Für eine qualitativ hochstehende Medizin?
Vergleich der Lehrformate transkultureller Kompetenzen in der Klinik an den verschiedenen ­medizinischen Fakultäten in der Schweiz im Jahr 2018

Für eine qualitativ hochstehende Medizin?

Übersichtsartikel
Ausgabe
2019/4748
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08377
Swiss Med Forum. 2019;19(4748):775-780

Affiliations
a Service de médecine interne, Hôpital de Morges; b Service de Médecine de Premier Recours et Consultation Transculturelle, Département de Médecine de Premier Recours, Hôpitaux Universitaires de Genève; c Universität Basel und Inselspital Bern, Universitätsklinik für Frauenheilkunde; d Unité d’éducation médicale, Faculté des Sciences et Médecine, Université de Fribourg; e Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich; f ­Abteilung für Konsiliar-, Liaisonpychiatrie und psychosomatische Medizin, UniversitätsSpital Zürich, und Abteilung für Psychosoziale Medizin, Universität Zürich; g Universitätsklinik für Neurologie, Universitätsspital Bern; h Médecine psychosociale, Université de Neuchâtel, et Pôle de Psychiatrie et Psychothérapie, Hôpital de Malévoz, Hôpital du Valais; i Swiss Hospitals for Equity, Bundesamt für Gesundheit (BAG), Bern; j Service de médecine interne, CHUV, et Unité de pédagogie médicale, Faculté de médecine et biologie, Université de Lausanne; k Centre universitaire de médecine générale et santé publique (Unisanté), Lausanne; l Département Vulnérabilités et médecine sociale, Centre universitaire de médecine génerale et santé publique (Unisanté), Lausanne, et Médecine des populations vulnérables, Université de Lausanne

Publiziert am 20.11.2019

Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, die unterschiedlichen Lehrformate transkultureller Kompetenzen in der Klinik an den medizinischen Fakultäten im Medizinstudium zu vergleichen.

Einleitung

Mit ihren vier Amtssprachen ist die Schweiz ein Beispiel für multikulturelle Integration. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) setzt sich schweizweit für einen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle ein [1]. Dazu müssen die Kliniker über entsprechende Kompetenzen verfügen, welche Fachleute als transkulturelle Kompetenzen (TKK) bezeichnet haben [2]. TKK in der Klinik beruhen auf «Einstellungen, Kenntnissen und Know-how, die den Fachmann im Gesundheitswesen in die Lage versetzen, für Patienten verschiedenster soziokultureller und sprachlicher Herkunft eine gute Gesundheitsversorgung zu gewährleisten» [3]. Die weitgefasste Definition des Begriffs «soziokulturell» schliesst die individuelle Diversität mit ein. Hierbei ist insbesondere an die soziale, wirtschaftliche, körperliche, reli­giöse oder geschlechtliche Identität, sexuelle Ausrichtung usw. zu denken. TKK können ebenso wie andere von Ärzten geforderte Kompetenzen erfolgreich vermittelt werden [4].

Klinisches Fallbeispiel

Ein 45-jähriger Patient, den Sie aufgrund einer arteriellen Hypertonie betreuen, wird mit einem Antihypertensivum behandelt. Trotz Behandlung bleibt sein Blutdruck oft zu hoch. Nach dem Ende einer Antibio­tikatherapie aufgrund einer akuten durch Escherichia coli verursachten Prostatitis kommt er zur Kontrolle in Ihre Konsultation.
Er besitzt die doppelte niederländische und japanische Staatsbürgerschaft, spricht etwas Französisch, Englisch sowie perfekt Niederländisch und Japanisch, befindet sich in einer Beziehung mit einem Mann und arbeitet als Judotrainer. Vor zwei Jahren ist er aus Japan in die Schweiz gezogen und besitzt einen Ausweis B.
Der Patient weist einen Bluthochdruck von 160/80 mm Hg auf. Die übrigen Ergebnisse der klinischen Unter­suchung sind unauffällig.
Welche transkulturellen Kompetenzen benötigen Sie neben den üblichen klinischen Kompetenzen, die zur Versorgung einer arteriellen Hypertonie und einer akuten Prostatitis erforderlich sind, um diesen Patienten zu betreuen?
1. Das Wissen, wie man einen Dolmetscher hinzuziehen kann.
2. Die Kenntnis von Kommunikationstechniken beim Einsatz eines Dolmetschers.
3. Die Fähigkeit, den Kenntnisstand des Patienten über das Schweizer Gesundheitssystem zu beurteilen (z.B. über Anlaufstellen zum Screening auf se­xuell übertragbare Erkrankungen [STI]).
4. Die Fähigkeit, die Gesundheitskompetenz des Pa­tienten zu beurteilen.
5. Die Kenntnis der «Teach-Back-Methode» bei geringer Gesundheitskompetenz.

