Glutenkrankheiten
Eine ­Übersicht

Glutenkrankheiten

Übersichtsartikel AIM
Ausgabe
2020/1112
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08468
Swiss Med Forum. 2020;20(1112):184-190

Affiliations
a Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, UniversitätsSpital Zürich; b GZO Spital Wetzikon; c Central Praxis Zürich; d Food on Record® Ernährungsberatung, Basel; e Unité d’allergologie, Service d’immunologie et allergologie, Hôpitaux universitaires de Genève, Genève; ­f ­Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie, Zürich

Publiziert am 10.03.2020

Glutenfrei ist im Trend und wird oft mit gesunder Ernährung gleichgesetzt. Dabei geht meist vergessen, dass der Verzicht auf Gluten primär eine Therapie bei Glutenerkrankungen darstellt.

Einleitung

Glutenfrei ist im Trend. Was früher nur im Reformhaus erhältlich war, haben nun Migros und Coop im Sortiment. Restaurants mit glutenfreien Menus gibt es wie Sand am Meer. Jeder dritte Amerikaner versucht, sich (mindestens zeitweise) glutenfrei zu ernähren. Auch Prominente wie Novak Djokovic, Gwyneth Paltrow oder Chelsea Clinton schwören auf glutenfreies Essen – aus diversen Gründen. Glutenfrei wird dabei zum Synonym für gesunde Ernährung. Glutenfrei als Heilmittel für alles?
Was aus Sicht von Zöliakiepatienten richtig und zu begrüssen ist, stimmt für die Gesamtbevölkerung nicht unbedingt. Kürzlich konnte in einer Studie nachgewiesen werden, dass glutenfreie Ernährung zu erhöhten Schwermetallwerten (u.a. Arsen, Cadmium, Blei und Quecksilber) in Urin und Blut führen kann. Eine glutenfreie Nahrung weist typischerweise einen höheren glykämischen Index auf und ist häufig arm an Vitamin B, Folsäure und Eisen. Mangelzustände und sogar eine Gewichtszunahme sind möglich. Die Tatsache, dass die kirchliche Hostie ein reines glutenhaltiges Weizenprodukt ist, spricht bereits dafür, dass Gluten nicht des Teufels sein kann.
Gluten ist eine alkohollösliche Fraktion der Weizenproteine, das in grossen Mengen (10–20 g/d) mit der normalen Nahrung aufgenommen wird. Es findet sich in den Getreidesorten Weizen, Rogge und Gerste. In der Lebensmittelindustrie dient Gluten als Klebe­eiweiss, so zum Beispiel in der Herstellung von Spaghetti oder Würsten. Die Geschichte des Glutens ist eine Geschichte der Menschheit. Mit dem Anbau von Getreide, der den Menschen vor zirka 10 000 Jahren in Mesopotamien ermöglichte, sesshaft zu werden, wurde Gluten in die Ernährung eingeführt. Etwa 5000 v. Chr. kam Weizen mit der indogermanischen Völkerwanderung zum ersten Mal nach Mitteleuropa. Ab dem 11. Jahrhundert n. Chr. wurde Weizen zum wichtigsten Getreide und löste die damals vorwiegend angebauten Gerste und Hirse als Hauptgetreidesorte ab. Heute isst ein Drittel der Weltbevölkerung regel­mässig Weizen und schätzungsweise ein Fünftel des Energiebedarfs wird durch Weizen abgedeckt. In der Schweiz beträgt der Pro-Kopf-Konsum 75 kg, deutlich mehr als jener von Reis (5,5 kg) oder Mais (2 kg). Weltweit ist Weizen neben Mais das am meisten angebaute Getreide. Mit der Industrialisierung wurden Weizensorten gezüchtet, die den Ertrag sowie den Proteingehalt deutlich steigerten. Diese neuen Sorten enthalten mehr Gluten und einen höheren Anteil an Amylase-Trypsin-Inhibitoren, die kürzlich als mög­liche Faktoren in der Aktivierung des angeborenen Immunsystems in Zöliakiepatienten identifiziert ­wurden. Dies sind nur zwei mögliche Gründe für den Anstieg an Glutenerkrankungen in den letzten Jahren.
Die Glutenerkrankungen werden üblicherweise nach Ätiologie und Pathogenese eingeteilt in (1) autoimmun-­bedingte Erkrankungen (Zöliakie), (2) allergisch bedingte Erkrankungen (Nahrungsmittelallergie) und (3) nicht autoimmun, nicht allergisch bedingte Erkrankungen (Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität [NCGS]) (Abb. 1). In den folgenden Abschnitten fassen wir die drei Krankheitsgruppen zusammen mit Hinblick auf Prävalenz, Pathogenese, Symptomatik, Diagnostik und Therapie.
Abbildung 1: Einteilung der Glutenerkrankungen.

