Personalisierte Chronotherapie bei Epilepsie
Chronobiologie der Epilepsie

Personalisierte Chronotherapie bei Epilepsie

Übersichtsartikel
Ausgabe
2020/3940
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.03413
Swiss Med Forum. 2020;20(3940):532-537

Affiliations
a Schlaf-Wach-Epilepsie Zentrum (SWEZ), Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Bern; b Wyss Center for Bio- and Neuroengineering, Genève; c Klinik für Neurologie, Kantonsspital, St. Gallen; d Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Bern

Publiziert am 22.09.2020

Epilepsie ist eine chronische Erkrankung, die in der Schweiz eine hohe Prävalenz aufweist. Dank der Fortschritte im Bereich des Neuroengineering wird es in den kommenden zehn Jahren zu zahlreichen Neuentwicklungen kommen.

Epidemiologie

Epilepsie ist eine chronische Erkrankung mit einer hohen Prävalenz von 70–80 000 Fällen in der Schweiz (~1% der Bevölkerung), darunter ca. 15–20 000 Kinder (www.epi.ch). Sie kann in jedem Alter ausbrechen, weist jedoch zwei Inzidenzspitzen während der Kindheit und im fortgeschrittenen Alter (>70 Jahre) auf. Die Erkrankung ist durch wiederholte akute Episoden unprovozierter epileptischer Anfälle gekennzeichnet. Viele dieser Anfälle sind von kurzer Dauer (ca. zwei Minuten) und ohne schwerwiegende Folgen, der Patient bleibt jedoch nicht selten mehrere Minuten lang bewusstlos, weshalb eine notärztliche Versorgung erforderlich ist. Wenn die Bewusstlosigkeit länger andauert und der Patient in diesem Fall nicht in eine stabile Seiten­lage gebracht wird, kann er sterben. Dies geschieht beim selten auftretenden, jedoch realen SUDEP («sudden unexpected death in epilepsy»). Diesen zu verhindern, ist zu einer medizinischen Priorität geworden. Anfälle mit Bewusstseinsverlust können ferner zu Unfällen jeder Art beitragen, weshalb zahlreiche Epileptiker ihren Führerschein abgeben müssen. Insgesamt ist das Risiko für einen vorzeitigen Tod bei Epileptikern im Vergleich zu gesunden Menschen um das ca. 20-Fache erhöht.

Ätiologie

Die Mechanismen im Gehirn, welche Epilepsie hervorrufen, sind nach wie vor unbekannt und erfordern intensive Forschungsarbeit. Epilepsie ist mit zahlreichen Risikofaktoren assoziiert, einschliesslich komplizierten Schwangerschaften und Geburten, Entwicklungs- und Lernverzögerungen, Fieberkrämpfen, Gehirnerschütterungen, vorausgegangener Meningoenzephalitis usw. In den meisten Fällen ist die jeweilige Ursache der Pa­tienten unbekannt. Ist sie bekannt, kann die Ursache ­aufgrund genetischer bzw. metabolischer im Magnetresonanztomogramm (MRT) nicht sichtbarer Veränderungen entweder «mikroskopischer» Natur oder aufgrund kongenitaler (z.B. perinataler Schädigungen, Fehlbildungen des Gehirns) bzw. erworbener Läsionen (z.B. posttraumatische Gehirnschäden, Zustand nach Schlaganfall, Infektionen oder aufgrund von Autoimmunprozessen), welche wiederum häufig im MRT sichtbar sind, «makroskopischer» Natur sein (Tab. 1). Epilepsie wird als «generalisierte Epilepsie» bezeichnet, wenn alle thalamokortikalen Bahnen von den Anfällen betroffen sind. Wenn eine kortikale Störung vorliegt und der Anfall in einem bestimmten Gehirnlappen beginnt, wird dies als «fokale Epilepsie» bezeichnet. Ferner kann sich ein zunächst fokal beginnender Anfall weiter ausbreiten und so zu einem «sekundär generalisierten Anfall» werden.
Tabelle 1: Mit Epilepsie assoziierte Faktoren.
Risikofaktoren für EpilepsiePositive Familienanamnese
Komplizierte Schwangerschaft oder Geburt
Entwicklungs- oder Lernverzögerungen
Fieberkrämpfe
Gehirnerschütterung
Meningoenzephalitis
Sonstige zentralnervöse neurologische Erkrankungen
Ätiologie der ­EpilepsieGenetische Ursache
Prä- oder perinatale Hirnschädigung
Kortikale oder vaskuläre Fehlbildung
Hippocampussklerose
Posttraumatische Gliose
Postinfektiöse Gliose
Postischämische Gliose
Hirntumor
KomorbiditätenAutismus
Depressionen
Angststörungen
Vorzeitige Sterblichkeit

