (max. 12 × 9 mm) im Pankreaskopf (Pfeil), morphologisch ­vereinbar mit neuroendokriner Neoplasie, zum Beispiel Insulinom. Kein Hinweis auf Lymphknoten- oder Organmetastasen. (Wir danken der Radiologie des Spitals Limmattal für das Bildmaterial.)
In der Zusammenschau der Befunde wurde die Dia­gnose eines nicht metastasierten neuroendokrinen Tumors respektive Insulinoms im Pankreaskopf gestellt.

Therapie und Verlauf

Die initiale Therapie bestand in der diätetischen Anpassung mit langkettigen langsam resorbierbaren Kohlenhydraten, regelmässiger Nahrungsaufnahme und Zwischenmahlzeiten. Blutzuckerselbstmessungen wurden instruiert (inkl. «Notfall-Kohlenhydrate»), um Hypoglykämieepisoden zu erfassen. Ergänzend wurde ein vorläufiges absolutes Fahrverbot ausgesprochen.
Nach Lokalisation im MRT wurde eine kurative Re­sektion des Insulinom-suspekten Gewebes aus dem Pan­kreas mittels Enukleation nach intraoperativem Ultraschall durchgeführt. Histologisch zeigte sich das Gewebe als gut differenzierter, NET (Durchmesser von 1,6 cm) mit immunhistochemischer Expression von neuroendokrinen Markern, Insulin und Islet-1, vereinbar mit einem Insulinom (Ki-67 <2%; Somatostatin-Rezeptor 0–1+ nach Volante et al.).
Postoperativ zeigte sich in den ambulanten endokrinologischen Kontrollen eine beschwerdefreie Patientin ohne anamnestische, klinische und laborchemische Hinweise für persistierende Hypoglykämien.

Diskussion

Das Insulinom ist eine sehr seltene Erkrankung mit vielen Gesichtern und Manifestationen. Bei nicht-multiplem Auftreten ist es kurativ therapierbar [1] und die Prognose sehr günstig [2].
Die Hypoglykämien manifestieren sich nicht immer eindeutig, sondern häufig unspezifisch. Mögliche Symptome sind unter anderem Kopfschmerzen, Angst, ­innere Unruhe, Kribbelparästhesien, Wärmegefühl, Unsicherheit, Verwirrtheit, inadäquates Verhalten, Denk-/Sprachstörungen, Unwohlsein, Übelkeit, Schwäche, Schweissausbruch, Zittern, Schwindel, Prä-/Synkopen, Visusstörungen, Heisshunger, Gewichtszunahme, Palpitationen, Tachykardien. Meist liegt ein Mischbild ­diverser Symptome vor.
Die Blutzuckermessung muss venös durchgeführt werden, da kapilläre Blutzuckermessungen ungenau sind, vor allem in hypoglykämen Bereichen. Die klinischen Symptome und die laborchemischen Befunde können im Verlauf dynamisch sein. Dies erschwert unter ­an­derem eine schnelle Diagnosestellung und man sucht ein vasovagales, rhythmogenes oder neurologisches Pro­blem.
Zur Diskussion stehen bei Patienten mit einer hyper­insulinämen Hypoglykämie als Differentialdiagnosen in erster Linie das Insulinom oder eine Nesidioblastose (angeboren oder erworben). Auch eine Hypoglycaemia factitia (artifizielle Hypoglykämie) bei selbst- oder fremdausgeführter Insulininjektion wäre denkbar. Sie konnte in diesem Fall jedoch wegen des hohen C-Peptids ausgeschlossen werden. Für die diversen weiteren Dif­ferentialdiagnosen (Tab. 1) ergaben sich anhand von ­Klinik, Status, Labor und Bildgebung keine Hinweise oder es wurde bei unwahrscheinlichem Vorliegen nicht weiter danach gesucht.
Tabelle 1:Wichtigste Hypoglykämieursachen.
Hypoglycaemia factitia (artifizielle Hypoglykämie): 
Selbst-/Fremdinjektion von Insulin (absichtlich/unabsichtlich; Verwechslung; bewusste/fälschliche Sulfonylharnstoff­einnahme)
Hypoyphysenvorderlappen- und Nebennierenrinden­Insuffizienz
Glukoneogenesestörungen 
(z.B. Fruktose-1-6-Diphosphatasemangel)
Grosse Tumoren nicht-pankreatischen Ursprungs
Insulin-Autoimmunsyndrom
Anorexia nervosa, Kachexie, schwere Malnutrition
Schwere Leber- oder Niereninsuffizienz
Glykogenspeicherkrankheiten
Anfallsleiden
Frühstadien eines Diabetes mellitus
Spätdumping-Syndrom
Hereditäre Fruktoseintoleranz
Und anderes
Ein Insulinom ist in mehr als 90–95% der Fälle gutartig und isoliert, somit chirurgisch meistens heilbar. Die bei dieser Patientin durchgeführte kurative chirur­gische Therapie ist jedoch nicht immer möglich. Bei nicht kurativ operablen Tumoren aufgrund der Lage, der Operabilität des Patienten wegen Komorbiditäten oder multiplen Auftretens der Insulinome beziehungsweise malignen Insulinomen und Metastasen sind ­alternative Therapien respektive Therapiekonzepte mög­lich. Interdisziplinär diskutiert werden sollten dann etwa ein Tumordebulking / eine Metastasenresektion, eine Chemotherapie, eine gezielte Chemoembo­lisation oder eine medikamentöse Behandlung mit Somatostatinanaloga oder Diazoxid (Proglicem®).

Das Wichtigste für die Praxis

• Whipple-Trias – typische Klinik eines Insulinoms:
1. Hypoglykämie, das heisst Blutzuckerspiegel <3,0 mmol/l.
2. Neuroglykopene Symptome (qualitative oder quantitative Bewusstseinsstörungen: Verwirrung, Sprach- und Denkstörungen, Verhaltensstörungen, Konzentrationsstörungen, Somnolenz, Koma, fokal neurologische Defizite, epileptischer Anfall).
3. Umgehend regrediente Klinik nach Glukosegabe.
• Goldstandard der Diagnostik bei Insulinomverdacht ist der stationäre Fastentest [4]. Beweisend für eine hyperinsulinäme Hypoglykämie ist der Umstand, dass bei bestehender Hypoglykämie eine fortgeführte ­Insulinsekretion mit inadäquat hohen C-Peptid- und Insulin-Spiegeln ohne signifikante Suppression vorliegt.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Henning Hohendorf,
dipl. Arzt
Medizinische Klinik
Spital Limmattal
Urdorferstrasse 100
CH-8952 Schlieren
Henning.Hohendorf[at]acamed.ch
1 Scherübl H, Schaaf L, Raue F, Faiss S, Zeitz M. Therapie hereditärer neuroendokriner gastroenteropankreatischer Tumoren und MEN Typ 1. Hereditäre neuroendokrine gastroentero-pankreatische Tumoren und multiple endokrine Neoplasie Typ 1. II. ­Aktuelle ­Therapie. Dtsch Med Wochenschr. 2004;129:689–92.
2 Service FJ. Hypoglycemic disorders. N Engl. J Med. 1995;332:1144–52.
3 Service FJ, McMahon MM, O’Brien PC, Ballard DJ. Functioning insulinoma-incidence, recurrence and ling-term survival of patients: a 60-years study. Mayo Clin Proc. 1991;66:711–9.
4 Hirshberg B, Livi A, Bartlett DL, Libutti SK, Alexander HR, et al. Forty-eight-hour fast: the diagnostic test for insulinoma. J Clin Endocrinol Metab. 2000;85:3222–6.