Zöliakie

Prävalenz

Die Prävalenz der Zöliakie liegt bei 0,6–1% in der ­Bevölkerung europäischer Herkunft. Einzelne Regionen wie Finnland, Mexiko und Kinder aus der Saharawi-Region in Nordafrika weisen sogar Prävalenzen von 2–5% auf. Steigende Prävalenzzahlen werden in Zusammenhang gebracht mit dem westlichen Ernährungsstil, veränderter Weizenproduktion, besserer Dia­gnostik sowie erhöhtem Bewusstsein seitens der Ärzte und Patienten. Basierend auf serologischen ­Untersuchungen wird eine hohe Dunkelziffer vermutet, die durch einen häufig oligo- oder teilweise sogar asymptomatischen Krankheitsverlauf erklärt werden kann.

Pathogenese

Die Zöliakie ist eine autoimmunvermittelte, durch Gluten ausgelöste Erkrankung bei genetisch prädisponierten Personen. Bei dieser Prädisposition handelt es sich um die typische HLA-Konstellation DQ2/DQ8, die bei 30–40% der Gesamtbevölkerung ­vorliegt. Bei einer Prävalenz von «nur» 1% impliziert dies, dass nicht alle Personen mit HLA DQ2/DQ8 eine Zöliakie entwickeln und weitere Faktoren nötig sind, um die Krankheit zu triggern, wie etwa eine frühe oder massive Glutenexposition, eine Darminfektion oder auch bestimmte Medikamente. Histopathologisch zeichnet sich die Zöliakie durch eine entzündliche Veränderung des Dünndarmes mit Zottenatrophie, Kryptenhyperplasie und intraepithelialer Lymphozytose aus.

Symptome

Die Zöliakie kann sich in jedem Alter manifestieren und verläuft häufig oligosymptomatisch. Die Symptomatik lässt sich einteilen in gastrointestinal und ­extraintestinal (Tab. 1). Durchfall und Bauchschmerzen sind die häufigsten gastrointestinalen Beschwerden, doch auch Blähungen, Übelkeit/Erbrechen sowie Ob­stipation können vorkommen. Zu den extraintestinalen Symptomen zählen Wachstumsprobleme und Gedeihstörungen (besonders bei Kindern), neurologische Beschwerden (Migräne, Parästhesien) und Hautmanifestationen (Dermatitis herpetiformis Duhring). Eine Anämie kann bei asymptomatischen Patienten der einzige Hinweis auf eine Zöliakie sein. In einem ­gewissen Prozentsatz (2%) handelt es sich bei der ­Zöliakie um einen reinen Zufallsbefund im Rahmen ­einer ­oberen Endoskopie. Aufgrund der unspezifischen ­Beschwerden müssen andere Differentialdiagnosen wie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Reizdarmsyndrom und Nahrungsmittelunverträglichkeiten in Betracht gezogen werden.
Tabelle 1: Die häufigsten Symptome, die bei den drei spezifischen Glutenerkrankungen (Zöliakie, Weizenallergie und Nicht-­Zöliakie-Glutensensitivität) auftreten können (adaptiert nach Sapone A, Bai JC, Ciacci C, Dolinsek J, Green PH, Hadjivassiliou M, et al. Spectrum of gluten-related disorders: consensus on new nomenclature and classification. BMC Med. 2012;10:13. [1]).
 ZöliakieWeizenallergieNicht-Zöliakie ­Glutensensitivität
Gastrointestinale ­Symptome– Abdominalschmerzen
– Diarrhoe
– Obstipation
– Abdominalschmerzen
– Erbrechen
– Diarrhoe
– Abdominalschmerzen
– Diarrhoe
– Obstipation
– Nausea/Erbrechen
– Sodbrennen
– Borborygmi, Blähungen
Neurologische und ­psychiatrische ­Symptome– Kopfschmerzen
– Muskuloskelettale Schmerzen
– Kribbeln und Taubheitsgefühl in Händen und Füssen
– Müdigkeit
– Depression
– Ataxie
– Kopfschmerzen
– Schwindel
– Kopfschmerzen
– Muskuloskelettale Schmerzen
– Kribbeln und Taubheitsgefühl in Händen und Füssen
– Müdigkeit
– Andere neurologische und ­psychiatrische Symptome
Andere Symptome– Dermatitis herpetiformis
– Gewichtsverlust
– Eisenmangel
– Ekzem
– Asthma
– Rhinitis
– Nausea
– Juckreiz
– Hautausschlag
– Nausea
– Gewichtsverlust