Vermittlung von TKK

TKK umfassen drei Bereiche [3]: Kenntnisse, Einstellungen und Fertigkeiten (Tab. 1).
Tabelle 1: Themenbeispiele für transkulturelle Kompetenzen (TKK) entsprechend der drei Bereiche.
KenntnisseZugang zum Versorgungssystem (strukturelle Ressourcen vs. Hindernisse)
Wirtschaftliche und geopolitische Realität
Besonderheiten und Bedürfnisse von Minderheiten
Einstellungen Bikulturelle Arzt-Patienten-Beziehung
Medizinische Entscheidungsfindung: unbewusster Bias und Stereotype, Prozess der geteilten Entscheidungsfindung ­unter Berücksichtigung des kulturellen Hintergrunds
FertigkeitenPsychosoziale Anamnese
Anamnese mit Erklärungsmodell der Erkrankung
Zusammenarbeit mit einem Dolmetscher (Trialog)
Zu den Kenntnissen («knowledge») gehört das erforderliche spezifische Wissen über die Behandlung von Minderheiten und Patienten anderer Kulturkreise. Dies kann sowohl epidemiologische Aspekte, geopolitische, soziale oder kulturelle Informationen als auch das Wissen um lokale Ressourcen des sozialen und gesundheitlichen Netzwerks einschliessen. Bei der Einführung von TKK in die medizinische Ausbildung der Vorreiterländer auf diesem Gebiet (hauptsächlich: USA [5, 6]) erfolgte die Wissensvermittlung vorrangig nach Kulturkategorien und anhand epidemiologischer Daten. Dieser Ansatz hat sich jedoch als unzureichend herausgestellt, da er den unerwarteten negativen Effekt hatte, dass die Anwendung von Stereotypen und Vorurteilen zunahm. Daher gehören zu den TKK ebenfalls eine entsprechende Einstellung («attitude») bzw. verschiedene Einstellungen gegenüber dem Patienten, die von einer vorherigen Reflexion über transkulturelle Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung und der Auswirkung der Unterschiede auf letztere zeugen. So sollte sich der Arzt sowohl seinen eigenen als auch den kulturellen Hintergrund des Patienten bewusst machen [7, 8]. Es ist erforderlich, die impliziten Bias aufzuspüren: Dabei handelt es sich um unbewusste Verzerrungen, die dazu führen, dass bestimmte Patientenkategorien bevorzugt oder benachteiligt werden. Durch die Arbeit mit der medizinischen Entscheidungsfindung können Tools für eine gemeinsame Entscheidungsfindung erlernt werden.
Der letzte TKK-Bereich sind die Fertigkeiten («skills»), zu denen Kompetenzen, insbesondere in der Kommunikation, gehören. Das Erlernen einer Anamneseer­hebung unter Berücksichtigung der sozialen Determinanten ist ein Beispiel dafür [9], ebenso wie das Hinzuziehen eines Dolmetschers zur Konsultation oder die Anpassung des Gesprächs an einen Patienten mit geringer Gesundheitskompetenz.
In der Schweiz sind die Lernziele der medizinischen Fakultäten im Lernzielkatalog PROFILES (Principal Relevant Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland) aufgeführt [10]. Ausgehend von einem kanadischen Lehrmodell [11] enthält der PROFILES-Katalog zahlreiche Lernziele (Tab. 2), die zur Versorgung der Patienten und zur Berücksichtigung ihrer Diversität erforderlich sind.
Tabelle 2: Beispiellernziele aus dem PROFILES-Katalog [10].
Allgemeine Lernziele (AL)
11 von 60 AL betreffen TKK.
Nachfolgend nennen wir vier beispielhafte AL.
Als Fachperson muss ein Arzt in der Lage sein:
