Eine seltene Ursache für die häufige tiefe Beinvenenthrombose bei jungen Patienten
Agenesie der Vena cava inferior

Eine seltene Ursache für die häufige tiefe Beinvenenthrombose bei jungen Patienten

Der besondere Fall
Ausgabe
2019/4748
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08301
Swiss Med Forum. 2019;19(4748):786-788

Affiliations
Spital Bülach: a Notfallabteilung, Klinik für Chirurgie, b Institut für Radiologie

Publiziert am 20.11.2019

Eine 28-jährige Patientin stellt sich in der Notfallpraxis vor mit Rückenschmerzen tieflumbal und sacral rechts sowie in der rechten Leiste. Die Anamnese ergibt weder eine vermehrte körperliche Belastung noch ein Trauma.

Hintergrund

Die Agenesie der Vena cava inferior (VCI) ist eine sehr seltene kongenitale Anomalie mit einer geschätzten Prävalenz von 0,0005–1% in der Gesamtbevölkerung, die sich durch ein klinisch häufiges Krankheitsbild, die tiefe Beinvenenthrombose, präsentiert [1–2]. Als Ursache wird neben einer intrauterinen Thrombose in erster Linie eine embryonale Dysgenesie angenommen [3]. Die Charakteristika der Erkrankung sind sehr homogen und umfassen eine proximale Lokalisation der tiefen Beinvenenthrombose, häufig nach körperlicher Aktivität hauptsächlich bei jungen Erwachsenen vor der vierten Lebensdekade.
Die Diagnosesicherung einer Agenesie der VCI kann durch Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) erfolgen. Die Detektion des Kollateralkreislaufs kann auch mithilfe der Angiographie durchgeführt werden.
Im Rahmen unseres interessanten Falles möchten wir auf diese seltene Differentialdiagnose bei jungen Pa­tienten aufmerksam machen. Sie ist durch ihr häufiges Leitsymptom von klinischer Relevanz für diese Patientengruppe.

Fallbericht

Anamnese

Eine 28-jährige Patientin stellt sich im März 2017 in der Notfallpraxis vor mit seit einem Tag bestehenden Rückenschmerzen tieflumbal und sacral rechts sowie in der rechten Leiste. Es ist die erste Episode derartiger Schmerzen. Die Anamnese ergibt weder eine vermehrte körperliche Belastung oder ein Trauma, noch Fieber, Gewichtsverlust oder Nachtschweiss. Die Pa­tientin verneint Thoraxschmerzen und Dyspnoe bei normaler Belastungstoleranz und Mobilität. Sie ist ­ansonsten gesund, wurde noch nie operiert und war noch nie hospitalisert. Als einzige Medikation besteht eine hormonelle Kontrazeption mit NuvaRing®.
Die Familienanamnese ist unauffällig für Karzinom­erkrankungen, Gerinnungsstörungen, Aborte, Auto­immunerkrankungen oder kardiovaskuläre Erkrankungen. Die körperliche Untersuchung zeigt eine grenzwertige Hypotonie von 100/50mmHg, rechts und 105/50 mmHg links bei normaler Herzfrequenz 70/min, subfebrile Temperatur von 37,5°C, normale Sauerstoffsättigung SO2 99% unter Raumluft und Eupnoe (AF 16/min). Herztöne und das Atemgeräusch sind normal. Das Abdomen ist weich und indolent, keine Leistenhernien palpabel, keine Klopfdolenz über der Wirbelsäule bei leichter Druckdolenz über dem Ileosaccralgelenk. Normale Kraft und Sensibilität der unteren und oberen Extremität (M5) sowie symmetrische Muskeleigenreflexe. Die Fusspulse Arteria (A) dorsalis pedis sowie A. tibialis posterior waren symmetrisch gut palpabel.
Optisch fällt eine Umfangsdifferenz der Beine auf, die sich in der Ausmessung mit einer Differenz von jeweils 3 cm im Ober- und Unterschenkel objektivieren lässt.