Diagnostik

Goldstandard in der Zöliakiediagnostik bildet unverändert die obere Endoskopie mit Biopsieentnahme aus dem Duodenum zusammen mit einer positiven Serologie. Bei hohem klinischen Verdacht ist eine Gastro­skopie auch bei negativen Antikörpern durchzuführen. Häufig werden bei einer niedrigen bis mittleren Vortestwahrscheinlichkeit serologische Tests durchgeführt. Anti-Endomysium- und Anti-Transglutaminase-Antikörper sprechen mit einer hohen Sensitivität und Spezifität für eine Zöliakie. Aufgrund der erhöhten Inzidenz eines IgA-Mangels sollten die Antikörper immer zusammen mit dem Gesamt-IgA bestimmt werden. Bei einem IgA-Mangel sind negative Serologien nicht zu verwerten. In diesem Fall helfen IgG-Antikörper. Bei positivem Antikörpernachweis muss eine Zöliakiediagnostik bioptisch bestätigt werden, da (1) der positiv-prädiktive Werte der Serologien nicht bei 100% liegt und (2) eine Zöliakiediagnose aufgrund der lebenslang indizierten Therapie mit glutenfreier Diät nicht voreilig gestellt werden sollte. Die Bestimmung der HLA-Genotypen kann ebenfalls in der Diagnostik weiterhelfen. Bei Patienten mit einem negativen HLA-DQ2 oder HLA-DQ8 kann eine Zöliakie zu beinahe 100% ausgeschlossen werden (hoher negativ prädiktiver Wert). Dies ist hilfreich bei Patienten mit anderen Autoimmunerkrankungen, die mit einem erhöhten Zöliakierisiko assoziiert sind (Diabetes mellitus Typ 1, autoimmune Schilddrüsenerkrankungen). Trotz an sich einfacher Diagnostik beträgt die diagnostische Verzögerung (Zeit vom Auftreten erster Symptome bis zur Diagnostellung) bis zu vier Jahren. Besonders Frauen sind von einer solchen Verzögerung betroffen.