AL 1.17 Ein kritisches Bewusstsein für Stereotype im Zusammenhang mit dem Alter, dem Geschlecht, der Volkszugehörigkeit, der Kultur und den Vorstellungen zu entwickeln, welche sich auf die klinische Versorgung des Patienten auswirken können.
AL 1.24 Bei der Kontrolle, Prävention und Versorgung im persönlichen und gemeinschaftlichen Bereich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen.
AL 2.9 Die Gesundheitskompetenz des Patienten und seiner Familie zu verbessern, indem er ­ihnen dabei hilft, Kommunikationstechniken zu identifizieren, zu finden und anzuwenden. Das Ziel soll sein, die Autonomie des Patienten bei seiner medizinischen Versorgung sowie eine gesündere Lebensweise zu fördern.
AL 4.4 Im Bewusstsein der Wichtigkeit der Versorgungsgleichheit die besonderen Bedürfnisse vulnerabler Populationenzu identifizieren und zu berücksichtigen. Ggf. mit den Sozialdiensten zusammenzuarbeiten.
Anvertraubare professionelle Tätigkeiten (APT)
8 von 161 APT betreffen TKK.
Nachfolgend nennen wir drei beispielhafte APT.
Als Fachperson muss ein Arzt in der Lage sein:
APT 1.1 Stets eine vollständige und sorgfältige Anamnese unter Berücksichtigung der Erwartungen, Prioritäten, Werte, Vorstellungen und geistigen Bedürfnisse des Patienten zu erheben; Beschwerden und Situationen bei Patienten jedes Alters zu untersuchen; sich an die Sprachfähigkeiten und die Gesundheitskompetenz des Patienten anzupassen; die ärztliche Schweigepflicht zu wahren.
APT 1.3 Bei Gesprächen patientenzentrierte hypothesenbasierte Kommunikationskompetenzen zu nutzen; auf verbale und nonverbale Kommunikationshinweise des Patienten, seiner Kultur und seiner Familie zu achten, das Erklärungsmodell der Erkrankung anzuwenden, zu erkennen, ob ein Dolmetscher benötigt wird; eine ganzheitliche, empathische und nicht verurteilende Sichtweise des Patienten einzunehmen.
APT 7.4 Die spezifischen Eigenschaften und die individuelle Situation des Patienten, wie Geschlecht, Alter, Kultur, Religion, ­Vorstellungen und Gesundheitskompetenz zu berücksichtigen; die Vulnerabilität spezifischer Gruppen wie Migranten, Patienten mit geringem sozio-ökonomischem Status und Jugendlicher zu berücksichtigen.
Situations as Starting Points (SSPs)
7 von 265 SSPs betreffen TKK.
Nachfolgend nennen wir fünf beispielhafte SSPs.
SSP 237 Probleme im Zusammenhang mit der sexuellen Ausrichtung
SSP 240 Mentale und/oder geistige Erkrankung
SSP 241 Probleme im Zusammenhang mit Arbeitsbedingungen, Burnout, Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemen
SSP 245 Umfeldbedingte und psychosoziale Aspekte chronischer Erkrankungen
SSP 254 Patient eines anderen kulturellen Hintergrunds, Migration
PROFILES = Principal Relevant Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland
TKK = transkulturelle Kompetenzen
Derzeit gibt es in der Schweiz fünf medizinische Fakultäten für ein Vollzeit- (Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf) und zwei für ein Teilzeitstudium (Freiburg und Neuenburg).
Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, die unterschiedlichen Lehrformate von TKK an den Schweizer medizinischen Fakultäten im Medizinstudium mit­einander zu vergleichen. Stand der Informationen ist der 31.07.2018.

