Akute Beinschmerzen – nicht immer ein Gefässverschluss
Ein Augenmerk auf Nebenbefunde wäre hilfreich gewesen

Akute Beinschmerzen – nicht immer ein Gefässverschluss

Der besondere Fall
Ausgabe
2020/1922
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08440
Swiss Med Forum. 2020;20(1922):332-334

Affiliations
Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie, Inselspital Bern

Publiziert am 06.05.2020

Eine 63-jährige Patientin wurde mit akut aufgetretenen massiven Schmerzen in den Beinen sowie lumbal und periumbilikal mit Verdacht auf beidseitige akute Beinischämie zugewiesen.

Fallbericht

Anamese

Eine 63-jährige Patientin stellte sich aufgrund von akut aufgetretenen, massiven Schmerzen in beiden Beinen sowie lumbal und periumbilikal in einem peripheren Spital vor. In der persönlichen Anamnese fand sich die Dekompression einer Spinalkanalstenose ein Jahr zuvor mit anschliessender Beschwerdefreiheit sowie eine behandelte arterielle Hypertonie und ein persistierender Nikotinabusus von 30 «pack years». Auf der Notfallstation des auswärtigen Spitals fielen livid marmorierte, kalte untere Extremitäten auf, und die Pa­tientin wurde mit Verdacht auf beidseitige akute Bein­ischämie dem Universitätsspital zugewiesen.

Diagnose und Befund

Beim Eintreffen der Patientin fanden sich beidseits tastbare Leistenpulse mit normaler Sensibilität und Motorik der unteren Extremitäten. Beidseits zeigten sich, vorwiegend an den Unterschenkeln und Füssen linksbetont, fleckige livide Verfärbungen, die den Eindruck von Hautembolien vermittelten. Die Patientin berichtete über bereits seit zwei Wochen bestehende, linksbetonte Rücken- und Flankenschmerzen sowie über ein «Pulsieren» im Bauch in Seitenlage. Während fünf Tagen vor der Vorstellung seien zudem inter­mittierend Beinschmerzen aufgetreten, wobei erst die oben beschriebenen akut einsetzenden massiven Schmerzen zur Notfallkonsultation geführt hatten. In der klinischen Untersuchung fiel eine pulsierende, druckdolente abdominale Raumforderung auf. Es erfolgte ­umgehend eine Computertomographie (CT)-Angiographie, die ein Bauchaortenaneurysma mit einem Maximaldurchmesser von 14 cm (Abb. 1) zeigte. Die ­Becken- und Beinarterien waren beidseits offen.
Abbildung 1: CT-Angiographie mit Darstellung des infrarenalen Aneurysmas der Aorta abdominalis mit einem maximalen Durchmesser von 14 cm. Druckbedingte Usur am Wirbelkörper.

Therapie

Notfallmässig wurde eine Operation durchgeführt mit offenem Ersatz der Bauchaorta. Intraoperativ fanden sich ventral kleine bläuliche Ausbuchtungen des Aneurysmas als Hinweis für eine drohende Ruptur (Abb. 2A). Nach Ausklemmen und Eröffnen des Aneurysmas zeigte sich ein grosser, weit in die linke Flanke reichender Aneurysmasack mit chronischer Ruptur dorsal angrenzend an die Wirbelsäule und dort freiliegendem Ligamentum longitudinale anterius (Abb. 2B). Der Ersatz der Aorta erfolgte mit einer Kunststoff-Y-Prothese, die proximal unterhalb der Nierenarterien und distal beidseits auf die Arteria iliaca communis anastomosiert wurde.
Abbildung 2:   A) Intraoperativer Befund mit ventral bläulichen Ausbuchtungen (Pfeil) als Hinweis auf drohende Ruptur; auf dem Aneurysma liegendes Duodenum (*); B) Dorsal chronische Ruptur mit freiliegendem Ligamentum longitudinale anterius (Pfeil).

Verlauf

Postoperativ waren die anfänglichen Schmerzen im Bereich der multiplen Hautembolien an den unteren Extremitäten rückläufig, ohne dass sich grössere Ne­krosen demarkierten. Die Fusspulse waren tastbar und der Knöchel-Arm-Index im Normalbereich. Wir konnten die Patientin nach unauffälligem postoperativen Verlauf nach Hause entlassen.