Therapie

Die einzige effektive Therapie in der Behandlung der Zöliakie ist die glutenfreie Diät. Hierbei handelt es sich um einen strikten und lebenslangen Verzicht auf glutenhaltige Nahrungsmittel wie Weizen, Dinkel, Roggen und Gerste. Bereits kleinste Mengen Gluten (50 mg/d) sind immunogen. Eine Glutenmenge von 20 ppm («parts per million») ist allgemein als Obergrenze akzeptiert. Eine strikte Therapieadhärenz ist essentiell für den Erfolg einer glutenfreien Diät. Diese sollte wie folgt evaluiert werden: Symptom-Assessment, Überprüfung der Diät, Verlaufsserologien und gegebenenfalls Verlaufs­biopsien. Letztere sind insbesondere in­diziert, wenn Patienten auf die Diät nicht ansprechen und/oder ein erhöhtes Lymphomrisiko besteht. Unter Therapie verbessern sich Symptome wie die Diarrhoe meistens innerhalb von vier Wochen. Zwei Drittel der Patienten haben eine komplette Resolution der Symptome innerhalb von sechs Monaten. Die Serologie normalisiert sich nach 3–6 Monaten; in Einzelfällen kann es aber bis zu 24 Monate dauern. Das heisst, dass behandelnde Ärzte bei einer positiven Serologie nicht gleich an einen ­Diätfehler der Patienten denken sollten. Die Histologie verbessert sich nach einer glutenfreien Diät innerhalb von 6–12 Monaten. Es kann aber auch mehrere Jahre dauern, bis sich die Histologie normalisiert. Deshalb sind zu frühe Gastroskopien nach einer glutenfreien Diät zu vermeiden. Wir empfehlen eine Visite nach 3–6 Monaten (inkl. Serologiebestimmung) und dann eventuell eine histologische Verlaufskontrolle nach 1–2 Jahren.

Weizenallergie

Prävalenz

Die Gesamtprävalenz einer relevanten Weizenallergie liegt bei <1% und ist höher im Kindes- als im Erwach­senenalter. Typischerweise sind Kinder im Schulalter betroffen, häufig kommt es zum Auswachsen der Allergie wie es auch bei anderen Nahrungsmittelallergien beobachtet wird.

Pathogenese und Symptome

Da es sich bei der Weizenallergie um eine Allergie vom Soforttyp handelt, treten die Beschwerden kurze Zeit nach Allergenexposition auf. Diese umfassen typische Allergiesymptome wie Urtikaria, Angioödeme, Dyspnoe, Diarrhoe, Erbrechen und Schwindel (anaphylaktischer Schock, Tab. 1). Ausgenommen davon sind eosinophile Gastroenteropathien und Kontaktekzeme, bei denen eine Spättypreaktion als relevante Mitursache nicht ausgeschlossen werden kann. Allergenspezifische IgE führen zur Aktivierung von Eosinophilen und Mastzellen sowie zur Freisetzung von Histamin. Es wurden bereits mehrere Weizenproteine identifiziert, die allergische Soforttypreaktionen auslösen können. Neben einer klassischen Weizenallergie mit Soforttyp­symptomen, die während oder unmittelbar nach dem Essen auftritt, muss bei einer anstrengungsinduzierten Anaphylaxie auch immer an Weizenprodukte als Auslöser gedacht werden. Diese Patienten tolerieren Weizenprodukte ohne Kofaktoren wie Sport, Azetyl­salicylsäure oder Alkohol gut. Lediglich bei Auftreten einzelner oder mehrere dieser Kofaktoren können Symptome verzögert auftreten. Ein häufig identifiziertes Allergen beim Erwachsenen ist Omega-5-Gliadin (Tri a 19). Bäcker leiden häufig an einer Weizenallergie, sodass hier eine differenzierte Abklärung mit verschiedenen Weizenkomponenten erfolgen muss.

