«Los e’mal …» – ein (nicht so) klarer Fall von Rückenschmerzen
«Listen to the patient – he has got first-hand experience» (William Osler)

«Los e’mal …» – ein (nicht so) klarer Fall von Rückenschmerzen

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2019/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08093
Swiss Med Forum. 2019;19(1920):326-331

Affiliations
a Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, und Universität Bern, Bern; b Institut für Infektionskrankheiten, Universität Bern, Bern;
c Klinik für Infektiologie & Spitalhygiene, Universitätsspital, Basel

Publiziert am 08.05.2019

Fall eines pensionierten Patienten, der seit drei Wochen an störenden und zunehmenden Schlafstörungen aufgrund von Rückenschmerzen leidet. Durch nächtliches Aufstehen und Umhergehen bessern sich die Symptome.

Einleitung

Jaja – er hatte Recht ganz am Anfang des Smalltalks, mit der Aufforderung auf Berndeutsch «los e’mal» – es ging tatsächlich ums Zuhören – oder besser: ums genaue Hinhören. Nach meiner (ich = Mathias Sturzenegger) 35-jährigen klinischen Erfahrung ist das genaue Hin­hören immer noch ein (diagnostisch, und auch therapeutisch – aber wohl weniger monetär) lohnendes (oder vielleicht besser: befriedigendes) Unterfangen.

Anamnese

Also, das war an einem Geburtstagsfest, beim Weisswein-Apéro, als ein guter Bekannter mir sein Leid zu schildern begann.
Seit gut drei Wochen leide er an sehr störenden und zunehmenden Schlafstörungen wegen Rückenschmerzen, er müsse mehrfach pro Nacht aufstehen, die Schmerzen trieben ihn aus dem Bett, dann müsse er herumgehen –dann gehe es besser und er könne wieder abliegen und einschlafen.
Zugegeben – man befindet sich beim Apéro an einem Geburtstagsfest – aber können Sie da den Sherlock ­Holmes in Ihnen einfach ablegen? Ich nicht! Deshalb erfragte ich die «klassischen 5» der Schmerzanamnese:
– Schmerzort
– Schmerzart
– Schmerzaggravation
– Schmerzlinderung
– Begleitsymptome
Der Schmerz manifestiere sich im Bereich der rechten Bauchseite/Flanke, kaum links, mit intermittierender Ausstrahlung ins Gesäss und in den dorsalen Oberschenkel rechts. Der Schmerz habe einen brennenden Charakter, wie ein schmerzhaftes «Gramsele». Eigentlich trete der Schmerz nur nachts, in Ruhe, auf – tagsüber bei Aktivität kaum je. Es bestehe keine Behinderung tagsüber, keine Schwäche, keine Lähmung. Er habe nie Bläschen auf der Haut oder einen Hautausschlag bemerkt. B-Symptome gibt er auf Befragung keine an.
Aber seit ein paar Tagen sei ihm eine «Beule»/Vorwölbung am/im Bauch rechts aufgefallen.

Was für ein Schmerztyp liegt vor?

Der brennende Schmerzcharakter, die Missempfindungen, die Lokalisation Dermatom-artig, die Ausstrahlung ins Gesäss (radikulär-artig) sind alles Eigenschaften, die einen neuropathischen Schmerz (Schmerz infolge Schädigung peripherer sensibler oder vegetativer Nervenfasern) auszeichnen.

Was könnte die Schmerzursache sein?

Der Ruheschmerz, das vor allem nächtliche Auftreten, sollte (auch) an eine entzündliche Ursache denken lassen.
Vorgängig wurde aufgrund der «Bauchwandhernie» bereits ein Abdomen-CT veranlasst (Abb. 1).
Abbildung 1: Abdomen–CT. Asymptomatische Gallensteine erkennbar.

Was erkennen Sie darauf?

