Tonsillopharyngitis durch Streptokokken der Gruppe A
Wann ist eine antibiotische Therapie angezeigt?

Tonsillopharyngitis durch Streptokokken der Gruppe A

Editorial
Ausgabe
2019/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08337
Swiss Med Forum. 2019;19(2930):467-468

Affiliations
Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene, Universitäts-Kinderspital Zürich
* Mitglieder der SSI Guideline Group «Pharyngitis»: Werner Albrich, St. Gallen, Christoph Berger, Zürich, Noémie Boillat Blanco, Lausanne, Benedikt Huttner, Genf

Publiziert am 17.07.2019

Das Vorgehen bei Verdacht auf eine Streptokokken-Angina lernt jede Medizinstudentin und jeder Medizinstudent. Es ist ein Paradebeispiel für eine der ersten Guidelines und wird oft zitiert für den zielgerichteten Einsatz von Antibiotika. Dementsprechend bekommt der Teenager mit akuten Halsschmerzen und Fieber, Tonsillitis mit Stippchen, Erdbeerzunge, geschwollenen angulären Lymphknoten – und möglicherweise Scharlachexanthem –, wenn Rhinitis und Husten fehlen, einen Rachenabstrich und nur bei Nachweis von beta-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A Penicillin für zehn Tage.
Dieses Vorgehen wird seit etwa 50 Jahren bis heute in Leitlinien empfohlen und an den meisten Orten dieser Welt praktiziert, aber nicht mehr unisono [1, 4, weitere in 5]. Was ist geschehen respektive was steht dahinter?
Die Ziele der Behandlung sind die Verhinderung von eitrigen und nicht eitrigen Komplikationen sowie die Ver­kürzung der Symptomdauer. Die Komplikationen sind heute bei uns sehr selten und müssen als Behandlungsziele grundsätzlich hinterfragt werden. Es gibt keine Evidenz, dass die Antibiotikatherapie der Tonsillopharyngitis das Auftreten einer Post-Streptokokken-Glomerulonephritis verhindern kann. Das rheumatische Fieber ist bei uns so selten geworden, dass die «number needed to treat» (NNT), um eines zu verhindern, kaum berechnet werden kann. Sie liegt ver­mutlich aber bei mehr als 3000–4000 [6]. Auch für die eitrigen Komplikationen wie den Peritonsillarabszess ist die NNT so hoch, dass sie eine Primärprävention mit Antibiotika infrage stellt. Zudem fehlen bei bis zu zwei Drittel der Patienten mit rheumatischem Fieber oder eitrigen Komplikationen vorgängige Zeichen einer Tonsillopharyngitis [6, 7]. Als mögliche Indikation bleibt, dass die antimikrobielle Therapie der schweren Tonsillopharyngitis durch beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A die Symptomdauer ein wenig, das heisst um 1–2 Tage verkürzen kann [4, 8].
So kommt die Europäische Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektionskrankheiten (ESCMID) in ihrer Guideline [4] zur Empfehlung, eine antimikro­bielle Therapie mit Penicillin erst bei schwerer Tonsillopharyngitis zur Verkürzung der Symptomdauer in Betracht zu ziehen und gegenüber unerwünschten Wirkungen und rein analgetischer-antiphlogistischer Therapie abzuwägen. Hofmann, Berger et al. haben in einer Übersichtsarbeit die Evidenz und Argumentation zum Umgang mit akuten Halsschmerzen und Streptokokken-Angina für die Praxis zusammengestellt und diskutieren einen daraus abgeleiteten sogenannten «Paradigmenwechsel» [9] in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum.
Die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie hat mit Unterstützung des Bundesamtes für Gesundheit im Laufe der letzten zwei Jahre, basierend auf inter­nationalen Guidelines, angepasst an die Schweiz, ak­tuelle kurze Antibiotika-«Guideline Digests» für die wichtigsten praxisrelevanten Themen – darunter auch zur Pharyngitis – zusammengestellt, die unter www.ssi.guidelines.ch abrufbar sind [10]. Diese infektiologischen Guidelines werden kontinuierlich aufgrund von Daten, Erkenntnissen und Feedbacks angepasst. Die aktuelle SSI-Pharyngitis-Guideline (https://ssi.guidelines.ch/guideline/2408) basiert jetzt hauptsächlich auf der ESCMID-Guideline [4]. Sie empfiehlt zur Verkürzung der Symptomdauer einer Tonsillopharyngitis mit Streptokokken der Gruppe A eine antimikrobielle Therapie mit Penicillin oder Amoxicillin über sechs Tage, eine auf eine Metaanalyse abgestützte Therapie­dauer [11]. Eine symptomatische Behandlung ohne Antibiotika ist ebenso gerechtfertigt, da die Verhinderung der eitrigen und nicht eitrigen Komplika­tionen wie ausgeführt keiner unbedingten Indikation für eine antimikro­bielle Therapie entspricht. Konkret heisst das, falls eine Antibiotikatherapie in Betracht gezogen wird, bei einem Centor-Score >3 und Nachweis von Streptokokken der Gruppe A Amoxicillin oder Penicillin zu verschreiben. Bei symptomatischer Therapie ohne Antibiotika erübrigt sich der Abstrich und es wird eine Verlaufskontrolle bei fehlender Besserung nach drei Tagen empfohlen.