Diagnostik

Zu Beginn der Diagnostik steht eine genaue Ana­mnese. Es sollte nicht nur festgestellt werden, welche Nahrungsmittel eingenommen wurden, sondern es muss auch ein besonderes Augenmerk auf Kofaktoren gerichtet werden (Rhinoconjunctivits allergica, Sport, Medikamenteneinnahme, Alkohol). Es empfiehlt sich auch, eine genaue Berufsanamnese zu erheben, um Patienten, die auch nur unregelmässig mit Weizenmehl in Kontakt kommen, zu identifizieren. Die weiterführende Abklärung erfolgt auf Basis dieser sorgfältigen Anamnese. Dabei gehört die Prick-Testung mit Pollen (Gräserpollen als Hinweis auf Kreuzsensibilisierung mit Weizenmehl) und Weizenprodukten zum Standard. Im Weiteren sollten abhängig von der Anamnese spezifische IgE bestimmt werden. In einem ersten Schritt sind IgE gegenüber Weizenmehl anzufordern. Wasserunlösliche Gliadine können ebenfalls getestet werden und sind ein Hinweis auf eine relevante Sen­sibilisierung. Bei einer anstrengungsinduzierten Weizenallergie ist der häufigste Auslöser Omega-5-Gliadin (Tri a 19). Bei schweren anaphylaktischen (auch anstrengungsinduzierten) Reaktionen oder einem Bä­ckerasthma sollte zusätzlich eine Abklärung auf ein spezifisches Lipid-Transfer-Protein (Tri a 14) erfolgen. Im Rahmen einer akuten Anaphylaxie empfiehlt es sich, die Serum-Tryptase zu bestimmen. Eine erhöhte Serum-­Tryptase weist auf eine Mastzellaktivierung hin. Im akuten Ereignis sollte jedoch im Abstand von mindestens 24 Stunden eine Wiederholung erfolgen, um eine Hypertryptasämie und eventuell eine zugrunde liegende Mastozytose nicht zu übersehen. Provokationstestungen mit Weizenprodukten sind nur ausnahmsweise bei einer spezifischen Fragestellung (z.B. Beruf, unklare Ursache bei allergischen Symptomen etc.) indiziert und sind zwingend durch einen versierten Allergologen zu erfolgen.

Therapie

Die glutenfreie Ernährung ist Therapie der Wahl, im Sinne eines Verzichts auf das auslösende Allergen. Ein Notfallset und ein Adrenalin-Autoinjektor sollten abgegeben werden. Eine Diätberatung kann nützlich sein. Ein anaphylaktischer Schock ist eine me­dizi­nische Notfallsituation und bedarf sofortiger Reanima­tionsmassnahmen inklusive der Gabe von intravenöser Flüssigkeit sowie von Adrenalin und ­Steroiden.

Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität

Prävalenz

Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der NCGS um eine neue (umstrittene) Entität handelt, liegen keine exakten Prävalenzzahlen vor. Zuverlässige epidemiologische Studien wurden bis anhin nicht publiziert. Es wird geschätzt, dass die Prävalenz der NCGS jedoch deutlich höher liegt als die der Zöliakie. Bei Patienten mit Reizdarm (Subtyp Diarrhoe) fand sich in 28–30% eine NCGS.

Pathogenese

Bei der NCGS führt die Einnahme von Gluten zu vorwiegend gastrointestinalen Symptomen, während serologisch zöliakiespezifische Antikörper und endoskopisch die zöliakietypische villöse Atrophie fehlen. Der genetische Hintergrund der Erkrankung ist unklar, 50% der Patienten sind HLA DQ2/DQ8 positiv, deutlich weniger als bei der Zöliakie und nur leicht mehr als in der Gesamtpopulation. Die Pathogenese bleibt ebenfalls ungeklärt. Aufgrund erhöhter Expression von Toll-like-Rezeptoren wird davon ausgegangen, dass das angeborene Immunsystem eine zentrale Rolle spielt. Gluten als kausatives Agens ist jedoch umstritten, es kommen auch Weizen-, Roggen- und Gerstenderivate infrage, sodass der Terminus Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität unter Umständen treffender wäre. Es bleibt unklar, ob es sich bei dieser Erkrankung wirklich um eine eigenständige Entität und nicht eher um eine Subform eines Reizdarmsyndroms handelt. Eine FODMAP-Diät mit Restriktion von fermentierbaren Oligo-, Di-, Monosacchariden und Polyolen ist effektiv in der Therapie des Reizdarmsyndroms. Glutenhaltige Nahrungsmittel sind üblicherweise reich an FODMAPs. ­Daher erstaunt nicht, dass gewisse Reizdarmpatienten auf eine glutenfreie Ernährung positiv ansprechen. Ein umfassender Artikel zum Thema FODMAP wurde 2014 in dieser Zeitschrift bereits publiziert [2].