Diagnostik

Das diagnostische Vorgehen bei Epilepsie ist umfassend und genau (Tab. 2). Zunächst erfolgt eine sequentielle Beschreibung der eigenen Wahrnehmung der Anfälle durch den Patienten. Die ersten sensorischen Symptome werden als «epileptische Aura» wahrgenommen und weisen bei fokalen Epilepsien häufig auf die Lokalisation der Anfallsherde hin. Seit den 1930er-Jahren wird Epilepsie aufgrund der Veränderungen im Elektroenzephalogramm (EEG) eher den neurologischen als den psychiatrischen Erkrankungen zugeordnet. Diese Veränderungen werden in zwei Typen unterteilt: «interiktale» und «iktale» Marker. Bei ersteren sind kurze (<200 ms) und gelegentliche zufällige epileptische Entladungen zu beobachten, durch welche die physiologischen Hirnströme unterbrochen werden. Diese dienen als wichtiger Hinweis, da sie die Diagnosestellung nach einem erstmaligen epileptischen Anfall und häufig auch die Zuordnung der Epilepsie zur fokalen oder generalisierten Form ermöglichen. Üblicherweise werden interiktale Entladungen als Anzeichen für eine «erhöhte Erregbarkeit des Gehirns» gedeutet und wenn diese häufig auftreten, gilt dies als Hinweis auf eine «epileptische Aktivität». Nichtsdestotrotz manifestieren sie sich klinisch nicht offenkundig und können ausschliesslich im EEG sichtbar gemacht werden. Iktale Entladungen hingegen sind der Ausdruck der klinischen Manifestationen eines epileptischen Anfalls im EEG, häufig mit frappierenden Übereinstimmungen zwischen den EEG-Wellen und der Symptomsequenz des Patienten. Beispielsweise kann ein epileptischer Anfall, der in der Insula beginnt, bei einem Patienten zunächst zu Geschmackswahrnehmungen und Gänsehaut, wenn er sich danach auf den Frontallappen ausweitet, zum Verdrehen der Augen und des Kopfes zur kontralateralen Seite und schliesslich zu einem sekundär generalisierten Anfall mit Konvulsionen führen. Die Suche nach derartigen Korrela­tionen zwischen klinischem Erscheinungsbild und EEG bildet die Grundlage der klinischen Epileptologie. Im Allgemeinen besteht in diesem Fachbereich ein gutes Verständnis der räumlichen Dynamik epileptischer Anfälle. Reicht ein Oberflächen-EEG nicht aus, um den Epilepsieherd zu ermitteln, ist häufig die Durchführung eines intrakraniellen EEGs (bei welchem Elektroden auf dem oder im Gehirn platziert werden) erforderlich. Die epileptogene Zone präzise zu lokalisieren, ist besonders dann wichtig, wenn eine genaue Diagnosestellung die Voraussetzung für einen erfolgreichen chirurgischen Eingriff darstellt. Zusätzlich kann zur chirurgischen Vorplanung die multimodale Bildgebung eingesetzt werden. Diese beinhaltet die Hochfeld-MRT (derzeit mit 3, in Kürze mit 7 Tesla), die funktionelle MRT, die molekulare Bildgebung (Positronen-Emissions- oder Einzelphotonen-Emissions-Tomographie) sowie die «Quellenlokalisation», eine Technik, die dazu dient, den Ursprung der epileptogenen Potenziale anhand ihres elektrischen Feldes radiologisch zu rekonstruieren.
Tabelle 2: Diagnostische Methoden.
Klinisches ­ErscheinungsbildAnfallsanamnese
Symptombild der Anfälle (mittels Videoaufnahme)
Neuropsychologie
Intraarterielle Applikation von Amobarbital (Wada)
ElektrophysiologieRoutine-EEG (20 Minuten)
Ambulante Oberflächen-EEG (1–3 Tage)
Stationäre Oberflächen-EEG (1–3 Wochen)
Stationäre intrakranielle EEG (1–3 Wochen)
Hochauflösende EEG und Quellenlokalisation
Magnetenzephalographie
Tiefe Hirnstimulation
Bildgebende Verfahren3- oder 7T-MRT
Funktionelle MRT
Morphometrie
Interiktale Positronen-Emissions-Tomographie
Iktale Photonen-Emissions-Tomographie
EEG = Elektroenzephalographie, T = Tesla, MRT = Magnetresonanztomographie.