Die SSI-Guideline wie auch Hofmann, Berger et al. sind sich einig, dass (1.) Centor- oder McIsaacs-Scores >3 sinnvoll sind, um behandlungsbedürftige Streptokokken-Infektionen zu erkennen und die Anzahl falsch positiver Tests bei Streptokokken-Trägern und viraler Infektion zu reduzieren, (2.) nur nach Abstrich und Nachweis von Streptokokken der Gruppe A behandelt werden soll und (3.) strikte nur gezielt mit Penicillin beziehungsweise Amoxicillin für sechs Tage, bei Dia­gnosestellung oder ein paar Tage später. Eine breitere antimikrobielle Therapie ist nie indiziert, allenfalls ist die Diagnose zu überprüfen.
Dieses Vorgehen mit oder ohne Antibiotikatherapie entspricht der aktuellen Epidemiologie, Evidenz und Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Zwei Punkte sind zu beachten. Erstens erfordert eine Änderung der Behandlung eine vermehrte Aufmerksamkeit für Komplikationen, da insbesondere auch in Ländern, die bereits solche Empfehlungen haben, viele Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten mit Antibiotika behandeln [12, 13]. Zweitens ist es im Sinn des rationalen Einsatzes von Antibiotika wichtig, die Patientinnen und Patienten zu informieren, warum (keine) Antibiotika gegeben werden und was diese (nicht) bewirken können. Gute Informationen für Patienten dazu sind beispielsweise unter www.antibiotika-richtig-einsetzen.ch/de erhältlich.
Die berechtigte Frage nach dem Ausschluss aus der Schule oder anderen Gemeinschaftseinrichtungen bei Pharyngitis durch Gruppe-A-Streptokokken sollte mit den Kantonsärzten aufgenommen werden. Wie immer sollte auch hier die Anpassung von Algorithmen in der Zusammenschau mit einer Surveillance der Infektionen und Komplikationen erfolgen.
Zusammengefasst zeigt die Übersichtsarbeit von Hofmann, Berger et al., dass wir aufgrund der ESCMID-Guideline im Einklang mit den SSI-Guidelines das Vorgehen bei Halsschmerzen und Tonsillopharyngitis durch Streptokokken der Gruppe A der Zeit gemäss ­anpassen können, indem wir uns weiterhin an ein ­klares Vorgehen halten, dieses erklären und so um­setzen.
Der Autor ist Mitglied des Guideline-Komitees der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie.
Prof. Dr. med.
Christoph Berger
Leiter Abteilung Infektio­logie und Spitalhygiene
Universitäts-Kinderspital Zürich
Steinwiesstrasse 75
CH-8032 Zürich
christoph.berger[at]kispi.uzh.ch
 1 Shulman ST, Bisno AL, Clegg HW, Gerber MA, Kaplan EL, Lee G, et al. Infectious Diseases Society of America. Clinical practice guideline for the diagnosis and management of group A streptococcal pharyngitis: 2012 update by the Infectious Diseases Society of America. Clin Infect Dis. 2012;55:e86–102.
 2 National Institute for Health and Clinical Excellence. Sore throat (acute): antimicrobial prescribing [Internet]. 2018 [cited 2019 June 6]. Available from: https://www.nice.org.uk/guidance/ng84
 3 Scottish Intercollegiate Guidelines Network. Management of sore throat and indication for tonsillectomy [Internet]. 2010 [cited 2019 June 6]. Available from: sign.ac.uk/sign-117-management-of-sore-throat-and-indications-for-tonsillectomy.html
 4 ESCMID Sore Throat Guideline Group, Pelucchi C, Grigoryan L, Galeone C, et al. Guideline for the management of acute sore throat. Clin Microbiol Infect. 2012;18 Suppl 1:1–28.
 5 Matthys J, De Meyere M, van Driel ML, De Sutter A. Differences among international pharyngitis guidelines: not just academic. Ann Fam Med. 2007;5:436–43.
 6 Cooper RJ, Hoffman JR, Bartlett. Principles of appropriate antibiotic use for acute pharyngitis in adults: background American Academy of Family Physicians; American College of Physicians-American Society of Internal Medicine; Centers for Disease Control. Ann Intern Med. 2001;134:509–17.
 7 Carapetis JR, McDonald M, Wilson NJ. Acute rheumatic fever. Lancet. 2005;366:155–68.
 8 van Driel ML, De Sutter AI, Habraken H, Thorning S, Christiaens T. Different antibiotic treatments for group A streptococcal pharyngitis. Cochrane Acute Respiratory Infections Group, editor. Cochrane Database Syst Rev. 2016; 9(Suppl A):CD004406.
 9 Hofmann Y, Berger H, Wingeier B, Huber B, Boggian K, Hug-Batschelet H, et al. Behandlung der Streptokokken-Angina. Swiss Med Forum. 2019;19(29–30):481–8.
10 Vernazza P, Tschudin Sutter S, Kronenberg A, Hauser C, Huttner B, Manuel O, et al. Entwicklung infektiologischer Guidelines – ein kontinuierlicher Prozess. Swiss Med Forum. 2018;18:963–5.
11 Altamimi S, Khalil A, Khalaiwi KA, Milner RA, Pusic MV, Al Othman MA. Short-term late-generation antibiotics versus longer term penicillin for acute streptococcal pharyngitis in children. Cochrane Database Syst Rev. 2012;8:CD004872.
12 Dekker AR, Verheij TJ, van der Velden AW. Inappropriate antibiotic prescription for respiratory tract indications: most prominent in adult patients. Fam Pract. 2015;4:401–7.
13 Dolk FCK, Pouwels KB, Smith DRM, Robotham JV, Smieszek T. Antibiotics in primary care in England: which antibiotics are prescribed and for which conditions? J Antimicrob Chemother. 2018;73(S2):ii2–ii10.