a Klinik für Chirurgie, Kantonsspital Münsterlingen; b Pathologie Institut, Spital Thurgau AG, Münsterlingen; c Klinik für Innere Medizin, Abteilung Endokrinologie, Kantonsspital Münsterlingen
Eine 85-jährige Patientin wurde von ihrem Ehemann verwirrt am Boden liegend aufgefunden. Sie berichtete über visuelle Halluzinationen und klagte über eine Beinschwäche.
Hintergrund
Eine einzelne normale Nebenschilddrüse ist etwa 3–6 mm gross und wiegt 30–40 mg. Beim primären Hyperparathyreoidismus finden sich jedoch Adenome der Nebenschilddrüse, die mehrere Gramm schwer sein können. Eine kürzlich publizierte Studie untersuchte das Gewicht von Nebenschildddrüsenadenomen [1]. Dabei wogen 95% der Nebenschilddrüsenadenome weniger als 3,5 g. Das mediane Gewicht der Adenome dieser Gruppe betrug 0,56 g (0,05–3,2 g). Nebenschilddrüsenadenome mit einem Gewicht jenseits der 95. Perzentile, die bei 3,5 g lag, wurden als Riesenadenome («giant adenoma») definiert.
Der vorliegende Fallbericht beschreibt eine Patientin, die sich mit einem Riesenadenom der Nebenschilddrüse präsentierte. Besondere Aspekte in der Diagnostik und Therapie dieser Entität werden dargestellt. Spezielles Augenmerk gilt dabei dem Nebenschilddrüsenkarzinom als seltene aber schwerwiegende Differentialdiagnose.
Fallbericht
Anamnese und Status
Eine 85-jährige Patientin wurde von ihrem Ehemann verwirrt am Boden liegend aufgefunden. Die Patientin berichtete über visuelle Halluzinationen und klagte über eine Beinschwäche.
Der spezialärztliche Neurostatus war, bis auf eine deutliche Gangunsicherheit, unauffällig.
Befunde und Diagnose
Ein zerebrovaskulärer Insult konnte mittels Magnetresonanztomographie (MRT) ausgeschlossen werden. Die Gangunsicherheit wurde als schmerzbedingt und Folge eines wahrscheinlichen Sturzes interpretiert. Laborchemisch lag eine ausgeprägte Hyperkalzämie vor: Kalzium 4,38 mmol/l (Norm: 2,1–2,6). Als symptomatische Therapie wurde eine forcierte Hydrierung eingeleitet. Am zweiten Hospitalisationstag erfolgte eine einmalige Gabe von Zoledronsäure. Nach neuntätiger Therapie betrug der Serum-Kalziumwert 2,65 mmol/l. Ursächlich fand sich eine massive Erhöhung des Parathormons (165 pmol/l, Norm: 1,6–6,9). Der Vitamin-D- Wert war erniedrigt: 25-Hydroxy-Vitamin-D 34 nmol/l (Norm: 50–140), 1,25 Dihydroxy-Vitamin-D 99 pmol/l (Norm: 42–211). Eine Supplementierung mit 150 000 IU Vitamin-D3-Cholecalciferol wurde durchgeführt. Die Ultraschalluntersuchung des Halses zeigte eine normal grosse Schilddrüse. Im rechten Schilddrüsenlappen (7,5 cm3) fanden sich zwei Schilddrüsenknoten von 1,1 und 0,9 cm Durchmesser. Im linken Schilddrüsenlappen (4,5 cm3) waren keine Knoten detektierbar. Die zervikalen Lymphknoten waren nicht vergrössert. Dorsal des linken Schilddrüsenlappens kam eine 2,9 × 4,8 × 6,1 cm grosse hypoechogene Raumforderung zur Darstellung. Die Schilddrüsenszintigraphie (52 MBq 99m Technetium Pertechnetate) zeigte eine volumenproportionale Aufnahme des Radiopharmazeutikums in beide Schilddrüsenlappen ohne fokal abgrenzbare Mehranreicherungen. In der Nebenschilddrüsenszintigraphie (510 MBq 99m Technetium Sestamibi) zeigte die oben beschriebene Raumforderung eine deutliche Mehranreicherung. Eine Feinnadelpunktion wurde bewusst nicht durchgeführt. Die Diagnose eines primären Hyperparathyreoidismus bei wahrscheinlichem Riesenadenom der Nebenschilddrüse konnte gestellt werden.
Therapie und Verlauf
Am zehnten Hospitalisationstag, nach Normalisierung des Serumkalziumwertes, erfolgte die operative Revision der linken Schilddrüsenloge. Aufgrund der Grösse der Raumforderung wurde der klassische Zugangsweg über einen Kocherschen Kragenschnitt gewählt.