Methodik

Die in diesem Beitrag vorgestellten Informationen entstammen zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits haben wir in allen Schweizer medizinischen Fakultäten einen in der Lehre tätigen Arzt ausfindig gemacht, der den Überblick über die Vermittlung von TKK hat. Zu diesem Zweck haben wir uns an das Dekanat der jeweiligen Universität und das Netzwerk «Swiss Hospitals for Equity» gewandt. Letzteres wird vom BAG unterstützt und umfasst zum heutigen Zeitpunkt zehn Schweizer Spitäler, die sich für Versorgungsgleichheit einsetzen [12]. Anschliessend haben wir die Ansprechpartner darum gebeten, eine Tabelle zur Vermittlung von TKK entsprechend den unterschiedlichen verfügbaren Lehrformaten auszufüllen.
Andererseits haben wir uns an die frei zugänglichen Informationen auf den Websites der jeweiligen medizinischen Fakultäten gehalten [13–19].

Resultate: Analyse nach Lehrformaten

Im Medizinstudium gibt es verschiedene Lehrmethoden [20] mit zahlreichen und je nach Fakultät unterschiedlichen Formaten: ex-cathedra-Veranstaltungen, Kleingruppenunterricht (Gruppen mit üblicherweise unter 20 Studenten unter Anleitung eines Tutors), Vermittlung klinischer Kompetenzen (in Kleingruppen, häufig mit Scheinpatienten oder als Fachleute einge­ladenen Gastpatienten), klinische Immersion (Praktikum im Versorgungsbereich) und Wahlpflichtkurse (Pflichtunterricht, wobei das Thema aus einem begrenzten Angebot frei gewählt werden kann), die jeweils wenige Studenten betreffen und deren Unterrichtsformate variieren können.
Diese Informationen haben wir in zwei Tabellen zusammengefasst. In Tabelle 3 sind die ex-cathedra-Veranstaltungen aufgeführt. Unter dem jeweiligen Fachgebiet sind die behandelten Themen genauer aufgelistet. In ­Tabelle 4 finden Sie eine Übersicht über andere Lehrformate von TKK, geordnet nach Universität.
Tabelle 3: Transversaler Unterricht, in dem transkulturelle Kompetenzen (TKK) vermittelt werden, nach Fakultät (Stand: Juli 2018).
Transversaler Unterricht 
(ex-cathedra-­Veranstaltungen)Zahl der Fakultäten von insgesamt sieben, an denen das Fachgebiet unterrichtet wird
Psychosoziale Medizin7/7
Kommunikation 
Medizinische Entscheidungsfindung: unbewusste Bias’ 
Vulnerabilität 
Gesundheitskompetenz 
Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in der Schweiz 
Lebensalter, Geschlecht, Minderheiten (z.B. Behinderung, gehörlose und schwerhörige Patienten, LGBT) 
Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell 
Verhalten 
Arbeitswelt und Migration 
Psychiatrie2/7
Volksgesundheit, Präventivmedizin4/7
Soziale Gesundheitsdeterminanten 
Die Epidemiologie erzwungener Migration 
Erkrankungen mit der höchsten Prävalenz bei Flüchtlingen 
Anthropologie6/7
Kultur und kulturelle Barrieren 
Fremdsprachlichkeit (inklusive Gebärdensprache) 
Flüchtlinge, Flucht 
Religionen, Spiritualität 
Das Normale und das Pathologische 
Ethik3/7
Gleichbehandlung in der medizinischen Versorgung 
Transkulturelle Ethik vom Neugeborenen bis zum Senioren 
Tropenmedizin1/7
Infektionen bei Flüchtlingen 
Humanitäre Medizin1/7
Die Flüchtlingskrise 
Tabelle 4: Beispiele für TKK-Unterricht durch die TKK-Ansprechpartner nach Fakultät und Lehrmethode. Notabene: Neuenburg wird nicht aufgeführt, da der Unterricht ausschliesslich im ersten Studienjahr stattfindet und die TKK im ex-cathedra-Format vermittelt werden.
Zielgerichtete Lehrveranstaltungen zu transkulturellen Kompetenzen (TKK) während des Medizinstudiums in der Schweiz (Stand: Juli 2018)
 BSBEFRGEVDZH
Klein­gruppen­unterricht (n <20) Gesundheit und Gesellschaft in einem Entwicklungsland

Präsentation von volksgesundheitlichen Fallbeispielen
 Soziale Gesundheitsdetermi-nanten am Beispiel Diabetes

Zusammenarbeit mit einem ­Dolmetscher am Beispiel ­Harnwegsinfektion
 Ethische Fall­analyse
Praktische Übungen zum Erwerb klinischer KompetenzenPsychosoziale Anamnese

