Fallstricke der Evidenz-basierten Medizin
Individuelle Erfahrung und Patientenwunsch drohen verloren zu gehen

Fallstricke der Evidenz-basierten Medizin

Aktuell
Ausgabe
2019/1516
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08056
Swiss Med Forum. 2019;19(1516):254-258

Affiliations
a Universitätsklinik für Kardiologie, Inselspital, Bern; b Kardiologie, Universitäres Herzzentrum, UniversitätsSpital Zürich

Publiziert am 10.04.2019

Evidenz-basierte Medizin ist heute heiliger Gral medizinischen Handelns. Sie soll die Patientenbetreuung optimieren und wissenschaftliche Integrität garantieren. Dies funktioniert bis zu einem gewissen Grad.

Einleitung

Der Begriff Evidenz-basierte Medizin («evidence-based medicine») taucht in der englischen Literatur erstmals Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf und ist heute nicht mehr wegzudenken [1, 2]. Die damalige Forschungsgruppe hat Evidenz-basierte ­Medizin wie folgt definiert: «Gewissenhafter, genauer und umsichtiger Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten». Von Anfang an war miteingeschlossen, dass man zur Entscheidungsfindung ausser der Evidenz aus systematischer Forschung auch individuelle klinische Forschungsergebnisse sowie Patientenpräferenz miteinbezieht. Besonders letzteres droht verloren zu ­gehen. Heute wird normalerweise Evidenz-basierte ­Medizin mit der Oxford-Klassifikation gleichgesetzt (http://www.cebm.net/index.aspx?o=5653) (Tab. 1) [3, 4].
Tabelle 1: Vereinfachte Darstellung von Empfehlungsklassen und Evidenzniveaus durch die Europäische Gesellschaft für Kardiologie, modifiziert nach [3].
Empfehlungsklasse
IEvidenz oder allgemeine Übereinstimmung, dass eine Therapie oder ein Verfahren zielführend, nützlich und effektiv ist.
Therapie oder Verfahren ist empfohlen und indiziert.
IIWidersprüchliche Evidenz oder auseinandergehende Meinungen über die ­Nützlichkeit oder Effizienz einer Therapie oder eines Verfahrens.
 IIaEvidenz und Meinung werden insgesamt positiv gewichtet bezüglich Nützlichkeit und Effizienz.
 Therapie oder Verfahren sollte in Betracht gezogenen werden.
 IIbNützlichkeit und Effizienz sind nicht wirklich gut etabliert durch die Evidenz oder die allgemeine Meinung.
 Therapie oder Verfahren kann in Betracht gezogen werden.
IIIEvidenz oder allgemeine Meinung, dass die Therapie oder das Verfahren nicht ­nützlich oder effizient ist und in gewissen Fällen sogar schädlich sein kann.
Therapie oder Verfahren ist nicht empfohlen.
Evidenzniveau
AEs gibt Daten von mehreren randomisierten klinischen Studien oder Metaanalysen.
BEs gibt Daten von einer randomisierten Studie oder von grossen nicht ­randomisierten Studien.
CEinheitliche Meinung der Experten oder kleine, retrospektive Studien oder Register.

Evidenz-basierte Medizin und Sicht der Medizinindustrie

Die Medizinindustrie hat ein wirtschaftliches Interesse daran, die Evidenz aufgrund möglichst grosser Patientenzahlen mit wenig Selektionskriterien zu erstellen. Ist die Evidenz für ihr Produkt in einer derartigen Studie positiv (dass der absolute Nutzen unter Umständen klein ist wird durch eilige Leser oft übersehen), ist das Kundenfeld gross. Dabei werden allerdings auch (praktisch) gesunde Menschen zu Patienten gemacht und mitbehandelt, die kaum oder gar nicht von der Therapie profitieren. Als theoretische Beispiele dienen folgende:
Ein Lesebrillen-Hersteller macht eine randomisierte Studie und schliesst die gesamte Weltbevölkerung ein. Die eine Hälfte wird mit einer Lesebrille ausgestattet, die andere Hälfte mit einer Fensterglasbrille. Der Lesetest ergibt einen hochsignifikanten Vorteil der Welthälfte mit Lesebrille. Die logische Schlussfolgerung lautet, dass aufgrund dieser gross angelegten, gut ­kontrollierten und positiv ausgefallenen Doppelblindstudie (Ausdruck in diesem Zusammenhang etwas ­unglücklich) die gesamte Weltbevölkerung mit einer ­Lesebrille ausgerüstet werden sollte. Die Empfehlung wäre hier Empfehlungsklasse I mit Evidenzniveau B (Tab. 1). Für die älteren Menschen der Welt trifft das auch zu. Sie waren der Grund dafür, dass die Studie positiv wurde. Für die jungen Menschen ist dies Unsinn.
Werden bei einer Studie mit einem Antihypertensivum Patienten schon ab einem systolischen Blutdruck von 130 mm Hg eingeschlossen, kann das Medikament bei genügend grosser Studienpopulation durchaus einen positiven Effekt auf klinische Endpunkte ergeben. Ausschlag dafür geben die Patienten mit hohem systolischen Blutdruck (zum Beispiel über 150 mm Hg). Hätte man nur diese Patienten eingeschlossen, hätte man mit weniger Patienten eine positive Studie mit zudem höherem absoluten Nutzen erreichen können, das Medikament wäre aber danach nur für eine wesentlich kleinere Patientengruppe indiziert [5].