Symptome

Bei Patienten, die an der NCGS leiden, treten Stunden bis Tage nach der Aufnahme von glutenhaltigen Speisen oder Getränken zöliakieähnliche Symptome im Magen-Darm-Trakt auf wie zum Beispiel abdominale Schmerzen, Blähungen und Diarrhoe. Es kommt jedoch nicht zu Schädigungen des Dünndarmes. Es wurden auch andere nicht gastrointestinale Beschwerden beschrieben wie Verhaltensänderungen, Knochen- oder Gelenkschmer­zen, Muskelkrämpfe, Gefühlsstörungen der Beine, ­Gewichtsverlust und chronische Müdigkeit (Tab. 1). In ­einer der grössten Studien aus den USA aus den Jahren 2004–2010 wurden 347 Patienten mit Hinweisen auf eine NCGS untersucht. Dabei zeigten sich bei 68% der Betroffenen Bauchschmerzen, bei 40% ­Ekzeme oder Ausschläge, bei 35% Kopfschmerzen, bei 34% Konzentrationsstörungen und bei je 33% Müdigkeit und Durchfälle, bei 22% Depressionen, bei je 20% Blutarmut, Taubheit der Beine/Arme/Finger und bei 11% Gelenkschmerzen.

Diagnostik

Die Diagnose einer NCGS ist eine Herausforderung. Es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose. Wichtige Dif­ferentialdiagnosen sind die Zöliakie sowie die Weizenallergie. Abbildung 2 zeigt einen möglichen Dia­gnosealgorithmus adaptiert nach Lundin et al. [3]. Primär sollten Zöliakie-Antikörper bestimmt sowie eine Weizenallergie abgeklärt werden. Bei hoher Vortestwahrscheinlichkeit sollte auch bei negativer Serologie eine obere Endoskopie erfolgen. Wird weder eine Zöliakie noch eine Weizenallergie nachgewiesen, kann eine erfolgreiche glutenfreie Diät (für 6–12 Monate) Hinweise auf eine NCGS liefern. Die definitive Diagnose erfolgt dann durch einen positiven Gluten-Reexpositionversuch – idealerweise verblindet oder mit mindestens drei Expositionen, wobei eine Portion eines glutenhaltigen Lebensmittels verspeist werden soll. Eine positive Zöliakieserologie schliesst eine NCGS nicht aus – insbesondere Anti-Gliadin-Antikörper zeigen sich bei bis zu 50% der Patienten erhöht; in diesem Fall bringt eine obere Endoskopie Klarheit. Schwierig wird die Dia­gnostik, wenn sich die Pa­tienten bereits bei der ersten Konsultation unter einer selbstinitiierten glutenfreien Diät befinden. Eine Zöliakie auszuschliessen wird dann diffizil, da sich Sero­logien und Endoskopie negativ respektive unauffällig zeigen können. Solche Patienten begegnen uns im klinischen Alltag aber immer häufiger. In diesen Fällen kann sich eine kurzzeitige Gluteneinnahme lohnen (Gluten-Reexposition), wobei hierfür unterschiedliche Empfehlungen zur Glutenmenge und der Zeitdauer bestehen. Die Autoren schlagen hier zum Beispiel 8–10 g Gluten pro Tag vor (was ungefähr 100 g Brot entspricht, also zwei Scheiben) für zwei Wochen.
Abbildung 2: Möglicher Abklärungsalgorithmus bei Verdacht auf eine Glutenerkrankung (adaptiert nach Lundin KEA, Alaedini A. Non-celiac gluten sensitivity. Gastrointest Endoscopy Clin N Am. 2012;22:723–34. [3]).
­*HLA-Typisierung kann sinnvoll sein, da die Negativität von HLA DQ2 und HLA DQ8 einen exzellenten negativen prädiktiven Wert für eine Zöliakie hat. AK: Antikörper; NCGS: Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität.