Aktuelle Behandlungen

Auch bei den Therapiemöglichkeiten zur Behandlung der Epilepsie waren in den letzten zwanzig Jahren bedeutende Fortschritte zu verzeichnen. Einerseits wurden neue Medikamente und andererseits neurochir­urgische und technologische Verfahren entwickelt (Tab. 3). Die Zahl der verfügbaren antiepileptischen Wirkstoffe ist auf über 20 gestiegen. Ferner haben die Vielfalt der Wirkmechanismen an den Rezeptoren im Gehirn zu- und die Nebenwirkungen abgenommen. Nichtsdestotrotz ist die Prävalenz medikamentös therapieresistenter Epileptiker (~30–40%) seit Jahrzehnten gleichgeblieben. Aus diesem Grund kommen immer häufiger chirurgische Verfahren zum Einsatz, da diese die beste Option darstellen, eine Remission medikamentös therapierefraktärer Anfälle zu erreichen (~70% zwei Jahre nach dem chirurgischen Eingriff bei fokalen Epilepsien jeder Art). Dem steht ein geringes, jedoch reales Risiko für langfristige neurologische Schäden nach der Operation gegenüber (<5%, z.B. Verschlechterung des verbalen Gedächtnisses) [1]. Daher wird, wenn die Anfälle nach zwei gut kontrollierten medikamentösen Versuchen weiterhin auftreten, empfohlen, die Möglichkeit eines chirurgischen Eingriffs zu erwägen. In diesem Fall ist der Patient zur umfassenden diagnostischen Beurteilung an ein Universitätsspital zu überweisen. Beide Behandlungsformen sind statischer Natur: Die Medikamente werden üblicherweise zwei bis dreimal täglich in einer fixen Dosis verabreicht und die chirurgischen Eingriffe sind endgültig sowie irreversibel.
Tabelle 3: Aktuelle Behandlungen.
Kurative Behandlungen (Ziel: absolute Anfalls­freiheit)Antiepileptika
Resektive Chirurgie
Palliative Behandlungen (Ziel: Anfallsreduktion)Ketogene Ernährung
Dekonnektion mittels chirurgischem Eingriff
Periphere Neurostimulation (z.B.: VNS)
Zentrale Neurostimulation (z.B.: DBS)
VNS = Vagusnervstimulation, DBS = tiefe Hirnstimulation.
Welche Optionen gibt es, wenn weder eine medikamentöse noch eine chirurgische Behandlung ausreicht, um die Anfälle einzudämmen? Seit den 1990er-Jahren wurden für diesen Fall neue, auf technologischen Hilfsmitteln basierende Ansätze entwickelt. Zunächst wäre hier die Vagusnerv-, bzw. die aktuellere Trigeminusnervstimulation zu nennen, mit deren Hilfe eine Neuromodulation ohne Schädeleröffnung erreicht wird. Ferner kommen die invasivere intrakranielle Stimulation der Kerne der grauen Hirnsubstanz oder des Cortex zur Anwendung. Bei diesen Ansätzen bleibt das Gehirn intakt, es ist jedoch ein invasiver chirurgischer Eingriff erforderlich. Bis dato wurden diese Therapieoptionen lediglich zu palliativen Zwecken eingesetzt. Die Resultate waren zwar interessant, jedoch insgesamt denen nach resektiver Chirurgie deutlich unterlegen.
Trotz aller Fortschritte besteht also ein grosser Bedarf daran, die Behandlungen medikamentös und chirurgisch therapieresistenter Patienten zu verbessern. Diese Patientenpopulation leidet am stärksten unter der Epilepsie, da bei ihr weiterhin Anfälle in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten. Diese kann von einigen Malen pro Jahr bis hin zu mehreren Malen täglich reichen. Überdies bleibt das Problem der Nichtvorhersehbarkeit der Anfälle, gleich, wie häufig diese auftreten, dasselbe, wodurch die Patienten dazu verdammt sind, in ständiger Unsicherheit zu leben, weil sie nicht wissen, wann der nächste Anfall sein wird. Selbst im Jahr 2020 kann ein Neurologe seinem Patienten nicht einfach vorhersagen, ob sein nächster Anfall noch am selben Tag oder erst in zwei Monaten auftreten wird. Somit schwebt die Möglichkeit eines Anfalls wie ein Damoklesschwert über den Betroffenen und bedeutet für diese beständigen Stress. Dies hat bei den Patienten und ihrem Umfeld häufig ein Gefühl der Machtlosigkeit, bzw. Verzweiflung in Bezug auf die Zukunft zur Folge, welches in Angststörungen, Depressionen und Selbstmord münden kann.