Diskussion

Ein Bauchaortenaneurysma (BAA) wird definiert als eine Erweiterung der abdominalen Aorta mit einem Durchmesser von ≥3 cm oder ≥150% des erwarteten infrarenalen Aortendurchmessers [1]. Meist liegt ­einem BAA eine atherosklerotische Genese zugrunde. Dabei kommt es durch inflammatorische Prozesse zur Verringerung von elastischen Fasern, glatten Muskelzellen und Kollagen in der Aortenwand und damit zur Ausdünnung und Erweiterung des Gefässes [2]. Die Prävalenz des BAA steigt mit dem Alter an. Sie liegt bei Männern zwischen 65–74 Jahren bei 3,3% [3]. Frauen sind deutlich seltener betroffen mit einer Prävalenz um 1% im Alter von ≥65 Jahren [4]. Tabakkonsum ist der wichtigste Risikofaktor für die Entwicklung eines BAA. ­Daneben spielen die arterielle Hypertonie und eine ­positive Familienanamnese für aneurysmatische Erkrankungen eine wichtige Rolle [2].
Ein BAA ist in den meisten Fällen asymptomatisch und wird häufig als Zufallsbefund im Rahmen der Abklärung anderer Pathologien entdeckt. Das BAA zeigt die Tendenz, sich im Laufe der Zeit zu vergrössern (­ungefähr 2 mm pro Jahr). Die Rupturgefahr steigt mit der Zunahme des Durchmessers exponentiell an. Die empfohlene Indikationsgrenze für die elektive, vorsorgliche operative Sanierung eines BAA liegt bei 5,5 cm für Männer und 5 cm für Frauen. Eine rasche Zunahme des Durchmessers um ≥1 cm pro Jahr ist ebenfalls eine Operationsindikation [1]. Ein BAA mit einem Durchmesser unterhalb der Indikationsgrenze muss regelmässig mittels Ultraschall nachkontrolliert werden.
Symptomatische, nicht-rupturierte BAA machen 7–8% aller sanierten BAA aus [5, 6]. Verschiedene Sympto­me können auftreten. Typisch sind lumbale Rückenschmerzen, Bauchschmerzen und Flankenschmerzen, ähnlich wie sie akut auch bei einer Ruptur auftreten. Eine Druckdolenz des Aneurysmas deutet darauf hin, dass die Symptome tatsächlich durch das BAA verursacht sind. Ein grosses BAA kann selten auch Symptome lokaler Kompression verursachen, wie beispielsweise ein Völlegefühl oder Nausea durch Kompression des naheliegenden Duodenums, Harnabflussstörungen durch Kompression des Ureters oder eine venöse Stauung bis hin zu einer Thrombose durch Kompression der Vena cava inferior und der Iliakalvenen.
Unsere Patientin präsentierte sich mit einem 14 cm gros­sen, stark symptomatischen Bauchaortenaneurysma. Neben lumbalen Rücken- und periumbilikalen Abdominalschmerzen klagte sie, etwas atypisch, auch über starke bilaterale Beinschmerzen und hatte multiple Hautembolien im Bereich der unteren Extremitäten. Obwohl bei einem BAA fast immer ein Wandthrombus vorliegt (Abb. 1) [2], sehen wir in der Praxis selten Pa­tienten mit Embolien aus teilthrombosierten BAA. Viel häufiger sind embolische Ereignisse bei peripheren Aneurysmen, insbesondere Poplitealaneurysmen. Dabei kommt es zur Embolisation von Anteilen des Wandthrombus nach distal mit möglichen ischämischen Komplikationen. Auch in der Literatur sind embolische Komplikationen eines BAA kaum beschrieben. Baxter et al. berichteten jedoch, dass 5% ­ihrer Patienten, die wegen eines BAA operiert wurden, sich mit Symptomen von peripheren Embolien, meist Mikroembolien im Sinne eines «blue toe»-Syndroms, präsentierten. ­Erstaunlicherweise hatten die meisten dieser Patienten ein BAA mit einem Durchmesser <5 cm, jedoch computertomographisch häufig einen unregelmässigen, fissurierten oder teilweise kalzifizerten Thrombus [7]. Eine ähnliche Präsentation wie bei unserer Patientin, mit Schmerzen und grossflächigeren Hautveränderungen der unteren Extremitäten, wurde nur als Fallbericht beschrieben und ebenfalls auf ein Aortenaneurysma zurückgeführt mit Mikro- respektive Cholesterinembolien als Ursache für die Hautveränderungen [8]. Solche atypischen Symptome können die Diagnosestellung, wie im vorliegenden Fall, erschweren. Die klinische ­Untersuchung mit Palpation des druckdolenten, pulsa­tilen abdominalen Tumors war bei unserer Patientin richtungsweisend und hat umgehend zur CT-Angiographie geführt.
Ein symptomatisches BAA stellt unabhängig vom Durchmesser eine Operationsindikation dar, wobei der Operationszeitpunkt etwas kontrovers diskutiert wird. Im Allgemeinen werden symptomatische BAA jedoch dringlich oder notfallmässig saniert [1]. Man geht davon aus, dass das Auftreten von Symptomen wie lumbalen Rückenschmerzen, Bauchschmerzen oder auch Embolien mit akuten Veränderungen in der Aneurysmawand einhergeht (erhöhte Wandspannung, Expansion, Einblutung in den Wandthrombus) und damit ein akutes Rupturrisiko besteht. So musste auch im vorliegenden Fall bei ausgeprägter Symptomatik und ungewöhnlich grossem BAA (14 cm) von einer unmittelbaren Rupturgefahr ausgegangen werden. Der intraoperative Befund mit mehreren bläulichen Aussackungen ante perfora­tionem (Abb. 2A) bestätigte dies. Zusätzlich zeigte sich dorsal eine chronische Ruptur mit freiliegendem Ligamentum longitudinale anterius.
Erfreulicherweise erholte sich die Patientin gut von der Operation und den Hautembolien. Retrospektiv hätte das BAA bereits zwei Jahre zuvor in einem Magnet­resonanztomogramm, das wegen chronischer lumboradikulären Schmerzen durchgeführt wurde, gesehen werden können. Damals hatte es einen Durchmesser von >8,5 cm (Abb. 3). Der Befund war übersehen worden, die Diagnose hätte der Patientin jedoch eine notfallmässige Operation, die oft mit einem schlechteren Outcome assoziiert ist, ersparen können.
Abbildung 3: Magnetresonanztomogramm zwei Jahre zuvor bei lumboradikulären Schmerzen; bereits sichtbares Aortenaneurysma (rot) mit einem Durchmesser von >8,5 cm; A) sagittal, B) axial.