Evidenz-basierte Medizin und ­Publika­tionsrigor

Um geschönten oder manipulierten Publikationen vorzubeugen hat sich ein strenger Kodex etabliert, den alle medizinischen Zeitschriften einhalten, je angesehener die Zeitschrift, desto strikter. Teleologisch ist dies sinnvoll und unanfechtbar. Leider führt es aber mitunter dazu, dass marktreife Fortschritte den Pa­tienten über Jahre vorenthalten werden.
Es muss zum Beispiel bei der Erstellung des Forschungsprotokolls eine diesbezügliche Registration oder Publikation erfolgen, bevor die eigentliche Studie beginnt. Danach darf an diesem Protokoll im Prinzip nichts mehr verändert werden. Unabdingbare Änderungen sind allenfalls mit grossem Aufwand möglich, der fast dem Erstellungsaufwand entspricht. Ergeben sich in der Studie Resultate, die im Protokoll nicht als Untersuchungsobjekt erwähnt sind, dürfen diese nicht publiziert werden. Dies können Resultate in nicht vordefinierten Untergruppen sein, Resultate, die sich erst nach der definierten Verlaufsperiode konkretisiert haben oder Ergebnisse, mit denen schlicht nicht gerechnet wurde. Darüber hinaus wird fast ausnahmslos ­gefordert, dass die Resultate nach dem «Intention to Treat»-Prinzip analysiert werden. Das heisst, die Patienten werden in der Untersuchungsgruppe ausgewertet, der sie initial zugeteilt wurden, auch wenn sie aus welchen Gründen auch immer die Behandlung (oder eben keine Behandlung) einer anderen Gruppe erhielten.
Ein überspitztes Beispiel ist eine Studie, in der man offen randomisiert untersucht, ob der Sprung aus einem Flugzeug mit oder ohne Fallschirm sicherer ist. Der Fallschirm ist die neue Methode, die sich als überlegen beweisen muss. Es handelt sich also um eine Überlegenheitsstudie und nicht um eine Nichtunterlegenheitsstudie. Die Beobachtungszeit wurde auf drei ­Minuten festgelegt. Bei der Ausführung der Studie war dann die Flughöhe so hoch, dass niemand innerhalb von drei Minuten den Boden erreichte. Ausserdem wurden im Flugzeug einige Personen aus Versehen der falschen Gruppe zugeordnet, bzw. vergassen den Fallschirm anzuziehen, dem sie zugeordnet waren. Die Studie muss wegen des Verlaufsdauerkriteriums so ­publiziert werden, dass der Fallschirm keinen Vorteil brachte, da nach den drei Minuten vordefinierter Verlaufsbeobachtung alle Probanden am Leben waren. In der Gruppe mit Fallschirm kam es zu einigen Hautkratzern und verstauchten Fingern, die beim Anschnallen des Fallschirms geschahen. Es muss also auch erwähnt werden, dass Nebenwirkungen nur in der Gruppe mit Fallschirm auftraten. Der Fallschirm konnte die postulierte Überlegenheit nicht beweisen und folglich rät man von ihm ab. Es darf in dieser Erstpublikation im Prinzip nicht erwähnt werden, dass nach der definierten Verlaufszeit von drei Minuten beim Auftreffen auf dem Boden alle Probanden ohne Fallschirm starben und alle mit Fallschirm überlebten. Selbst bei genügender Beobachtungszeit wird allenfalls wegen der Forderung, nach «Intention to Treat» zu analysieren, die ­statistische Signifikanz der Überlegenheit des Fallschirms nicht erreicht. Die dem Fallschirm zugeordneten Probanden, die ohne Fallschirm sprangen, werden als ­Todesfälle in der Fallschirmgruppe gewertet. Auch hier müsste in diesem Fall geschlossen werden, dass der Fallschirm nicht indiziert ist, da er nicht zu einer signifikanten Reduktion der Mortalität, wohl aber zu ­Nebenwirkungen führte.
Beim Verschluss des permeablen Foramen ovale (PFO) führten diese Mechanismen dazu, dass während Jahren von diesem Eingriff abgeraten wurde, obwohl die Daten eindeutig für ihn sprachen. Die ersten randomisierten Studien hatten zu kurze Verlaufsperioden vorgesehen [6, 7]. In der einen Studie war die Verlaufsperiode auf fünf Jahre vordefiniert [6]. Infolge langsamer Rekrutierung waren einige Patienten bis zu zehn und mehr Jahren in der Studie eingeschlossen. Es durften aber nur die acht Rezidiv-Zerebralereignisse gewertet werden, die sich in den ersten fünf Jahren ereignet hatten. Davon traten nach der heute üblichen ischämischen Hirnereignisdefinition sieben in der Kontrollgruppe und nur eines in der PFO-Verschlussgruppe auf. Dies war statistisch nicht signifikant. Hätten auch spätere Ereignisse