Epilepsiezyklen

Nichtsdestotrotz verlaufen Epilepsien zyklisch [2]. Obgleich die Anfälle zufällig erscheinen mögen, so treten sie doch nicht gleichmässig über einen gewissen Zeitraum verteilt auf (Abb. 1). Dies wird offensichtlich, wenn man statistische Methoden anwendet, um die Verteilung einer grossen Zahl von Anfällen bei ein und demselben Patienten zu untersuchen. Griffiths und Fox wandten diesen statistischen Ansatz erstmals in den 1930er-Jahren an, um die Periodizität der Anfälle von 110 Jungen und Männern mit Epilepsie in der Lingfield-Kolonie im Londoner Umland zu verstehen [3]. Dank der beständigen Überwachung der Patienten konnten die beiden Studienautoren Datum und Uhrzeit aller ­Anfälle, auch in der Nacht, genau festhalten. Nach Jahren der Beobachtung von insgesamt 39 929 Anfällen (!) konnten sie zahlreiche Fakten bezüglich der Rhythmizität bei Epilepsie sammeln, wobei die Perio­dizität der Anfälle von Person zu Person variierte, bei ein und demselben Patienten jedoch relativ konstant war. Vor Kurzem hat die Auswertung von Langzeit-EEGs (d.h. mit über Jahre im Gehirn implantierten Elektroden) in zwei unabhängigen Studien ergeben, dass sich die Epilepsiezyklen ebenfalls in der interiktalen Aktivität widerspiegeln, welche wiederum nur mittels Langzeit-EEG er­mittelt werden kann, da sie keine klinischen Manifestationen zur Folge hat [4, 5]. Dabei wurden unterschiedliche Arten von Zyklen entdeckt. Zunächst einmal war dies der zirkadiane Rhythmus (von 24 Stunden), der darin zum Ausdruck kam, dass jeder Patient eine bevorzugte Anfallszeit aufwies. Am häufigsten traten die Anfälle von 6–7 Uhr morgens und am zweithäufigsten um Mitternacht herum auf. Die zweite Art war der Schlaf-Wach-Zyklus, da die o.g. Zeitfenster auch mit dem Schlaf- bzw. Wachzustand erklärt werden können. Tatsächlich treten viele Anfälle in den ersten Stunden des Tiefschlafs und ­andere während des Übergangs von Schlaf- zu Wachphasen auf. Bei manchen Patienten treten die Anfälle ausschliesslich im Schlaf auf. Dies geht häufig mit komplexen motorischen Manifestationen einher, welche mit Schlafwandeln oder anderen Parasomnien verwechselt werden können. Der genetische Hintergrund dieser Epilepsieformen wird zunehmend besser verstanden («sleep-related hypermotor epilepsy») [6]. ­Neben den Schlaf-Wach-Phasen spielt die Schlafhomöostase eine entscheidende Rolle. Tatsächlich ist Schlafentzug ein auslösender Faktor für epileptische Anfälle, von dem zahlreiche Epileptiker berichten. Aus diesem Grund wird die Anfallskontrolle bei Epilepsie durch eine zusätzliche Schlafstörung, wie Schlafapnoe, noch erschwert [6]. Und drittens wurden individuelle «multidiane» (mehrtägige) Rhythmen festgestellt, die sich ­dergestalt äussern, dass die sym­ptomfreien Intervalle zwar von Patient zu Patient stark variieren (Tage bis Monate), bei ein und demselben Patienten jedoch relativ beständig zu sein scheinen. Es muss angemerkt werden, dass der Zykluscharakter der Epilepsie nicht am Menstruationszyklus festzumachen ist, da auch bei Männern monatliche Anfallsrhythmen vorkommen. Ferner existieren bei beiden Geschlechtern weitere Z­yklen, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern, die keine bekannte physiologische Grundlage haben, wie 1, 2, 3, 4, 5, 7, 8 Wochen und 3 Monate [3]. Und schliesslich wurden seltene Fälle von saisonaler Epilepsie beschrieben. Zu den endogenen (wahrscheinlich hormonell bedingten) Zyklen kommen noch auslösende Faktoren wie Schlafmangel oder Stress hinzu, welche den Zeitpunkt des Auftretens der Anfälle beeinflussen. Demzufolge werden die Epilepsiezyklen von Tausenden von Faktoren beeinflusst, von denen lediglich einige messbar sind (Tab. 4).
Abbildung 1: Schematische Darstellung von Epilepsiezyklen in mehreren Ebenen. Das Anfallsrisiko (blaue Linie) schwankt mit einer individuellen mehrtägigen Periodizität , wodurch die Ermittlung der Tage mit hohem Anfallsrisiko möglich wird. Die Anfälle (gelber Stern) können isoliert oder gehäuft (in «Clustern») auftreten. Die anfallsfreie Phase kann bei zahlreichen Patienten relativ stabil sein (hier: ca. eine Woche). Auch scheinen die Anfälle zu einem relativ festen Zeitpunkt aufzutreten (hier: meist gegen 7 Uhr morgens).
Tabelle 4: Anfallsauslösende Faktoren.
Nichtzyklische ­FaktorenVergessene Medikamenteneinnahme
Alkohol oder Drogen
Stress
Schlafentzug
Zyklische FaktorenZirkadianer Zyklus (Tageszeit)
Schlaf-Wach-Zyklus (Schlaf- bzw. Wachzustand)
«Multidianer» (mehrtägiger) Zyklus
Hormone (z.B. sexueller Zyklus)