Überschneidung mit Reizdarmsyndrom

Eine Abgrenzung der NCGS vom Reizsarmsyndrom ist nicht trivial. Das Reizdarmsyndrom ist eine Erkrankung, die zu den funktionellen gastrointestinalen Krankheiten gehört. Nach den Rom-Kriterien kann ein Reizdarmsyndrom diagnostiziert werden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: innerhalb der letzten 12 Monate mindestens 12 Wochen lang, die nicht in Folge sein müssen, abdominelle Schmerzen oder Unwohlsein mit zwei der drei folgenden ­Eigenschaften: (1) Linderung durch Stuhlgang, (2) Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Verände­rung der Stuhlhäufigkeit, (3) Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Ver­änderung der Stuhlkonsistenz. In den Rom-Kriterien wird Schmerz als eines der Hauptsymptome eines Reizdarmsyndromes beschrieben, zudem zeigt sich eine Diarrhoe (IBS-D: «diarrhoea-predominant irritable bowel syndrome»), Obstipation (IBS-C: «constipation-predominant irritable bowel syndrome») oder beides («mixed»). Patienten mit einer NCGS beschreiben zwar auch häufig abdominelle Schmerzen, es stehen aber auch ausgeprägte Blähungen, Flatulenz und Diarrhoe im Vordergrund. Insgesamt sind jedoch die Sym­ptome einer NCGS und diejenigen eines Reizdarmes kaum voneinander zu unterscheiden.

Therapie

Die Therapie unterscheidet sich primär nicht von derjenigen der Zöliakie. Therapie der Wahl ist auch hier eine glutenfreie Diät. Es scheint jedoch, dass geringe Mengen von Gluten eher toleriert werden und somit eine glutenreduzierte Diät oft ausreichend ist. Typischerweise tritt eine Besserung der Beschwerden innerhalb weniger Tage ein, was für die Zöliakie eher ­atpyisch ist. Hier dauert es in der Regel mehrere Wochen, bis die Symptome abnehmen.

Glutenfreie Diät

Obwohl bei allen drei Glutenerkrankungen indiziert, sind Art und Ausmass der glutenfreien Ernährung je nach zugrunde liegender Entität unterschiedlich: Bei der Weizenallergie können einige Patienten Spuren von Weizen, geringe Mengen hocherhitzter Weizenprodukte oder gar Ur-Weizenarten immer noch vertragen – andere reagieren selbst auf kleinste Brotkrümel. Bei der Zöliakie muss eine glutenfreie Ernährung lebenslang und sehr strikt (max. 20 mg Gluten pro Tag, was 1/8 Teelöffel Weizenmehl entspricht) eingehalten werden, um späte Folgeschäden zu vermeiden. Im Gegensatz zur Zöliakie ist eine strikte Einhaltung der glutenfreien Ernährung bei der NCGS nicht erforderlich. Es genügt häufig schon, auf grössere Glutenquellen wie Brot zu verzichten oder auch Sauerteigbrote zu wählen. Auch für Pasta und Gebäck finden sich mittlerweile viele weizenarme Alternativen, die für diese Patienten geeignet sind.
Alternativen zur glutenfreien Diät wurden getestet, sind aber noch weit von einer Zulassung entfernt. Wenn, dann werden neue Substanzen primär als additiv verstanden, das heisst, dass kleinere Mengen Gluten in der Nahrung ohne Auswirkung bleiben könnten. Mögliche Wirkungsmechanismen sind: (1) Reduktion der Glutenexposition, (2) Hydrolyse von Gluten und (3) Blockade von HLA DQ2/DQ8. In schweren, therapierefraktären Fällen scheinen Steroide – in einer speziellen galenischen Form, sodass sie im Duodenum freigesetzt werden – eine Option. Eine Analyse von 57 behandelten Patienten zeigte ein klinisches und histopathologisches Ansprechen in den meisten Fällen.
Trotz ihrer Erfolgsgeschichte birgt eine glutenfreie ­Ernährung Risiken. Eine kürzlich veröffentlichte Studie untersuchte Blutproben von 11 239 Personen ohne und von 115 Personen mit glutenfreier Ernährung, zudem wurden Urinproben (n = 3901 und n = 32) analysiert. Die Blutwerte für Blei, Quecksilber und Cadmium waren deutlich höher bei Personen, die sich glutenfrei ernährten. Arsen zeigte sich zudem im Urin erhöht. Die Unterschiede blieben bestehen, wenn nur Nichtzöliakiepatienten untersucht wurden (101 Per­sonen mit glutenfreier Ernährung) und nach Korrektur demo­graphischer Charakteristika. Die Langzeiteffekte einer ­solchen Akkumulation von Schwermetallen ist aktuell noch unklar. Ursache für die Schwermetallzufuhr könnte der deutlich höhere Konsum von Reis und insbesondere Reismehl/-waffeln sein, wo kein Kochvorgang (Hydrolyse) dieser Substanzen erfolgt.
Weitere negative Effekte der glutenfreien Ernährung sind gut beschrieben. Hierzu zählen: (1) psychische Belastung, (2) Mangelzustände (insbesondere für Eisen, Kalzium, Thiamin, Riboflavin und Folsäure) und (3) ­inadäquate Einnahme von Ballaststoffen. Weiter sind Auswirkungen auf das Mikrobiom beschrieben: Bifidobacterium, aber auch die Butyrat produzierenden Eubacterium hallii und Anaerostipes hadrus sowie die Hydrogen produzierenden Dorea und Acetat produzierenden Blautia sind vermindert bei glutenfreier Diät.