Erklärungsmodell der Erkrankung

Anamnese bei Migra­tionshintergrund
Zusammenarbeit mit einem ­DolmetscherTranskulturelle klinische KompetenzenÜberbringen schlechter Nachrichten
Klinische Immersion
Eintägiger Besuch einer Versorgungseinrichtung für vulnerable Populationen.Immersionsmodul Gemeinschaftsgesundheit:
Vierwöchiges Praktikum in der Schweiz oder im Ausland zu einem gemeinschaftsgesund-heitlichen Thema
Immersionsmodul Gemeinschafts­gesundheit
Wahlpflicht-kurse
Transkultu-relle Kompetenzen

Migration und humanitäre Medizin
  Medizinanthropologie

Gesundheit, Menschenrechte und Globalisierung

Humanitäre Medizin: die neuen Herausforderungen
Wahlpflichtseminar: Die Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, Dolmetscher, LGBT

Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung: Erkrankungen, Patienten, Realitäten!
Ethnische Wahrnehmung des Menschen in der Medizin

Ethik, Theorie und Recht in der Medizin
Sonstige
 E-Learning: «Qualität und Interaktion» E-Learning: «Qualität und Interaktion»

Test zu impliziten Assoziationen

Zusatzqualifikation in globaler Gesundheit und humanitärer Medizin (wird verliehen, wenn entsprechende Wahlpflichtkurse und Praktika absolviert sowie eine Masterarbeit zu diesem Thema geschrieben wurde)
E-Learning: «Qualität und Interaktion»

Test zu impliziten ­Assoziationen

Zwei MOOC-Videos (Massive Open Online Courses) über TKK
Demnächst: ­Module mit ­narrativen Fallbeispielen zur Sensibilisierung für TKK

Ex-cathedra-Veranstaltungen

In Tabelle 3 sind sieben Fachgebiete aufgeführt, in denen TKK vermittelt werden. Die Themen sind äusserst vielfältig, behandeln jedoch alle die Diversität von Patienten. Bei diesem Lehrformat werden vor allem Kenntnisse vermittelt, um Menschen mit von der eigenen Identität abweichenden Besonderheiten (z.B. Alter, Sprache oder Gesundheitskompetenz) besser zu verstehen.

Kleingruppenunterricht

Bei diesem Lehrformat können sowohl Kenntnisse als auch Einstellungen und Fertigkeiten vermittelt werden. Es ist von Interesse anzumerken, dass TKK-Aspekte (wie z.B. die Anamneseerhebung sozialer Deter­minanten oder eine Konsultation in Anwesenheit eines Dolmetschers) in die Behandlung üblicher Erkrankungen in der ambulanten Versorgung (Harnwegsinfektion oder Diabetes) integriert werden können (Genf).

Praktische Übungen zum Erwerb klinischer Kompetenzen

Dieses Lehrformat ist ideal zur Vermittlung von Fertigkeiten. Beispielsweise wird das Szenario einer klinischen Situation mit einem Patienten und einem Dolmetscher mithilfe standardisierter Patienten durchgespielt (Genf). Oder Gastpatienten nehmen an Diskus­sionen in der Kleingruppe teil (Lausanne). Dabei können die Studenten direkt mit dem Patienten, der ein Fachmann in ­Bezug auf das behandelte Thema ist, interagieren. Und schliesslich geht es um die Anamneseerhebung unter Berücksichtigung von Fragen zur psychosozialen Situation, Erklärungsmodellen der Erkrankung oder eines Migra­tionshintergrunds.

Klinische Immersion

Bei den klinischen Praktika werden die Studenten systematisch mit der transkulturellen Realität konfrontiert. Bei den Praktika im Rahmen des Immersions­moduls Gemeinschaftsgesundheit (Genf, Lausanne) widmen sich die Studenten in der Schweiz oder im Ausland vier Wochen lang im Besonderen einem ­gemeinschaftsgesundheitlichen Thema ihrer Wahl. Anschlies­send schreib­en sie einen Praktikumsbericht.

Wahlpflichtkurse

In mehreren Wahlpflichtkursen geht es spezifisch um TKK (Basel, Lausanne, Genf).

Sonstige

Ein vom BAG entwickeltes E-Learning-Modul bietet die Möglichkeit zum Selbststudium (Bern, Lausanne, Neuenburg) [21]. Die Lehrinhalte werden in Form kurzer ­Videos präsentiert, bei denen TKK in drei Modulen besprochen werden. Bezüglich der Sensibilisierung für Stereotype und Vorurteile, die die medizinische Entscheidungsfindung beeinflussen, können die Studenten auf einer entsprechenden Website eigenständig ihre Tendenz zu impliziten Assoziationen testen (Genf, Lausanne) [22].