Gallensteine – erklärt das die Beschwerden? Wohl kaum; zwar sind sie auf der rechten Seite – aber dieser Befund erklärt nicht, weshalb die Schmerzen in die Flanke und ins Gesäss ausstrahlen. Also: das Abdomen-CT liefert die Erklärung nicht.
Gemäss Angaben des Bekannten wurde das auch vom Hausarzt erkannt, und danach ein MRI der Wirbelsäule veranlasst (Abb. 2)
Abbildung 2: MRI BWS und obere LWS (A) und MRI LWS und Sakrum (B). Ein Wirbelkörperhämangiom BWK 9 (dicker Pfeil A, B); eine Deckplattenimpression BWK 12 (dünner Pfeil A, B); Diskusprotrusionen LWK 1/2 und 2/3 (2 feine Pfeile, B); ­Vertebroplastie des vor allem ventral imprimierten LWK 2 (Pfeilspitze, B).

Was erkennen Sie darauf?

Ein Wirbelkörperhämangiom BWK 9 (dicker Pfeil in Abb. 2A und B), eine Deckplattenimpression BWK 12 (dünner Pfeil, Abb. 2A, 2B); Diskusprotrusionen LWK 1/2 und 2/3 (feine Pfeile, Abb. 2B) sowie ein Wirbelkörperaufbau (Vertebroplastie) des vor allem ventral imprimierten LWK 2 (Pfeilspitze, Abb. 2B). Dazu erzählt der Patient, dass er sich diese WK-Frakturen vor einigen Jahren bei einer «harten Landung» als Passagier in ­einem Segelflieger zugezogen habe.

Erklären diese Befunde nun die Beschwerden?

Wohl kaum.
Fazit:Zwei bildgebende Untersuchungen mit mindestens fünf «Inzidentalomen», Befunde ohne Bedeutung für Ihre Fragestellung, aber mit dem Potential, Sie in die Irre zu führen!
Wie weiter?

Status und Befunde

«Ein Auge voll nehmen», den Patienten anschauen, aber entkleidet (!), ist oft (trotz Bildgebung!) immer noch eine hilfreiche Sache – oder können Sie sich unter einer «Beule im Bauch» etwas Definiertes vorstellen? Ich entführe den Bekannten in ein Nebenzimmer und lasse ihn das Hemd ausziehen. Die «Beule» ist klar ­ersichtlich (Abb. 3). Aber was ist das? Kein Tumor (Abdomen-CT) und auch keine eigentliche Hernie (kein Bruchsack palpabel). Eine «Bauchwanddiastase», erworben gemäss Anamnese. Aber woher?
Abbildung 3: Die «Beule» der rechten Bauchwand ist klar ­ersichtlich.
«Und (halt eben doch) untersuchen» – soweit das anlässlich des Apéro-Anlasses geht.
Dysästhesie bei Berührung im Bereich der Dermatome TH9 bis ungefähr L1 rechts und eine leichte Vorwölbung der rechten Flanke im Vergleich zu links, – keine weiteren neurologischen (radikulären) Defizite (Lasègue bds. negativ, keine Paresen, keine Sensibilitätsstörungen der Extremitäten), Muskeleigenreflexe der Arme schwach, der Beine nicht sicher auslösbar, Hirnnerven unauffällig, Babinski bds. negativ, Gang unauffällig).

Wie lautet Ihre Zwischenbilanz?

Beurteilung: Entzündlicher, neuropathischer Schmerz rechte Flanke bis rechts glutaeal; dermatomal, also ­radikulär angeordnete Missempfindungen und Dys­ästhesie (ca. TH9–L1) rechts; Bauchwandparese rechts. Da die Bauchwandmuskulatur (M. obliquus externus und internus und der M. quadratus lumborum von den ventralen Ästen der unteren thorakalen Spinalnerven innerviert werden, entspricht die Bauchwandparese zusammen mit den Dysästhesien einem sensomotorischen radikulären Ausfall der rechtsseitigen unteren Spinalnervenwurzeln (ca. TH9–L1).
Zusammen mit dem entzündlichen Schmerzcharakter ergibt sich somit die klinische Diagnose einerRadikulitis throrakolumbaler Nervenwurzeln rechts.

Was ist Ihre Differentialdiagnose und was sind die nächsten Schritte?

a) Borreliose
b) Herpes zoster
c) Diabetes mellitus
Der Bekannte hat keinen bekannten Diabetes und hatte keinen Hautausschlag.
Ach ja, war da noch was?
Der Bekannte lebt nahe der Emme. Hat einen grossen Garten und Wald. Ist pensioniert und viel «draussen».