Personalisierte Epilepsiebehandlung

Die Idee einer personalisierten Epilepsiebehandlung ist nicht neu und erfordert zwingend eine genauere Analyse des jeweiligen Falles in Bezug auf die folgenden drei Bereiche: Genetik, Neuroanatomie und Zyklen. Genetisch gesehen, wurden bis dato zahlreiche Gene identifiziert, die eine Schlüsselrolle in der Pathophysiologie der Erkrankung spielen. Im Gegensatz zu Krebserkrankungen hat das Verständnis der molekularen Mechanismen bei Epilepsie keinen entscheidenden Einfluss auf die medikamentöse Behandlung. Noch immer werden die Medikamente für jeden einzelnen Patienten in Form eines langen Versuchsprozesses ausgewählt, bei dem geprüft wird, ob der Betroffene positiv oder negativ auf die Behandlung anspricht. Am Ende wird meist das Medikament beibehalten, welches die wenigsten Nebenwirkungen aufweist. Da das Ziel von Antiepileptika darin besteht, die Gehirnaktivität zu «dämpfen», geht ihre Einnahme häufig mit Müdigkeit oder anderen zentralnervösen Wirkungen einher. Neuroanatomisch gesehen, ermöglicht die individuelle Kartographierung, wie oben beschrieben, die Lokalisation des Anfallsherdes sowie der für Sprache und Gedächtnis wichtigen Hirnareale, welche jedoch unterschiedlich lokalisiert sein können. Unter Berücksichtigung der neurologischen Lokalisation kann der Patient durch einen chirurgischen Eingriff potentiell geheilt werden. Daher stellt ein solcher die Behandlung erster Wahl dar, wenn er unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt werden kann.
Wir vermuten, dass die Berücksichtigung der Zyklen in den kommenden Jahren hinsichtlich einer personalisierten Epilepsiebehandlung die grössten Fortschritte zur Folge haben wird. So bestünde ein neuer, bis dato ­jedoch aufgrund fehlender technischer Mittel kaum ­erforschter Ansatz darin, jeden Patienten in Bezug auf seine individuellen Zyklen, seinen Schlaf-Wach-Rhythmus sowie seine spezifischen auslösenden Faktoren zu analysieren. Wenn die «epileptische Aktivität» zuverlässig in Echtzeit kontrolliert werden könnte, würde es wahrscheinlich gelingen, die Anfälle vorherzusehen. In diesem Bereich gibt es derzeit einen regelrechten Technologieboom und grosses Interesse an technischen Hilfsmitteln, wie «Wearables», «Smartwatches» und anderen «Cloud-basierten» Methoden. Obgleich der Präzisionsgrad dieser Methoden noch nicht ermittelt wurde, werden sie wahrscheinlich bei Patienten, die ihre Erkrankung überwachen möchten, zunehmend beliebter werden, da sie nicht-invasiv sind. Eine andere Methode beruht auf einem bei Epilepsie altbekannten Vorgehen: der Auswertung der Anfälle mittels EEG. Dank der Fortschritte im Bereich der Miniaturisierung wird derzeit in mehreren Universitätszentren in Dänemark, Australien, den USA und der Schweiz ein mithilfe eines minimal-invasiven Eingriffs implantierbares EEG-System entwickelt. Dieses Langzeit-EEG zeichnet epileptische ­Signale permanent auf und übermittelt die entsprechenden Informationen zusammen mit einer statistischen Analyse an den Neurologen (Abb. 2).