Diskussion

In der Schweiz gibt es zahlreiche TKK-Lehrformate, insbesondere in Form von ex-cathedra-Veranstaltungen (Tab. 3). TKK werden in den verschiedensten Fachgebieten behandelt, was an sich bereits wertvoll ist und ihre Bedeutung in allen medizinischen Fachbereichen aufzeigt. Die Vielfalt der Fachgebiete und Lehrmethoden spiegelt ebenfalls die Diversität der medizinischen Ausbildung der Lehrkräfte wider (Abb. 1).
Abbildung 1: Beginnende Vermittlung von transkulturellen Kompetenzen (TKK) in ­verschiedenen medizinischen Fachbereichen. Bei den Fachbereichen handelt es sich um die der Ansprechpartner, welche wir in den jeweiligen Fakultäten ausfindig gemacht haben (Juli 2018).
Die zahlreichen PROFILES-Lernziele bezüglich TKK werden derzeit noch nicht erreicht, da die Thematik erst vor Kurzem in die Schweiz Einzug gehalten hat und noch in Entwicklung begriffen ist. Der PROFILES-Lernzielkatalog garantiert die zukünftige Einheitlichkeit der Lernziele im Medizinstudium in der Schweiz. Es liegt in der Verantwortung jeder einzelnen medizinischen Fakultät, die nötigen Massnahmen zur Umsetzung dieser Ziele zu ergreifen. Um sicherzustellen, dass letztere in allen fünf Fakultäten mit derselben Effek­tivität umgesetzt werden, erscheint es in diesem Stadium sinnvoll, die Evaluationsmodalitäten der Kompetenzen klarer zu definieren. Denn bis dato wurden TKK weder definiert noch praktisch umgesetzt (z.B. werden sie im Rahmen des OSCE [«objectif structured clinical Examination»] nicht als Unterthema abgeprüft).
Die von den Ansprechpartnern gesammelten Informationen ergeben Unterschiede in der für TKK-Vermittlung aufgewandten Zeit. Drei nicht durch Literatur untermauerte Überlegungen können formuliert werden:
– Vermutlich sind die Universitätsspitäler, je nach Nähe zu den Bundesasylzentren (seit 2019 geltende Bezeichnung für Asylunterkünfte und/oder Zen­tren für Asylverfahren), unterschiedlich stark mit Migranten konfrontiert.
– Die Vermittlung von TKK erfolgt grösstenteils aufgrund des persönlichen Bezugs der Ärzte, die sich für das Thema interessieren, und ist somit häufig ausschliesslich dem Einsatz letzterer geschuldet.
– Möglicherweise wurden die TKK vorrangig von Pflegefachpersonen in der Deutschschweiz entwickelt, wie ein Referenzwerk zu dem Thema belegt [23].
Der Trend in der Pädagogik geht zum Unterricht in studentischen Kleingruppen, deren aktive Teilnahme erwartet wird. Obwohl ein Grossteil der TKK in Form von ex-cathedra-Veranstaltungen(v.a. Vermittlung von «Kenntnissen») vermittelt wird, werden bestimmte Aspekte in anderen Lehrformaten unterrichtet, die sich eher den «Einstellungen» und «Fertigkeiten» widmen.
Folglich werden zwei Lehransätze zur Vermittlung von TKK angewendet. Einerseits gibt es Veranstaltungen, deren Inhalt spezifisch auf TKK ausgerichtet ist. Somit gibt es ein «TKK-Curriculum», das sich über sechs Stu­dienjahre erstreckt.
Andererseits können bestimmte TKK-relevante Inhalte in Unterrichtsveranstaltungen der medizinischen Fachbereiche (Innere Medizin, Pädiatrie, Psych­iatrie) inte­griert werden. In diesem Fall werden die Lehrkräfte dafür sensibilisiert, die entsprechenden Themen in ihre üblichen Fachinhalte einzubinden. Beide Ansätze (Curriculum und integrativer Ansatz) ­ergänzen einander. Die Erfahrung der TKK-Lehrkräfte hat jedoch gezeigt, dass die Studenten es bevorzugen, wenn die entsprechenden Informationen in den Unterricht der üblichen klinischen Kompetenzen eingebunden werden.
Und schliesslich sind das Internet und das «E-Learning» (insbesondere MOOCs [Massive Online Open Courses]) hervorragende Lehrmöglichkeiten, da klinische Situationen im Selbststudium bearbeitet werden können. In anderen Universitäten gibt es bereits MOOC über TKK und diese könnten in Zukunft auch in der Schweiz als Lehrformat genutzt werden [24]. Derartige Programme bergen jedoch die Gefahr, dass sie technisch rasch veraltet sind.
All diese Aspekte wurden auf einem Symposium im Jahr 2014 anlässlich eines europäischen Projekts zur Aufnahme transkultureller Kompetenzen ins Medizinstudium in Europa umfassend diskutiert [25].