Welches ist die sinnvollste nächste diagnostische Massnahme?

Die nächste sich aufdrängende diagnostische Massnahme ist die Lumbalpunktion. Dazu biete ich den Patienten für den kommenden Tag in die Sprechstunde auf.
Der Eröffnungsdruck beträgt 18 cm H20; die Zellzahl: 170 Zellen/ml; 100% mononukleär; das Liquor-Eiweiss: 1,36 g/l; die Liquor-Glukose: 3,97 mmol/l; das Liquor-Laktat: 1,9 mmol/l.

Wie interpretieren Sie diesen Befund?

Der Liquorbefund beweist eine Entzündung (Pleo­zytose, 170 Zellen/ml). Die klinische Präsentation zusammen mit dem mononukleären Zellbild ist mit ­einer viralen (so z.B. auch Varizellen-Zoster oder HSV), aber auch einer bakteriellen (z.B. Leptospiren oder Borrelien) Ursache vereinbar.
Die klinische Falldefinition einer Neuroborreliose ist differentialdiagnostisch erfüllt [1], was wiederum eine serologische Untersuchung rechtfertigt (nicht umgekehrt!). Das erhöhte Eiweiss spricht für eine subakute Entzündung. Die Dauer der Symptome war zum Zeitpunkt der Lumbalpunktion ca. 3 Wochen.
Um die Verdachtsdiagnose einer Neuroborreliose zu erhärten, müssen Sie parallel zur Liquorpunktion die Borrelienserologie im Blut und den sogenannte Liquor-Serum-Antikörperindex (AI) bestimmen lassen. Um eine differentialdiagnostisch zu erwägende Zoster-Radikulitis auszuschliessen, veranlassen Sie im Liquor die VZV-PCR. Diese war negativ (Abb. 4).
Abbildung 4: Liquor-PCR für Varizella-Zoster-Virus: negativ. Der Liquor/Serum-Index für Borrelia burgdorferi-Antikörper ist für IgG hoch positiv (52,54), für IgM schwach positiv (3,42).
In Abbildung 5 sehen Sie das Resultat der Borrelien­serologie.
Abbildung 5: Borrelien-Serologie im Blut. Der IgG-Suchtest (IgG-EIA) ist positiv, ebenso der Bestätigungstest (IgG-Recomline).

Wie interpretieren Sie diese Resultate?