Befunde

Labor

In der laborchemischen Untersuchung bildet sich im Hämatogramm eine diskrete Neurtrophilie (82%) ab sowie ein erhöhtes C-re­ak­tives Pro­te­in (CRP) von 60 mg/l. Kreatinin und Elektrolyte sind normal. Der Gerinnungsstatus zeigt ein deutlich erhöhtes D-Dimer von >10 000 ng/ml, sowie eine erhöhte aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) von 70 sec bei normalem INR (1,0).

Duplex

Bei deutlicher Umfangsdifferenz beider Beine und positivem D-Dimer wird eine Ultraschalluntersuchung zum Ausschluss einer tiefen Beinvenenthrombose durchgeführt. Die Duplexsonographie kann weder in der Vena ilica beidseits, noch in der Vena cava inferior einen Fluss nachweisen. Es erfolgt daher ein Angio-CT zur Vervollständigung der Diagnostik. Eine therapeutische Heparinisierung wird zu diesem Zeitpunkt begonnen.

Computertomographie

Die Computertomographie ergibt eine Agnesie der Vena cava inferior mit ausgedehnten Umgehungskreisläufen über die Lumbalgefässe (Abb. 1). Eine Thrombosierung der iliakalen Gefässe kann aufgrund der fehlenden Kontrastierung nicht sicher beurteilt werden.
Abbildung 1: Computertomographie mit Kontrastmittel; A) Darstellung der dilatierten Vena azygos rechts und Vena Hemiazygos links auf Höhe der Leber (blaue Pfeile); B) ­Markierung der dilatierten aszendierenden Lumbalvenen.

Invasive Phlebographie

Hier bestätigt sich die Agenesie der Vena cava inferior und zusätzlich die Thrombosierung der Venae iliacae communes (Abb. 2).
Abbildung 2: Phlebographie der rechten Beckenachse mit Darstellung der dilatierten rechten aszendierenden Lumbalvene; A): Vena iliaca communis dextra, B) Vena lumbalis ­ascendens dextra, C) Vena iliaca communis sinistra.

Therapie

In Anbetracht der vorliegenden Befunde leiten wir eine therapeutische Antikoagulation mit hochmolekularem Heparin ein. Aufgrund eines fehlenden Thera­pie­erfolges mit Schmerzprogredienz und Temperaturanstieg auf 38,1° C erfolgt vier Tage nach Diagnosestellung eine invasive Phlebographie mit Lyse und Thrombektomie im Kantosspital Winterthur.
Dort bestätigt die interventionelle Phlebographie die Agenesie der VCI mit ausgedehnten Kollateralen (Abb. 2) sowie die vollständige Thrombosierung beider Iliacalvenen. Daher wird eine mechanische Thromb­ektomie und anschliessend eine fraktionierte lokale intravenöse Lyse mit insgesamt 400 000 E Urokinase über zwei Lysekatheter in den Venae iliacae communes beidseits vorgenommen.
Die anschliessende Phlebographie zeigt eine komplette Regredienz aller Thromben mit deutlicher Flussbeschleunigung der iliacalen- und ileolumbalen ­Venen, als Zeichen der Rekanalisierung.

Verlauf

Am Tag nach Lyse und Thrombektomie erfolgt die Entlassung in die ambulante Weiterbetreuung unter therapeutischer Antikoagulation mit 30 mg Rivaroxaban für drei Wochen mit anschliessend standardmässiger Reduktion auf 20 mg/d.
Die ersten nicht-invasiven angiologischen Nachkon­trollen drei Wochen später, sowie nach 3, 6 und 12 Monaten zeigen duplexsonographisch ein komplett offenes Beckenbeinvenensystem ohne Hinweis auf eine Venenklappendestruktion beidseits.
Die therapeutische Antikoagulation mit 20 mg Rivaroxaban wird über ein Jahr durchgeführt und anschliessend auf eine prophylaktische Dosis reduziert. Eine medikamentöse Thromboseprophylaxe ist lebenslang geplant [3].