Einschränkungen

Dieser Beitrag unterliegt hauptsächlich der Einschränkung, dass die Antworten von höchst unterschiedlichen Personen und Websites stammen, deren Informationen möglicherweise unvollständig sind. Die von uns präsentierten Daten stammen von unseren Ansprechpartnern und den entsprechenden Websites. Die von den Ansprechpartnern übermittelten Informationen spiegeln ihre Sicht über die Vermittlung von TKK wider, die wiederum durch ihre eigene Ausbildung beeinflusst ist. Möglicherweise gibt es weitere Ansprechpartner, die uns zum Zeitpunkt der Erstellung des Beitrags nicht bekannt waren. Die frei zugänglichen Informationen sind je nach Website verschieden, wodurch das Gesamtbild ebenfalls beeinflusst wird. Uns ging es jedoch vor allem darum, einen Gesamtüberblick über die TKK-Lehrformate und die Lehrkräfte, die diese anwenden, zu vermitteln.
Überdies ist es mitunter schwierig, klar abzugrenzen, was TKK-Unterricht eigentlich genau ist. Somit sollte die Tabelle 3 lediglich als Wegweiser und nicht als zuverlässiges Abbild der Realität betrachtet werden.
Und schliesslich sind diese Informationen aufgrund der beständigen Weiterentwicklung in der medizinischen Lehre als Stand der Vermittlung von TKK zu einem bestimmten Zeitpunkt (Juli 2018) zu betrachten.

Schlussfolgerungen

Als Antwort auf das Fallbeispiel im vorliegenden Artikel vereinbaren Sie ­einen erneuten Konsultationstermin in Anwesenheit eines professionellen Japanischdolmetschers (Konsultation im Trialog). Sie sprechen das Thema von STI und die entsprechenden Präven­tionsmassnahmen an und schlagen dem Patienten anschliessend ein STI-Screening vor. Sie fragen ihn, ob er weiss, dass es entsprechende Screening-Zentren gibt (Kenntnisdes Gesundheitssystems, Bedürfnisse von Minderheiten). Um zu überprüfen, ob er die verschiedenen Informationen und Erklärungen der Ärzte verstanden hat, bitten Sie den Patienten, die vermittelten Haupt­aspekte zu wiederholen («Teach-Back-Methode»).
Eine qualitativ hochstehende Medizin ist integrativ und auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten ausgerichtet, wenn diese identifiziert wurden. Die beständig zunehmende Diversität in unserem bereits multikulturellen Land stellt eine reale Herausforderung dar.
Wie die PROFILES-Lernziele bestätigen, ist es in der Medizin und Pflege ebenso wichtig wie in anderen Bereichen, z.B. der Diplomatie, TKK zu entwickeln. Studien zeigen die Auswirkungen einer optimalen Arzt-Patienten-Kommunikation: Diese hat eine bessere Compliance und infolgedessen einen besseren Gesundheits­zustand zur Folge [26, 27].
Dieser Beitrag verschafft einen Überblick über die Vermittlung von TKK gemäss dem Stand von Juli 2018. Dieses Lehrgebiet hat das Potential, weiterentwickelt [28, 29], evaluiert und fest etabliert zu werden, wobei sowohl der interprofessionelle, interdisziplinäre als auch der ­interfakultäre Austausch gefördert werden sollte.