gewertet werden können, wäre die Signifikanz erreicht worden. Die andere Studiemit ­etwas grösserer Patientenzahl wurde protokollgemäss nach 25 Rezidiv-Schlaganfällen ausgewertet [7]. Nach dem im Protokoll vorgeschriebenen «Intention to Treat»-Prinzip traten 16 Ereignisse in der Kontrollgruppe und neun in der Gruppe mit PFO-Verschluss auf. Dies ergab einen p-Wert von 0,08, gefordert für Signi­fikanz war aber p ≤0,05. Vier der Ereignisse in der PFO-Verschlussgruppe waren allerdings bei Patienten aufgetreten, deren PFO nicht verschlossen worden war. Nach der «Intention to Treat»-Analyse wurden sie als Ereignisse nach PFO-Verschluss gewertet. Wären sie ausgeschlossen worden, wäre der Unterschied zugunsten des PFO-Verschlusses signifikant ausgefallen (16 gegen 5 Ereignisse, p = 0,007). Hätte man die Analyse entsprechend des tatsächlichen Therapieverfahrens gewertet, wäre das Verhältnis sogar 20 Rezidiv-Schlaganfälle mit medikamentöser Therapie gegenüber fünf nach PFO-Verschluss gewesen, eine Ereignisreduktion von 75% mit noch höherer Signifikanz. Beide Studien wurden als negative Studien publiziert und die Schlussfolgerung lautete, man solle bei solchen Patienten das PFO nicht verschliessen. Da es sich um Überlegenheitsstudien handelte, durfte nicht erwähnt werden, dass zumindest die Nichtunterlegenheit des PFO-Verschlusses bewiesen war. Hätte man die Studien als Nichtunterlegenheitsstudien vordefiniert, hätte man erwähnen können, dass beide Behandlungsmethoden in Frage kommen, lebenslange Blutverdünnung oder PFO-Verschluss. So musste man weiterhin die lebenslange Blutverdünnung empfehlen. Es durfte nicht erwähnt werden, dass aufgrund praktischer, ­finanzieller und medizinischer Überlegungen der kurze, einfache und schmerzlose PFO-Verschluss, der auch schon als «mechanische Impfung» bezeichnet wurde [8], der lebenslangen Blutverdünnung mit ­einem nicht unbeträchtlichen und mit dem Alter gar zunehmenden Blutungsrisiko und endlos anwachsenden Kosten überlegen sein muss. Im Rahmen der Evidenz-basierten Medizin ist dies lediglich «Hypothese-generierend», aber nicht beweisend. Erst die etwas klüger angelegten nachfolgenden randomisierten ­Studien [9, 10]sowie eine im primären Studienprotokoll vorgesehene Nachauswertung nach längerem Verlauf einer der frühen Studien[11] bewiesen den Vorteil des PFO-Verschlusses gegenüber der konservativen Therapie statistisch signifikant. Die erste Publikation dieser im Verlauf zweimal analysierten Studie errechnete einen p-Wert von 0,08, der sich nach längerem Follow-up auf 0,046 reduzierte. Der p-Wert ist die Abkürzung für Probabilität, also die Irrtumswahrscheinlichkeit, dass die untersuchte Nullhypothese richtig ist. Diese Wahrscheinlichkeit betrug initial 8% und sank unter weiterer Beobachtung auf 4,6%. Erst die Reduktion der Irrtumswahrscheinlichkeit um weitere 3,4% (unter die übliche Signifikanzschwelle von 5%) führte dazu, dass der PFO-Verschluss als Evidenz-basiert angesehen und akzeptiert wurde. Während Jahren wurden also Patienten wegen der Evidenz-basierten Medizin und wegen des Publikationsrigors suboptimal behandelt und niemand scheint ein schlechtes Gewissen zu haben wegen der verhinderbaren Hirnschläge, die sich in dieser Zeit ereigneten.
Analog wurde in allen drei randomisierten Studien über den PFO-Verschluss zur Migräneverbesserung zahlenmässig ein Effekt gefunden, aber in keiner war die Verbesserung des jeweiligen vordefinierten primären Endpunkts signifikant [12–14]. Bis heute wird deshalb vom PFO-Verschluss bei Migränikern abgeraten, obwohl zumindest die Nichtunterlegenheit zur ausgebauten medikamentösen Therapie bewiesen ist. Dies darf nicht angeführt werden, da die Studien als Überlegenheitsstudien angelegt waren. Übrigens braucht man lediglich die etwa 10 Jahre vor der Publikation willkürlich festgelegten primären Endpunkte der beiden Hauptstudien [12, 13] auszutauschen und schon hat man zwei signifikant positive Studien [8]. Auch wäre wichtig zu erwähnen, dass man nach dem Verschluss des PFOs wegen Migräne lebenslang den kollateralen Nutzen nicht mehr möglicher paradoxer Embolien hat und somit Hirnschläge und Herzinfarkte verhindert werden. Der Publikationsrigor lässt dies nicht zu.