Der Borrelien-Suchtest (recomWell Borrelia, Mikrogen Diagnostik, Neurid, Deutschland) ist für IgG positiv oder reaktiv, für IgM negativ. Ein Suchtest ist sensitiv, aber wenig spezifisch. Deshalb erfolgt bei reaktivem Suchtest eine Bestätigung mit dem spezifischeren ­Westernblot (recomLine Borrelia, Mikrogen Diagnostik): die typischen Banden sind positiv, der Test ist klar positiv.
Diese Serologie-Ergebnisse sagen Ihnen, dass der Pa­tient (irgend)einmal von einer Zecke gestochen und mit Borrelia burgdorferi infiziert wurde. Das kann aber vor Jahren gewesen sein. Wenn auch das Resultat der Serologie zur Anamnese und Klinik passt, beweist diese Serologie nicht, dass die aktuelle Klinik auf eine akute Borrelieninfektion zurückzuführen ist. Selbst ein positiver IgM-Antikörper-Nachweis im Serum würde dies nicht beweisen, da IgM-Antikörper über eine längere Zeit positiv bleiben können, sowohl im Blut wie auch im Liquor. Der in unserem Fall fehlende IgM-AK-Nachweis schliesst aber eine akute Borrelieninfektion auch nicht aus. Generell sind die Antikörper bei der Borreliose – weder im Serum noch im Liquor – nicht als Aktivitäts- (Akuitäts-)parameter zu verwerten. Hingegen ist die Liquorpleozytose ein Zeichen einer akuten/anhaltenden Entzündung, wie ja auch die subakute und persistierende Klinik.
Um nun zu beweisen, dass die aktuell vorliegende ­Liquor-Entzündung durch die Borrelien bedingt ist, müssen Sie nachweisen, dass im Liquorkompartiment spezifische, gegen Borrelien-Antigene gerichtet Antikörper gebildet werden. Deshalb wird ein Liquor-Serum-Index bestimmt.
In Abbildung 4 sehen Sie den Borrelia burgdorferi-­Liquor-Serum-Antikörper-Index (IDEIA Lyme Neuroborreliosis, Oxoid, Hampshire, UK). Dieser hoch po­sitive IgG-Liquor-Serum-Index (52,54) beweist eine Antikörperproduktion im Liquorkompartiment, d.h. eine Abwehrreaktion auf Borrelien im Liquor, und damit den Eintritt der Borrelien in den Liquor. In diesem Fall war auch der IgM-Liquor-Serum-Index po­sitiv (3,42).
Somit sind Sie am Ende Ihrer Beweiskette: subakute Klinik, die für Neuroborreliose typisch ist (Radiku­litis, sogenanntes Bannwarth-Syndrom), bei epidemiologisch und geographisch grosser Wahrscheinlichkeit einer Zeckenexposition; Nachweis einer akuten Liquorentzündung und Nachweis der spezifischen Liquorabwehrreaktion gegen Borrelien als Ursache der Entzündung. Gemäss den Europäischen Klinikdefinitionen [2] und den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [1] ist die Diagnose der Neuroborreliose gesichert (Tab. 1).
Tabelle 1: Neuroborreliose: Diagnose-Wahrscheinlichkeit (gemäss Leitlinien ­«Neuroborreliose» der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [1]).
Mögliche ­NeuroborrelioseTypisches klinisches Bild (Hirnnervenausfälle, Meninigitis/Meningoradikulitis, fokale neurologische Ausfälle)
Borrelienspezifische IgG- und/oder IgM-Antikörper im Serum
Liquorbefund nicht vorliegend oder Liquorpunktion nicht durchgeführt
Ausschluss anderer Ursachen für die vorliegende Symptomatik
Wahrscheinliche ­Neuroborreliose
Zusätzlich
Positiver Liquorbefund mit lymphozytärer Pleozytose, Blut/Liquor-Schrankenstörung und/oder intrathekaler Immunglobulinsynthese.
Ausschluss anderer Ursachen für die vorliegende Symptomatik
Mögliche ­Neuroborreliose
Zusätzlich
Intrathekale Synthese borrelienspezifischer Antikörper ­(positiver IgG- und/oder IgM-Antikörper-Index) im Liquor
Oder positive PCR / kultureller Nachweis im Liquor
Ausschluss anderer Ursachen für die vorliegende Symptomatik
Wie würden Sie den Patienten behandeln?

Therapie und Verlauf

Schon nach Erhalt des Resultats einer Liquorpleozytose wurde eine antibiotische Therapie eingeleitet: Doxycyclin, 2 × 100 mg/Tag für 3 Wochen. Nach 3 Tagen erhielt ich ein SMS: «Habe letzte Nacht seit Langen ­wieder 10 Stunden am Stück geschlafen – ohne jedes Schmerzmittel. Vielen Dank!». Die «Beule am Bauch» war nach einem halben Jahr «noch da».