Zusammenfassung

Zöliakie, Weizenallergie und NCGS gehören zur Gruppe der Glutenerkrankungen. Die Pathogenese der drei Entitäten ist jedoch grund­legend verschieden. Die NCGS ist ein eher neues Phänomen, wird aber in ihrer Eigenständigkeit zunehmend akzeptiert. Die glutenfreie oder -reduzierte Ernährung ist in allen drei Fällen indiziert. Liegt keine der drei Pathologien vor, kann ein Verzicht auf Gluten aus medizinischer Sicht jedoch nicht empfohlen werden. Es besteht schlicht keine Evidenz hierfür. Im Gegenteil, eine glutenfreie Ernährung kann unter Umständen negative Folgen im Zuge der veränderten Nährstoff- und Schadstoffaufnahme mit sich bringen.

Das Wichtigste für die Praxis

• Zöliakie, Weizenallergie und Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (NCGS) sind glutengetriggerte Krankheiten. Zöliakie ist autoimmun, Weizenaller­gie allergisch und NCGS weder autoimmun noch allergisch bedingt.
• Zöliakiepatienten müssen eine glutenfreie Ernährung lebenslang und sehr strikt einhalten. Im Gegensatz zur Zöliakie ist eine strikte Einhaltung der glutenfreien Ernährung bei der NCGS nicht erforderlich. Bei der Weizenallergie können einige Patienten Spuren von Weizen noch tolerieren, ­andere Patienten vertragen aber selbst kleinste Mengen nicht.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med.
Stephan Vavricka
Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie
Vulkanplatz 8
CH-8048 Zürich
stephan.vavricka[at]hin.ch
1 Sapone A, Bai JC, Ciacci C, Dolinsek J, Green PH, Hadjivassiliou M, et al. Spectrum of gluten-related disorders: consensus on new nomenclature and classification. BMC Med. 2012;10:13.
2 Wilhelmi M, Dolder M, Tutuian R. FODMAP – eine häufige Ursache unklarer abdomineller Beschwerden FODMAP. Schweiz Med Forum 2014;14(48):909-14.
3 Lundin KEA, Alaedini A. Non-celiac gluten sensitivity. Gastrointest Endoscopy Clin N Am. 2012;22:723–34.
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