Diskussion

Interessanterweise wurde die geringe Anzahl der publizierten Fälle jeweils aufgrund einer tiefen Beinvenenthrombose diagnostiziert. Dies ergibt eine nicht irre­levante Prävalenz von 5% bei Patienten unter dem dreissigsten Lebensjahr, was somit eine deutliche epidemiologische Bedeutung darstellt [1–3, 5]. Fehlen zudem die klassischen Risikofaktoren wie Rauchen und Einnahme von Kontrazeptiva und liegt zudem eine negative Anamnese bezüglich vorausgehender Operationen vor, kann dies einen ersten Hinweis auf die zutreffende Diagnose liefern.
Die Diagnosestellung mit Hilfe des klassischen Ultraschalls kann unter Umständen falsch negativ ausfallen, da die Agenesie der IVC nicht durch Kompression im B-Mode detektiert werden kann. Somit ist die Computertomographie der Goldstandard für die Diagnosesicherung [5] (Tab. 1).
Tabelle 1: Bildgeberische Kriterien zur Diagnose einer Agenesie der Vena cava inferior; Fall-spezifischer Vergleich Computertomographie versus Angiographie.
DiagnosekriterumComputertomographiePhlebographie
Abwesenheit eines VCI lumensxx
Verbindung zum Azygos-System x
Venöse Kollateralisierung:  
 – Paravertebralxx
 – Aszendierende lumbale Venenxx
 – Azygos-hemiazygos-Systemxx
 – Retroperitoneal
 – Abdominale Wand
 – Portales Systemxx
 – Hemorrhoidaler Venenplexus
Die Behandlung der Patienten gestaltet sich im Vergleich zur konventionellen tiefen Ven­en­thrombose kompliziert. Die kontinuierliche Einnahme von Vitamin-K-Antagonisten respektive neueren Präparaten sollte erwogen werden unter Beachtung der Risiko­faktoren [4]. Trotz der primär konservativen Therapie sollte die Notwendigkeit einer Intervention im Sinne einer Thrombektomie oder lokalen Lyse bei Persistenz der Symptome in Betracht gezogen werden [5].

Das Wichtigste für die Praxis

• Korrekte Identifikation der Patientengruppe und Ausschluss der klassischen Risikofaktoren für tiefe Ven­en­thrombosen sind für die richtige 
Diagnose wesentlich.
• Anamnese: keine vorausgegangenen Operationen, keine Immobilisation oder sonstige Risikofaktoren.
• An Therapie denken: kein vollständiges Sistieren der Antikoagulation nach sechs Monaten, Kompressionsstrümpfe.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Nima Hosseini-Akhavan,
dipl. Ärztin
Spital Bülach
Spitalstrasse 24
CH-8180 Bülach
nima.hosseini[at]spitalbuelach.ch
1 Lambert M, Marboeuf P, Midulla M, Trillot N, Beregi JP, Mounier-Vehier C et al. Inferior vena cava agenesis and deep vein thrombosis: 10 patients and review of the literature. Vasc Med. 2010;15(6):451.
2 Obernosterer A, Aschauer M, Schnedl W, Lipp RW. Anomalies of the inferior vena cava in patients with iliac venous thrombosis. Ann Intern Med. 2002;136(1):37.
3 Hamoud S, Nitecky S, Engel A, Goldsher D, Hayek T. Hypoplasia of the inferior vena cava with azygous continuation presenting as recurrent leg deep vein thrombosis. Am J Med Sci. 2000;319(6):414–6.
4 Weitz JI, Lensing AWA, Prins MH, Bauersachs R, Beyer-Westendorf J, Bounameaux H et al; EINSTEIN CHOICE Investigators. Rivaroxaban or Aspirin for Extended Treatment of Venous Thromboembolism. N Engl J Med. 2017;376(13):1211–22. ­
5 Ruggeri M, Tosetto A, Castaman G, Rodeghiero F. Congenital absence of the inferior vena cava: a rare risk factor for idiopathic deep-vein thrombosis. Lancet. 2001;357(9254):441.