Abbildung 2: Schema des aktuellen und in Zukunft möglichen klinischen Vorgehens bei Patienten mit medikamentös therapierefraktärer Epilepsie. Die Entwicklung eines mithilfe eines minimal-invasiven Eingriffs implantierbaren EEG-Systems, welches den Patienten dauerhaft überwacht, würde neue Diagnose- (blau) und Therapiemöglichkeiten (grün) eröffnen. Die gestrichelten Pfeile stellen optionale Schritte dar. EEG = Elektroenzephalographie bzw. Elektroenzephalogramm.
Mithilfe dieser präzisen und personalisierten Überwachung der epileptischen Aktivität sind die folgenden neuen Möglichkeiten denkbar: (1.) objektive Anfallserfassung, (2.) Chronotherapie, (3.) statistische Anfallslokalisierung (4.) ein Alarmwarnsystem und (5.) die Erkrankungskontrolle durch die Patienten selbst. Alle fünf Ansätze werden in naher Zukunft eingehend erforscht.
1. Ein Hauptproblem in der Epileptologie besteht darin, dass die Patienten ihre epileptischen Anfälle häufig nicht bewusst erleben oder sich nicht mehr an diese erinnern, da diese die kognitiven Funktionen vorübergehend (oder dauerhaft) beeinträchtigen. Daher sind die während der Konsultation ermittelten Informationen kaum aussagekräftig und häufig ungenau. Dies würde sich durch eine einfache objektive Anfallserfassung mittels Langzeit-EEG tiefgreifend ändern, wodurch die Entscheidung für eine medikamentöse Therapie und eine bestimmte Dosierung sehr viel einfacher wäre.
2. Wenn der individuelle Epilepsiezyklus des jeweiligen Patienten bekannt wäre, könnte eine medikamentöse Chronotherapie angeboten werden. Auf diese Weise wäre es möglich, Zeitfenster mit hohem und geringem Anfallsrisiko zu ermitteln, in denen hohe bzw. geringe Dosen des Antiepileptikums (mit geringeren Nebenwirkungen) verabreicht werden könnten.
3. Während der Optimierungsphase der medikamentösen Behandlung könnten mithilfe eines Langzeit-EEGs zahlreiche Anfälle erfasst werden, wodurch es möglich wäre, eine statistische Lokalisation zu ermitteln und diese ggf. an den Chirurgen weiterzuleiten.
4. Durch ein integriertes Alarmsystem bei Ereignissen ungewöhnlicher Intensität in Zusammenhang mit einem Anfall könnten SUDEP-Fälle gemeldet und verhindert werden.
5. Und schlussendlich könnten die Patienten direkt auf ein Protokoll ihrer eigenen epileptischen Aktivität zugreifen und somit ihren Alltag sowie ihre Medikamenteneinnahme unter Berücksichtigung der entsprechenden Informationen regeln. Auf diese Weise stünden sie im Zentrum der Behandlungsentscheidungen und würden in ihrer Eigenständigkeit bei der Versorgung ihrer Erkrankung durch potentielle positive Auswirkungen auf ihre Lebensqualität bestärkt.
Bei anderen chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise Diabetes, wurden derartige Konzepte bereits erfolgreich umgesetzt.
Auch die Implantation eines EEG-Systems weist jedoch Grenzen auf, inklusive der Risiken eines chirurgischen Eingriffs, dem Risiko von Gewebeerosionen, Infektionen sowie Komplikationen beim MRT-Einsatz mit metallischen Gegenständen im Körper. Bei Epilepsie scheinen die vorgenannten Risiken durch den potenziellen Nutzen eindeutig ausgeglichen zu werden. Dabei können die Erfolge in der Kardiologie bei der Anwendung von Schrittmachern und Defibrillatoren der Neurologie als Inspirationsquelle gelten.