Evidenz-basierte Medizin und gesunder Menschenverstand

Zuweilen produzieren korrekt konzipierte und ausgeführte kontrollierte randomisierte Studien Evidenz, die mit gesundem Menschenverstand nicht zu vereinbaren sind, zumal wenn man lediglich die Schlussfolgerung liest. Man hat jahrelang beim Überqueren der Strasse zunächst nach links und ab Mitte der Strasse nach rechts geschaut. Nun erscheint eine Studie die ­beweist, dass man die Strasse sicherer überquert, wenn man zuerst nach rechts und dann ab Mitte der Strasse nach links guckt. Zu einem solchen Resultat kann es zum Beispiel kommen, wenn die Studie in einem Land mit Linksverkehr durchgeführt wird, oder wenn Einbahnstrassen mit Verkehr von rechts verwendet wurden. Dies wird in der Studienmethode erwähnt. Die Studienschlussfolgerung hingegen lautet schlicht, dass es sicherer ist, zuerst nach rechts zu schauen. Die meisten werden nur die Schlussfolgerung lesen. Immerhin wird die normale Reaktion sein, dass man seine bewährten Gepflogenheiten beibehält und nicht der Studie anpasst. Und das ist gut so.
Eine kürzlich publizierte Studie hat in einer an sich untadeligen Studienanordnung gezeigt, dass bei Patienten mit einer einzelnen signifikanten Koronarstenose kein Unterschied besteht, ob man diese Stenose mit ­einem Stent behebt oder lediglich medikamentös weiterbehandelt, den Patienten aber im Glauben lässt, man habe die Engstelle allenfalls behoben [15]. Dieses sogenannte «Sham»-Vorgehen teilt dem Studienpatienten vorher mit, dass bei der Hälfte der Patienten keine Behandlung vorgenommen wird, dies aber bis zum Studienende nicht kommuniziert werden wird. Durch Kopfhörerbeschallung sowie Sicht- und Informationssperre bleibt der Patient im Ungewissen, ob man bei ihm nun einen Stent einsetzt oder lediglich die Zeit verstreichen lässt, in welcher der Stent eingesetzt werden könnte. Dies führt dazu, dass auch Patienten ohne Stent sich unter Umständen eine Besserung einbilden, da sie annehmen, einen Stent gekriegt zu haben (Placebo-Effekt). Andererseits gehen einige der Patienten, bei denen tatsächlich ein Stent eingesetzt wurde, davon aus, dass sie in der Kontrollgruppe seien und erwarten entsprechend keine Besserung ihrer Symptome. Diese Konstellation dreht zwar den tatsächlichen Effekt nicht um, schmälert aber einen allfälligen Unterschied zu Gunsten der Stent-Gruppe. Die Resultate besagter Studie machen schlicht keinen Sinn [16]. Zwar zeigte die Gruppe mit Stent eine nichtsignifikante Verlängerung der Belastbarkeit auf dem Laufband sowie eine signifikant geringere Ischämie in der Stress-Echokardiographie. Die maximale Sauerstoffaufnahmekapazität war aber sogar nummerisch leicht vermindert. Fakt ist, Implantieren eines Stents in eine signifikante Einzelkoronarstenose bei typischen Symptomen beseitigt Angina pectoris regelhaft und zuverlässig. Es ist fast, als ob man einen Schalter umlegt. Ein Belastungsversuch einige Minuten vor dem Eingriff ruft die Symptome und auch ST-Senkungen im EKG hervor. Der Belastungsversuch kann sofort nach dem Eingriff wiederholt werden und ist praktisch ausnahmslos normalisiert. Es ist unerklärlich, dass dies in den 100 Patienten dieser Studie offenbar nur selten der Fall war. Lediglich die Hälfte der Patienten mit Stent gaben am Studienende nach sechs Wochen an, symptomfrei zu sein. In der praktischen Erfahrung sind dies über 90%. Da in der Gruppe, die keinen Stent erhielt (Sham-Gruppe) wegen Messung der fraktionellen Flow-Reserve bei 6% signifikante Komplikationen bei der Katheteruntersuchung auftraten, wurden die in den konservativen Arm randomisierten Patienten, die ohne Chance eines therapeutischen Nutzens katheterisiert wurden, nicht nur benachteiligt, sondern in juristisch bedenklicher Art gefährdet. Das Einbringen eines Stents in eine Einzelstenose dauert heutzutage lediglich 5 Minuten zusätzlich zur diagnostischen Angiographie und hat ein Gesamtrisiko inklusive Verlauf von unter 2%. Davon sind dem Stent allenfalls 1% anlastbar. Dies muss im Verhältnis gesehen werden mit dem Risiko, die Stenose nicht zu