Diskussion

Die Diagnose einer behandlungsbedürftigen Borre­liose ist seit Jahrzehnten eine Herausforderung [3]. ­Folgende Argumente sollen dies illustrieren. Eine Vielzahl von Symptomen werden oft fälschlicherweise ­einer Borreliose zugeordnet; viele Jogger, OL-Läufer, Waldbesucher usw. hatten Kontakt mit Borrelien, weisen entsprechende Antikörper im Serum auf, sind aber ­völlig asymptomatisch; es werden auf dem Markt ­diverse serologische Tests angeboten, und die Interpretation der Resultate muss gemeinsam durch Kliniker und Labormediziner (Serologie-Spezialist) erfolgen. Bei der Konsultation von Literaturangaben ist es wichtig, zwischen Angaben aus Europa und Nordamerika zu differenzieren. Federführend bei der Diagnosestellung ist das klinische Bild. Die Formulierung von klinischen Falldefinitionen soll u.a. helfen, die Symptome, welche einer Borreliose zugeordnet werden (sollen), einzuengen [2]. Die Bestimmung der Serologie ist nach Erfüllung ­einer Falldefinition sinnvoll, weil sie auch eine klare Fragestellung ermöglicht. Die Diagnose Neuroborreliose wird gestellt durch die Trias: typische klinische Phänomenologie, Liquorpleozytose und Nachweis der spe­zifischen intrathekalen Antikörpersynthese (positiver Liquor-Serum-Index) [4]. Zur Zuverlässigkeit der Dia­gnose Neuroborreliose ist die klinische Präsentation unerlässlich: passt das klinische Bild zu der bekannten klinischen Präsentation einer Neuroborreliose, so ist der positiv prädiktive Wert der Serologie hoch. Andernfalls ist die Serologie auch im positiven Fall unbrauchbar. Aus einer grossen prospektiven Studie aus Schweden an 1471 Patienten mit einer symptomatischen Borre­liose wissen wir, dass 16% (235) eine Neuroborreliose hatten, 77% ein Erythema chronicum migrans, 7% eine Arthritis, 6% multiple Manifestationen [5]. Von den 235 Patienten mit Neuroborreliose hatten 116 (49%) eine kraniale Neuritis, überwiegend eine Fazialisparese; 93 (40%) eine Meningoradikulitis; und nur 6 (2,6%) eine Enzephalitis. Schmerzen bei einer VII-Parese müssen an eine Borreliose denken lassen – im Gegensatz zur Bell-Parese. Ganz besonders typisch sind die Schmerzen bei der Meningoradikulitis, wie in diesem Fall: subakuter Beginn, oft über Nacht; maximal am Rumpf ­(Rücken), mit Ausstrahlung in die Extremitäten, und daselbst rumpfnahe; heftig, mit nächtlicher Exazerbation und Nachtruhestörung (wiederholtes Aufstehen); brennende Schmerzqualität mit Dysästhesien und Hyperästhesien [6].
Die Liquorpleozytose belegt eine akute bzw. anhaltende Entzündung. Da Blut- und Liquorkulturen auf Borrelien kaum je ergiebig sind, und auch die PCR im Liquor wenig sensitiv ist, ist die Serologie zur Diagnosesicherung einer Neuroborreliose entscheidend – aber mit einigen Fallstricken verbunden: (1.) Bei der typischen klinischen Manifestationen eines «Erythema migrans» ist keine Serologie notwendig, weil sich die Klinik vor der Serokonversion präsentiert. Entsprechend ist die Serologie in diesen Fällen bei der klinischen Präsentation häufig negativ. IgM-Antikörper lassen sich nach Borrelienkontakt (Zeckenstich mit Erregerübertragung) typischerweise erst nach zwei bis fünf Wochen, IgG-Antikörper nach vier bis acht Wochen nachweisen; (2.) Die Immunantwort (Antikörper gegen Borrelienantigene und Titerhöhe) kann individuell sehr variabel sein; (3.) Positive Antikörper (IgG und IgM) bleiben, auch nach erfolgreicher Therapie, jahrelang positiv. Diese Beobachtung trifft auch für intrathekale Anti­körper und den Liquor-Serum-Index zu. Deshalb sind Antiköper-Titer (IgG wie IgM) sowohl im Serum wie im Liquor nicht geeignet als Aktivitätsparameter und auch nicht für das Monitoring des Therapieeffekts. Verlaufskontrollen der Serologien sind unnütz; (4.) Isolierte IgM im Serum sind oft falsch positive Resultate; (5.) Kreuz­reaktionen werden bei Antikörpern gegen andere Spirochätosen, zum Beispiel Lues, beobachtet.