Schlussfolgerungen

Epilepsie ist eine schwere, chronische, mitunter tödliche Erkrankung mit entsprechendem Leidensdruck, welcher neue minimalinvasive Ansätze rechtfertigt, um den Verlauf der Krankheit besser zu kontrollieren. Bis dato wurden mehr Bemühungen unternommen, Epilepsie aus einem neuroanatomischen als aus einem chronobiologischen Blickwinkel zu verstehen. Die zyklische Beziehung von Epilepsie und Schlaf, bzw. den systemischen Veränderungen, muss intensiver erforscht werden, da ein genaues Verständnis zu einer stärkeren Personalisierung der therapeutischen Versorgung beitragen könnte. Die Notwendigkeit, die Auswirkung der Schlaf-Wach- und hormonellen Zyklen auf die Gehirnfunktion zu verstehen, ist überdies für den gesamten Fachbereich der Neurologie und Psychiatrie von Bedeutung und scheint vielversprechend für die Behandlung von Epilepsie zu sein. Hier liegt noch ein langer Weg vor uns, die Entwicklung neuer Technologien ist jedoch bereits in vollem Gange. Schon heute ist vorstellbar, dass ein Patient, der über seinen eigenen Gesundheitszustand Bescheid weiss, seine Anfallserkrankung zuverlässiger kontrollieren kann.