stenten. Es besteht aus der Gefahr einer Plaque-Ruptur mit akutem Herzinfarkt (etwa 0,5% pro Jahr unter guter medikamentöser Prävention) sowie aus einer Stenoseprogression, die den Stent-Einsatz später erfordert (über 50%). Ausserdem erlaubt der Stent-Einsatz das Absetzen zum Beispiel von Betablockern mit den bekannten die Lebensqualität mindernden Nebenwirkungen. Man muss als Leser der Studie bis in den Appendix gehen, um zu erfahren, dass sich während der 6 Studienwochen in der Placebo-Gruppe insgesamt 8 schwerwiegende Ereignisse ereigneten (davon ein Herzinfarkt, 1 Lungenödem und 1 Hospitalisation wegen Brustschmerzen) im Vergleich zu keinem einzigen Ereignis in der Stent-Gruppe. Man muss kein Hellseher sein, um vorauszusagen, dass die Studie mit längerer Beobachtungszeit ­einen signifikanten Vorteil für Stents zeigen würde. Die 6 Wochen Beobachtungszeit entsprechen gleichsam den 3 Minuten Beobachtungszeit des oben erwähnten Fallschirmbeispiels. Interessanterweise halten die Studienautoren selbst fest, dass ihre Studienresultate nicht davon abhalten sollten, bei stabiler Angina pectoris ein Stenting durchzuführen [15]. Ein begleitendes Editorial sieht in der ­Studie aber den letzten Nagel im Sarg des Stentings für stabile koronare Herzkrankheit [17]. Den Autoren des Editorials war nicht bewusst, da nicht in der Arbeit ­erwähnt, dass 85% der Patienten der Sham-Gruppe am Ende der vordefinierten Beobachtungszeit von 6 Wochen gestentet wurden. Die Autoren der Studie selbst kommen auf den ursprünglichen Gebrauch der Evidenz-basierten Medizin zurück, die dem ärztlichen ­Ermessen und dem Wunsch des Patienten grossen Raum einräumt, während die Autoren des Editorials rein datengesteuert reagieren, ähnlich eines Computers. Gesunder Menschenverstand hätte die naheliegende, aber über das Studienprotokoll hinausgehende Nachfrage erfordert, wie viele Patienten nach Ablauf der Studie eine Stent-Behandlung brauchten oder wünschten. Erfahrungsgemäss beeinflusst eine solche Studie das weltweite Gehaben bezüglich Stent-Einsatz kaum und dem ist gut so. Schon frühere Studien hatten dem Koronar­stenting das Potential abgesprochen, Leben zu verlängern [18]. Dies wurde von manchen dahingehend interpretiert, dass man es nicht anwenden sollte. Hielte man nur medizinische Behandlungen für indiziert, welche in randomisierten Studien Lebensverlängerung bewiesen haben, rechtfertigte dies kaum 10% der heutigen therapeutischen medizinischen Tätig­keit. Ganze Fachrichtungen wie Dermatologie, Ophthalmologie, Psychiatrie und Zahnmedizin würden womöglich verschwinden. Im Fall des Koronar­stentings kann man den Ruf nach Lebensverlängerung allenfalls verstehen, weil es sich um eine Herzbehandlung handelt. Abbildung 1 zeigt, dass die Herzchirurgen mit der koronaren Bypass-Operation signifikant Leben verlängern, da sie in der Regel schwerkranke Koronariker behandeln [19]. Die reine Ballon-­Dilatation kam ­einer signifikanten Lebensverlängerung nahe. Die ersten Stents verschlechterten insgesamt die Prognose gegenüber der reinen Ballon-Dilatation, da sie in einigen Prozenten im Verlauf thrombosierten, was zu Todesfällen führte. Die ersten beschichteten («Drug-eluting») Stents waren zwar entgegen der landläufigen Meinung bereits etwas besser als die passiven («Bare-metal») Stents, aber erst die neuesten Generationen der beschichteten Stents haben den Makel des ­Risikos zur Stent-Thrombose weitgehend abgelegt und eine signifikante lebensverlängerte Wirkung bewiesen.
Abbildung 1: Relative Reduktion der Mortalität in Prozent durch verschiedene Methoden der koronaren Revaskularisierung gegenüber medikamentöser Therapie [19]. 
Sowohl koronare Bypass-Chirurgie als auch die neusten Versionen der beschichteten Stents reduzieren die Mortalität signifikant. Bei der ursprünglichen Ballon-Dilatation bestand ein Trend zur Mortalitätsreduktion, der durch die Einführung des passiven Stents weitgehend verloren ging und auch in der leicht besseren ersten Generation der beschichteten Stents kaum mehr vorhanden war. 
* Signifikant in randomisierten Studien.