Intraoperativ fanden sich breitflächige Adhäsionen zwischen linkem Schilddrüsenlappen und dem mutmasslichen Nebenschilddrüsenadenom. Infolgedessen wurde eine En-bloc-Resektion des linken Schilddrüsenlappens und der massiv vergrösserten Nebenschilddrüse durchgeführt. Dies vor allem, um eine Verletzung der Nebenschilddrüsenkapsel zu vermeiden. Unter Verwendung eines Nervenstimulators wurde der Nervus laryngeus recurrens in seinem ganzen intraoperativen Verlauf dargestellt und geschont. Der intraoperative Parathormonwert vor Hautschnitt betrug 131,7 pmol/l. Fünf, zehn respektive fünfzehn Minuten nach Resektion des Befundes wurden erneute intraoperative Parathormonbestimmungen durchgeführt. Die entsprechenden Werte beliefen sich auf 15,6, 13,8 und 12,1 pmol/l. Bei einem Abfall des Parathormonwertes von über 90% konnte auf eine Exploration sowohl der verbliebenen ipsilateralen als auch der kontralateralen Nebenschilddrüsen verzichtet werden.
Eine intraoperative Schnellschnittuntersuchung wurde bewusst nicht durchgeführt. Postoperativ wurde die Patientin 24 Stunden auf der Intensivstation überwacht. Am ersten postoperativen Tag betrug der Parathormonwert 1,5 pmol/l und lag somit im unteren Normbereich. Eine postoperative Kalziumsubstitution war nicht notwendig. Die pathologische Aufarbeitung des Resektates (Abb. 1 und 2) zeigte einen normal konfigurierten linken Schilddrüsenlappen. Diesem anliegend fand sich ein 90 × 50 × 20 mm grosses und 41 g schweres solides nichtzystisches Nebenschilddrüsenneoplasma. Da dieses histologisch keine Malignitätszeichen wie Kapsel- oder Gefässinvasion aufwies, konnte die Diagnose eines benignen Nebenschilddrüsenadenoms gestellt werden (Abb. 3).
Der weitere Verlauf gestaltete sich komplikationslos. Drei Monate postoperativ erfolgte eine spezialärztliche endokrinologische Nachkontrolle. Die Patientin zeigte sich subjektiv völlig beschwerdefrei. Der Serum-Kalziumwert (2,31 mmol/l), der Parathormonwert (5,4 pmol/l) als auch der 25-Hydroxy-Vitamin-D-Wert (89 nmol/l) lagen im Normbereich.
Diskussion
Die Nebenschilddrüsen wurden erstmalig 1877 durch Ivar Sandström, Medizinstudent an der Universität Uppsala, beschrieben [2]. Die erste Parathyreoidektomie wurde 1925 durch Felix Mandl an der Universität Wien durchgeführt. Eine normale Nebenschilddrüse ist etwa 3–6 mm gross, rundlich und von rehbrauner Farbe. Eine einzelne Nebenschilddrüse wiegt etwa 30–40 mg. Der primäre Hyperparathyreoidismus hat eine Inzidenz von 20–30/100 000/Jahr. Bei rund 85% der Patienten liegt ein singuläres Adenom vor. Bei weniger als 1% der Patienten mit primärem Hyperparathyreoidismus findet sich als Ursache ein Nebenschilddrüsenkarzinom. In einer kürzlich publizierten retrospektiven Studie, die 300 konsekutive Patienten mit primärem Hyperparathyreoidismus einschloss, wurde das durchschnittliche Gewicht eines Nebenschilddrüsenadenoms mit 1,17 g angegeben [1]. Das mediane Gewicht betrug 0,61 g (0,05–29,93 g). Als Riesenadenome («giant adenoma») wurden Nebenschilddrüsenadenome jenseits der 95. Gewichtsperzentile, die bei 3,5 g lag, definiert. Die Autoren verglichen die Patienten mit Riesenadenomen (n = 15) mit der Restgruppe (n = 285, Gewicht <3,5 g). Keine Unterschiede zeigten sich beim Alter, dem Geschlecht, der präoperativer Vitamin-D-Bestimmung und der intraoperativen Lokalisation. Patienten mit Riesenadenomen waren häufiger klinisch asymptomatisch, dies trotz höherer präoperativer Kalzium- und Parathormonwerte. Die Adenome waren häufiger singulär, und eine symptomatische postoperative Hypokalzämie trat vermehrt auf. In beiden Gruppen fanden sich keine Nebenschilddrüsenkarzinome.
In einer zweiten retrospektiven Studie aus Frankreich wurden 26 Patienten mit Riesenadenomen (>3,5 g) der Nebenschilddrüse analysiert [3]. In 50% der Fälle lag eine ektope Lokalisation der Nebenschilddrüsenadenome vor. Nebenschilddrüsenkarzinome fanden sich nicht.