Das Wichtigste für die Praxis

• Um die Behandlung von Patienten mit Epilepsie zu optimieren, sollten Allgemeinärzte ihre Patienten an Universitätsspitäler mit entsprechender Ausstattung überweisen, um einen EEG-Befund zu erstellen und multimodale Bild­gebung einsetzen zu können, wenn eine medikamentöse Behandlung nicht ausreichend ist.
• Es sollten maximal zwei gut kontrollierte medikamentöse Therapieversuche stattfinden, bevor weitere diagnostische Massnahmen ergriffen werden, da die Erfolgschancen bei einem dritten Medikament sehr gering sind (<5%).
• Ein unauffälliger Befund beim Einsatz bildgebender Verfahren bedeutet keinesfalls, dass eine chirurgische Behandlung ausgeschlossen ist.
• Eine umfassende diagnostische Untersuchung bedeutet nicht automatisch, dass die Patienten sich einem chirurgischen Eingriff unterziehen müssen. Da Epilepsie jedoch eine zum Teil noch unverstandene Erkrankung ist, lohnt es sich in jedem Fall, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können.
• Eine Untersuchung im Spital ist aus unserer Sicht umso mehr angezeigt, wenn kognitive oder psychiatrische Komorbiditäten vorliegen, Unklarheit über die Zahl der Anfälle besteht, bzw. möglicherweise nächtliche (Differentialdiagnose: nächtliche Epilepsien oder Parasomnien) oder Pseudo-Anfälle psychogenen Ursprungs (welche die Möglichkeit von Epilepsie nicht ausschliessen) auftreten.
MOB has a EpiOs patent for sub-scalp EEG pending and is a part-time employee of the Wyss center for bio and neuroengineering. The other authors have reported no financial support and no other potential conflict of interest relevant to this article.
Dr. med. Dr. sc. nat. ­Maxime O. Baud
Stv. Oberarzt, Schlaf-Wach-Epilepsie Zentrum (SWEZ)
Universitätklinik für
Neurologie, Inselspital
Freiburgstrasse 8
CH-3010 Bern
axime.baud[at]insel.ch
1 Baud MO, Pernerger T, Racz A, et al. European trends in epilepsy surgery. Neurology. 2018;91(2):1–12. doi:10.1212/WNL.0000000000005776.
2 Khatami R, Grohme K. Epilepsie und Chronobiologie. Zeitschrift für Epileptologie. 2018;31(1):5–11. doi:10.1007/s10309-017-0150-1.
3 Griffiths GM, Fox JT. Rhythm in epilepsy. Lancet. 1938;232(5999):409–16. doi:10.1016/S0140-6736(00)41614-4.
4 Karoly PJ, Freestone DR, Boston R, et al. Interictal spikes and epileptic seizures: their relationship and underlying rhythmicity. Brain. 2016;139(4):aww019-aww1078. doi:10.1093/brain/aww019.
5 Baud MO, Kleen JK, Mirro EA, et al. Multi-day rhythms modulate seizure risk in epilepsy. Nat Commun. 2018;9(1):88. doi:10.1038/s41467-017-02577-y.
6 Bassetti CL, Ferini-Strambi L, Brown S, et al. Neurology and psychiatry: waking up to opportunities of sleep.: State of the art and clinical/research priorities for the next decade. Eur J Neurol. 2015;22(10):1337–54. doi:10.1111/ene.12781.