Schlussfolgerung

Ohne die Evidenz-basierte Medizin über Gebühr anprangern zu wollen, darf man sie nach den bewährten Prinzipien der Epistemologie nur verhältnismässig bei den Entscheidungen mit einbeziehen. Besonders junge Ärzte ohne eigene Erfahrung neigen dazu, der Evidenz-basierten Medizin vorbehaltlos zu willfahren und dabei die neuste Evidenz immer über die ­ältere zu stellen. Sie sind gut beraten, Rat bei älteren Kollegen einzuholen und ihn auch einzubeziehen. Dies tun sie wohl instinktiv, wenn es sich beim Patienten um sie selbst oder ihre Angehörigen handelt. Jeder Patient hat das Recht, so behandelt zu werden, wie der Arzt nahe Angehörige behandelt haben möchte. Dem Patienten sind individuell angepasst sämtliche Tatsachen offen zu legen und nicht nur was im Schlusssatz der neuesten Publikationen steht. Das Verdikt über Behandlungsmöglichkeiten der koronaren Herzkrankheit kann zum Beispiel nicht anhand einer ganze 6 Wochen dauernden bizarren und realitätsfremden Studie gesprochen werden. Die Krankheit geht weiter und der Patient muss dies wissen, denn er wird es erleben. Die Symbiose von korrekt interpretierter Evidenz, eigener Erfahrung, Erfahrung älterer Kollegen und Wunsch des umfassend informierte Patienten macht zwingend das Rennen.
Prof. em. Dr. B. Meier and Dr. F. Nietlispach report speaker and ­proctor fees from Abbott.
Prof. em. Dr. med.
Bernhard Meier
Universitätsklinik für
Kardiologie
Departement Herz
und Gefässe
Inselspital
CH-3010 Bern
bernhard.meier[at]insel.ch
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