Das Wichtigste für die Praxis

• Transkulturelle Kompetenzen (TKK) ermöglichen das Bewusstmachen individueller Eigenschaften.
• Eine zielgerichtete medizinische Versorgung hat eine bessere Compliance zur Folge.
• Weiterführende Informationen: Zunächst einmal stelle ich mir folgende Frage: Habe ich es in meinem klinischen Alltag mit unbewussten Bias zu tun? (Test zu impliziten Assoziationen: https://implicit.harvard.edu/­implicit/takeatest.html). Und dann: Wo finde ich eine entsprechende ­Weiterbildung? (CAS Santé et diversités [Gesundheit und Diversität]: ­https://www.unige.ch/formcont/cours/cas-sante-et-diversites-comprendre-et-pratiquer-les-approches-transculturelles-2019).
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Lucy Kunz
Cheffe de clinique adjointe
Service de médecine interne
Hôpital de Morges
Rue du Bugnon 44
CH-1011 Lausanne
lucy.kunz[at]ehc.vd.ch
 1 Office fédéral de la santé publique [Internet], Stratégie nationale en matière de santé, disponible sur: https://www.bag.admin.ch/bag/fr/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/gesundheitliche-chancengleichheit/chancengleichheit-in-der-gesundheitsversorgung.html
 2 Betancourt, J. R. Cross-cultural medical education: conceptual approaches and frameworks for evaluation. Acad Med 2003;78(6):560–9.
 3 Althaus F, Dominicé Dao M, Hudelson P, Domenig D, Green AR, Bodenmann P. Compétences cliniques transculturelles et pratique médicale. Quels besoins, quels outils, quel impact? Forum Med Suisse 2010;10(5):79.
 4 Beach, M. C., E. G. Price, et al. Cultural competence: a systematic review of health care provider educational interventions. Med Care 2005 43(4):356–73.
 5 Berlin EA, Fowkes WC., Jr.  A teaching framework for cross-cultural health care. Application in family practice. West J Med. 1983;139:934–8v.
 6 Association of American Medical Colleges [Internet]. Cultural competence education for students in medicine and public health: report of an expert panel. Washington DC: Association of Schools of Public Health and Association of American Medical Colleges; 2012. disponible sur: https://www.pcpcc.org/sites/default/files/resources/Cultural%20Competence%20Education%20for%20Students%20in%20Medicine%20%26%20Public%20Health.pdf
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11 Frank JR, Snell L, Sherbino J, editors. CanMEDS 2015 Physician Competency Framework . Ottawa: Royal College of Physicians and Surgeons of Canada; 2015.
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17 Université de Lausanne [Internet], site internet consulté en dernier le 29.06.2018, disponible sur: https://www.unil.ch/ecoledemedecine/fr/home/menuinst/bachelor---master.html
18 Université de Neuchâtel [Internet], site internet consulté en dernier le 29.06.2018, disponible sur: http://www10.unine.ch/descriptifs/faculte-des-sciences/bachelors/medecine-humaine-uniquement-1ere-annee/
19 Université de Zürich [Internet], site internet consulté en dernier le 29.06.2018, disponible sur: https://www.med.uzh.ch/de/Medizinstudium/infobroschueren.htmlhttps://www.med.uzh.ch/de/Medizinstudium/humanmedizinstudium.html
20 Thomas PA. Step 4, Educational strategies … accomplishing educational objectives. In Kern D, Thomas P, Hughes M, editors. Curriculum development for medical education: a six-step approach. 3rd edition. Baltimore: The Johns Hopkins University Press; 2016.
21 Programme e-learning à l’intention des professionnels de la santé pour une approche professionnelle à l’égard des patients migrants, développé sur mandat de l’OFSP et validé par la FMH, disponible sur: www.elearning-iq.ch
22 Greenwald AG, McGhee DE, Schwartz JL. Measuring individual differences in implicit social cognition: the implicit association test. Am J Public Health. 1998;74(6):1464–80. Test d’association implicite pouvant être effectué via le lien suivant: https://implicit.harvard.edu/implicit/takeatest.html
23 Domenig D. Transkulturelle Kompetenz Lehrbuch für Pflege-, Geshundheits- und Sozial-berufe, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Bern: Verlag Huber; 2007.
24 Quality interactions [Internet], disponible sur: http://www.qualityinteractions.com
25 Hudelson P, Dogra N, Hendrickx K, Verdonk P, Essink-Bot M-L, Suurmond J., The Challenges of integrating cultural competence into undergraduate medical curricula across Europe: experience from the C2ME «Culturally competent in medical education» project. MedEdPublish, 2016,5,[1], 10.
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