Wieso waren die IgM-Antikörper bei unserem Fall im Serum negativ, obwohl die Symptomatik ca. 3 Wochen andauerte, und wir von einer akuten Neuroborreliose sprechen? Grundsätzlich ist die Sensitivität von IgM-Antikörpern tiefer als jene von IgG. Die Sensitivität wird zusätzlich von der klinischen Manifestation und dem verwendeten Test beeinflusst. So wird beispielsweise vom Hersteller beim in unserem Fall verwendenden Suchtest (recomWell Borrelia, Mikrogen Dia­gnostik, Neurid, Deutschland) eine Sensitivität von 99% für IgG und 64% für IgM bei der Neuroborreliose angegeben. Somit schliesst in unserem Fall der fehlende IgM-Antikörper-Nachweis eine akute Neuroborrelieninfektion auch nicht aus. Spezifische intrathekale IgG-Antikörper können am Anfang der Krankheit fehlen, sollten jedoch bei allen Patienten mit einer Neuroborreliose 6 bis 8 Wochen nach Symptombeginn nachweisbar sein.
Die spezifische intrathekale Antikörpersynthese wird durch einen Liquor-Serum-Index bestimmt. Dies bedingt, dass die Antikörper im Parallelansatz im Liquor und Serum mit entsprechender Konzentrationsanpassung (bzw. Verdünnung) untersucht werden, damit der Index berechnet werden kann.
Wieso war in unserem Fall der Liquor-Serum-Index für IgM-Antikörper positiv, wenn IgM im Serum negativ waren, und – im Gegensatz zum Liquor-Serum-Index – beim Suchtest im Serum keine Verdünnung stattfand? Für den Suchtest und Liquor-Serum-Index wurden unterschiedliche Tests angewendet. Diese setzen zum Teil unterschiedliche immundominante Antigene ein. Für diese Publikation – und zur Unterstützung unserer Hypothese bei diesem Fall – haben wir ausnahmsweise auch einen Western-Blot für IgM veranlasst, obwohl die Serologie negativ war. Es fand sich nur eine Bande für das unspezifische Borrelien-Protein-Antigen p41. Für ein positives Resultat müssen mehrere, u.a. auch spe­zifische Banden positiv sein. Doch just dieses p41-Antigen wurde auch im damals eingesetzten Test für den ­Liquor-Serum-Index verwendet (IDEIA Lyme Neuro­borreliosis, Oxoid, Hampshire, UK), was wiederum den ­positiven IgM-Index erklären kann.
Die Borreliose und auch die Neuroborreliose sind einfach und sehr effizient zu behandeln. In der Regel gehen die Symptome innert weniger Tage zurück. Bei rechtzeitiger Behandlung ist die Prognose ausgezeichnet und es sind keine persistierenden Symptome zu ­erwarten. Eine «chronische» Neuroborreliose entsteht bei monatelang verpasster Diagnose und somit ausbleibender Therapie. Auch dann ist die Therapieantwort noch gut – aber bereits etablierte Schäden können dann persistieren (Residualsymptome). Dies veranlasste Alan Steere schon 1996 zur Aussage: «There is a wid­e­spread misconception that successful treatment of neuroborreliosis is difficult to achieve and that chronic symptoms are common. In fact, the most common reason for failure of treatment is misdiagnosis!»
Es gibt verschiedene Therapiemöglichkeiten und Empfehlungen, die alle nicht auf kontrollierten (oder gar vergleichenden) Studien beruhen und wahrscheinlich alle gleich effizient sind: Doxycyclin 2 × 100 mg oral, Amoxicillin 3 × 500 mg oral, Ceftriaxon 1 × 2 g i.v., Cefotaxim 3 × 2 g i.v. [4].Für eine isolierte Hirnnervenparese, eine Meningitis oder Meningoradikulitis werden meistens orales Doxycyclin oder Amoxicillin empfohlen. Beim (sehr seltenen) Parenchymbefall (Enzephalitis, Myelitis, Vaskulitis) wird meistens eine intravenöse Therapie empfohlen, obschon es Hinweise gibt, dass orales Doxycyclin gleich effizient ist [7, 8].
Als Therapiedauer wird für das Bannwarth-Syndrom seit 2010 zwei Wochen empfohlen [4]. Retrospektiv stellen wir fest, dass wir den Patienten in unserem Fall eine Woche zu lange therapiert haben. Es gibt keinerlei Hinweise, dass längere oder wiederholte Antibiotikatherapien irgendwelche Vorteile bringen, hingegen sind die Nebenwirkungsrisiken hoch. Persistierende Beschwerden nach adäquater Therapie einer gesicherten Neuroborreliose werden als «Post-treatment Lyme Disease Syndrome» (PTLDS) zusammengefasst. Es gibt hier keinerlei Hinweise auf eine persistierende Infektion [9].