Das Wichtigste für die Praxis

• Auch ein nicht-rupturiertes Bauchaortenaneurysma (BAA) kann sym­ptomatisch sein und sollte dringlich einem gefässchirurgischen Zentrum zugewiesen werden.
• Die Präsentation kann manchmal atypisch sein, etwa bei einem embolisierenden BAA, das ischämiebedingte Symptome verursachen kann. Die klinische Untersuchung kann richtungsweisend sein. Ein entsprechender Verdacht sollte umgehend zu einer Schnittbilddiagnostik führen.
• Ein Augenmerk auf Nebenbefunde bei aus anderen Gründen durchgeführten radiologischen Untersuchungen kann für den Patienten entscheidend sein.
Die Autoren bedanken sich beim Universitätsinstitut für Diagnostische Interventionen und Pädiatrische Radiologie des Inselspitals Bern für das radiologische Bildmaterial.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Salome Weiss
Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 18
CH-3010 Bern
salome.weiss[at]insel.ch
1 Wanhainen A, Verzini F, Van Herzeele I, Allaire E, Bown M, Cohnert T, et al. Editor’s Choice - European Society for Vascular Surgery (ESVS) 2019 Clinical Practice Guidelines on the Management of Abdominal Aorto-iliac Artery Aneurysms. Eur J Vasc Endovasc Surg. 2019;57(1):8–93.
2 Sakalihasan N, Limet R, Defawe OD. Abdominal aortic aneurysm. The Lancet. 2005;365(9470):1577–89.
3 Grondal N, Sogaard R, Lindholt JS. Baseline prevalence of abdominal aortic aneurysm, peripheral arterial disease and hypertension in men aged 65–74 years from a population screening study (VIVA trial). Br J Surg. 2015;102(8):902–6.
4 Palombo D, Lucertini G, Pane B, Mazzei R, Spinella G, Brasesco PC. District-based adominal aortic aneurysm screening in population aged 65 years and older. J Cardiovasc Surg. 2010;51:777–82.
5 De Martino RR, Nolan BW, Goodney PP, Chang CK, Schanzer A, Cambria R, et al. Outcomes of symptomatic abdominal aortic aneurysm repair. J Vasc Surg. 2010;52(1):5–12 e1.
6 Soden PA, Zettervall SL, Ultee KH, Darling JD, Buck DB, Hile CN, et al. Outcomes for symptomatic abdominal aortic aneurysms in the American College of Surgeons National Surgical Quality Improvement Program. J Vasc Surg. 2016;64(2):297–305.
7 Baxter BT, McGee GS, Flinn WR, McCarthy WJ, Pearce WH, Yao JS. Distal embolization as a presenting symptom of aortic aneurysms. Am J Surg. 1990;160(2):197–201.
8 Williams HC, Pembroke AC. Livedo reticularis and massive thoracoabdominal aneurysm. Clin Exp Dermatol. 1994;19(4):353–5.