Riesenadenome der Nebenschilddrüse sind selten. In der vorliegenden Fallbeschreibung handelt es sich um eines der grösseren Resektate. In eutoper Lage wurden bislang Nebenschilddrüsenadenome mit einem Gewicht von knapp über 100 g beschrieben [4]. Ektope mediastinale Adenome der Nebenschilddrüse können diesen Wert noch überschreiten.
Bei einem Riesenadenom der Nebenschilddrüse muss präoperativ, neben dem möglichen Vorliegen hereditärer Syndrome (multiple endokrine Neoplasie, Hyperparathyreoidismus-Kiefertumor-Syndrom), die Differentialdiagnose eines Nebenschilddrüsenkarzinoms in Betracht gezogen werden [5]. Liegt eine klare Metastasierung oder eine offensichtliche Infiltration von Nachbarorganen nicht vor, so ist eine präoperative Dignitätsbeurteilung kaum möglich, zumal die Feinnadelpunktion die wegweisenden Kriterien für ein infiltratives Wachstum (Gefässinvasion, Kapseldurchbruch) nicht erfassen kann.
Intraoperativ präsentiert sich ein Nebenschilddrüsenkarzinom in der Regel als mehrere Zentimeter messende, grau-weissliche, häufig lobulierte Raumforderung von derber Konsistenz mit einer dichten fibrösen Kapsel. Finden sich zudem intraoperativ ausgeprägte «Verwachsungen» zu den Nachbarorganen, insbesondere zur Schilddrüse, so muss von einem Nebenschilddrüsenkarzinom ausgegangen werden. Eine onkologische En-bloc-Resektion des Befundes, die den ipsilateralen Schilddrüsenlappen einschliesst, sollte durchgeführt werden. Eine intraoperative Schnellschnittuntersuchung ist aufgrund der spezifischen histologischen Malignitätskriterien (Kapseldurchbruch, Gefäss- und Perineuralscheideninvasion) nicht angezeigt. Das Nebenschilddrüsenkarzinom ist mit einer jährlichen Inzidenz von 5,73/10 000 000 ein äusserst seltener Tumor [6]. Richtlinien bezüglich einer allfällig durchzuführenden Lymphadenektomie liegen deshalb nicht vor. Bei intraoperativ hohem klinischen Malignitätsverdacht und entsprechender chirurgisch- technischer Expertise kann eine lokalisationsgeleitete Lymphadenektomie der entsprechenden zervikalen Kompartimente in Erwägung gezogen werden.
Das Wichtigste für die Praxis
• Riesenadenome (>3,5 g) der Nebenschilddrüse sind selten.
• Die besondere klinische und laborchemische Präsentation ist durch das vermehrte Parenchymvolumen erklärt.
• Bei weniger als 1% der Patienten mit primärem Hyperparathyreoidismus findet sich als Ursache ein Nebenschilddrüsenkarzinom.
• Bei Malignitätsverdacht sind weder die präoperative Feinnadelpunktion noch die intraoperative Schnellschnittuntersuchung indiziert, da beide Verfahren die spezifischen histologischen Malignitätskriterien (Kapseldurchbruch, Gefäss- und Perineuralscheideninvasion) nicht erfassen können.
• Bei intraoperativem Malignitätsverdacht ist eine onkologische En-bloc- Resektion des Befundes, die mindestens den ipsilateralen Schilddrüsenlappen einschliesst, anzustreben. Eine lokalisationsgeleitete Lymphadenektomie der entsprechenden zervikalen Kompartimente kann bei intraoperativ hohem klinischen Malignitätsverdacht und entsprechender chirurgisch-technischer Expertise in Erwägung gezogen werden.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Korrespondenz
PD Dr. med. Pietro Renzulli Klinik für Chirurgie Kantonsspital Münsterlingen Spitalcampus 1 CH-8596 Münsterlingen pietro.renzulli[at]stgag.ch
2 Johansson H. The Uppsala anatomist Ivar Sandström and the parathyroid gland. Ups J Med Sci. 2015;120:72–7.
3 Lalanne-Mistrih ML, Ognois-Ausse P, Goudet P, Cougard P. Giant parathyroid tumors: characterization of 26 glands weighing more than 3.5 grams. Ann Chir. 2002;127:198–202.
4 Power C, Kavanagh D, Hill AD, O’Higgins N, McDermott E. Unusual presentation of a giant parathyroid adenoma: report of a case. Surg Today. 2005;35:235–7.
5 Robert JH, Trombetti A, Garcia A, Pache JC, Herrmann F, Spiliopoulos A, Rizzoli R. Primary hyperparathyroidism: can parathyroid carcinoma be anticipated on clinical and biochemical grounds? Report of nine cases and review of the literature. Ann Surg Oncol. 2005;12:526–32.
6 Lee PK, Jarosek SL, Virnig BA, Evasovich M, Tuttle TM. Trends in the incidence and treatment of parathyroid cancer in the United States. Cancer. 2007;109:1736–41.