Das Wichtigste für die Praxis

• Bei Erwachsenen präsentiert sich die Neuroborreliose hauptsächlich als Meningoradikulitis, wobei der nächtliche, radikuläre Ruheschmerz sehr typisch ist.
• Bei Kindern ist eine Fazialisparese, mit oder ohne Begleitmeningitis, die weitaus häufigste Phänomenologie.
• Enzephalitis, Myelitis oder eine zerebrale Vaskulitis (sogenannte parenchymatöse Manifestationen) sind seltene Manifestationen (<3%).
• Die Neuroborreliose ist einfach und sehr effizient antibiotisch zu behandeln. Ausser bei den parenchymatösen Formen sind orale Antibiotika erste Wahl. Bei rechtzeitiger Behandlung ist die Prognose ausgezeichnet.
• Chronische oder persistierende Infektionen sind eine Rarität.
Wir danken Frau Dr. phil. nat. Désirée Mathys, FAMH Mikrobiologie, vom Institut für Infektionskrankheiten der Universität Bern, für die Durchführung serologischer Tests, Durchführung des Liquorblots und ihre Fachexpertise in der Interpretation von serologischen Befunden. Abdomen-CT und WS-MRI verdanken wir dem Röntgeninstitut RODIAG Diagnostic Centers, Burgdorf.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. em. Dr. med.
Mathias Sturzenegger
Diesbachstrasse 3
CH-3012 Bern
mhst[at]bluewin.ch
1 Rauer S, Kastenbauer S. Neuroborreliose. Deutsche Gesellschaft für Neurologie [Stand 21. März 2018, online seit 13. April 2018]. Available from: https://www.dgn.org/leitlinien/3567-ll-030-071-2018-neuroborreliose
2 Stanek G, Fingerle V, Hunfeld KP, Jaulhac B, Kaiser R, Krause A, et al. Lyme borreliosis: Clinical case definitions for diagnosis and management in Europe. Clin Microbiol Infect. 2011;17:69–79.
3 Shapiro ED. Lyme Disease. N Engl J Med. 2014;370:1724–31.
4 Mygland A, Ljøstad U, Fingerle V, Rupprecht T, Schmutzhard E, Steiner I. EFNS guidelines on the diagnosis and management of European Lyme neuroborreliosis. Eur J Neurol. 2010;17:8–16.
5 Berglund J, Eitrem R, Ornstein K, Lindberg A, Ringér A, Elmrud H, et al. An epidemiologic study of Lyme disease in southern Sweden. N Engl J Med. 1995;333:1319–27.
6 Hansen K. Lebech AM. The clinical and epidemiological profile of Lyme neuroborreliosis in Denmark 1985–1990. A prospective study of 187 patients with Borrelia burgdorferi specific intrathecal antibody production. BRAIN. 1992;115:399–423.
7 Ljøstad U, Skogvoll E, Eikeland R, Midgard R, Skarpaas T, Berg A, et al. Oral doxycycline versus intravenous ceftriaxone for European Lyme neuroborreliosis: a multicentre, non-inferiority, double-blind, randomised trial. Lancet Neurol. 2008;7:690–5.
8 Bremell D, Dotevall L. Oral doxycycline for Lyme neuroborreliosis with symptoms of encephalitis, myelitis, vasculitis or intracranial hypertension. Eur J Neurol. 2014,21:1162–7.
9 Nemeth J, Bernasconi E, Heininger U, Abbas M, Nadal D, Strahm C, et al. for the Swiss Society for Infectious Diseases and the Swiss Society for Neurology. Update of the Swiss guidelines on post-treatment Lyme disease syndrome. Swiss Med Wkly. 2016;146:w14353.