Ossäre Avulsion der Patellarsehne bei Adoleszenten
Selten, aber mit erheblicher Komplikationsrate

Ossäre Avulsion der Patellarsehne bei Adoleszenten

Der besondere Fall
Ausgabe
2020/1922
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08491
Swiss Med Forum. 2020;20(1922):336-339

Affiliations
Klinik für Chirurgie/Orthopädie, Spital Davos

Publiziert am 06.05.2020

Ein 14-jähriger Patient hatte beim Hochsprung während des Absprungs ein Hyperextensionstrauma des rechten Knies erlitten und war anschliessend mit dem Bein weggeknickt. Er klagte über immobilisierende Schmerzen im rechten Knie.

Fallbericht

Anamnese

Ein 14-jähriger Patient hatte beim Hochsprung während des Absprungs ein Hyperextensionstrauma des rechten Knies erlitten und war anschliessend mit dem Bein weggeknickt. Er klagte über immobilisierende Schmerzen im rechten Knie. Vorverletzungen des Knies oder ein Morbus Osgood Schlatter bestanden nicht.

Status

Knie rechts: deutliche Weichteilschwellung und Druckdolenz im Bereich der Tuberositas tibiae mit Patellahochstand; kein signifikanter Kniegelenkserguss; Bewegungsausmass des Knies schmerzbedingt stark eingeschränkt; «single leg raise» nicht möglich; keine peripheren neurovaskulären Ausfälle.

Bildgebung

Röntgenbild des Knies anterior-posterior/lateral: dislozierte, ossäre Avulsion der Tuberositas tibiae: keine Gelenkbeteiligung (Abb. 1A).
Magnetresonanztomographie (MRT) Knie: dislozierter, extraartikulärer Ausriss der Tuberostias tibiae; Kontinuität der Patellarsehne intakt; keine ligamentären Begleitverletzungen, intakte Menisci (Abb. 1B, C).
Abbildung 1: Unfallbilder: Knie-Röntgen ap/lateral (A) und Knie-MRT (B Sagittalschnitt; C Querschnitt).

Diagnose

Ossäre Avulsion Ligamentum patallae an der proximalen Tibia analog Typ I B nach Ogden

Klassifikation

Es existieren diverse Klassifikationen für Apophysenverletzungen im Kindes- und Jugendalter. Watson-Jones klassifizierte 1976 die Avlusionsverletzungen der Tuberositas tibiae in drei Typen. Bei Apophysenverletzungen im Bereich der Tuberositas tibiae wird heute am häufigsten die Klassifikation nach Ogden verwendet. Diese Klassifikation ist eine Modifikation der Einteilung nach Watson-Jones. Hierbei wird das Ausmass der Dislokation mit den Subtypen A und B unterteilt [7]. Die Ogden-Klassifikation wurde durch Ryu et al. 1985 und McKoy et al. 2003 um weitere Typen erweitert [3, 9]. Frankl et al. führten den Subtyp C bei assoziierter Avulsion des Ligamentum patellae ein [1].
Die Klassifikation nach Ogden [7] und die Erweiterung durch Ryu und McKoy [3, 9] (Abb. 2) unterteilen:
– Ogden I A: Fraktur durch das Ossifikationszentrum der Tuberositas tibiae
– Ogden I B: Wie I A, jedoch mehrfragmentär mit Dislokation des distalen Fragments
– Ogden II A: Fraktur verläuft proximal durch Verbindung von Apophyse und Epiphyse
– Ogden II B: Wie II A, jedoch mehrfragmentär mit Dislokation des distalen Fragments
– Ogden III A: intraartikulär, Fraktur verläuft durch Apophyse und tibiale Epiphyse mit Dislokation
– Ogden III B: Wie III A, jedoch mehrfragmentär mit Dislokation des distalen Fragments
– Ogden IV: Lösung der gesamten tibialen Epiphyse mit Apophyse ohne zusätzliche Fraktur [9]
– Ogden V: zusätzlich epi-metaphysären Fraktur der proximalen Tibia (Salter-Harris IV) [3]
Abbildung 2: Klassifikation der Apophysenverletzungen im Bereich der Tuberositas tibiae nach Ogden [7] und Erweiterung durch Ryu und McKoy [3, 9].

Therapie

Bei unserem Patienten erfolgte eine offene Reposition und interne Fixation bei makroskopisch und radiologisch korrekter Lage des Avulsionsfragments mit zwei von ventral eingebrachten, mit Unterlegscheiben bewehrten, 4 mm Spongiosaschrauben. Zusätzlich wurde eine Augmentation des Ligamentum patellae mit ­einem Fadenanker an der proximalen Tibia vorgenommen. Intraoperativ hat sich klinisch eine regelhafte Anspannung des Ligamentum patellae gezeigt. Die Nachbehandlung erfolgte im «ACL-Brace» mit stufenweiser Zunahme des «range of motion» über sechs Wochen sowie Teilbelastung.

Verlauf

In der klinisch-radiologischen Kontrolle sechs Wochen postoperativ war eine Knieflexion bis 90° gut möglich, der Patient berichtete jedoch über eine deutliche Kraftminderung der Quadricepsmuskulatur. Die Patellarsehne war bei Anspannung der Quadriceps­muskulatur in voller Länge und Breite kräftig palpabel. Radio­logisch präsentierte sich neben der zunehmenden ­Konsolidierung der Tuberositas tibiae zusätzlich ein neu aufgetretenes Knochenfragment im proximalen Verlauf der Patellarsehne. Differentialdiagnostisch bestand eine Verkalkung der Patellarsehne, die aufgrund der scharfkantigen Darstellung aber unwahrscheinlich erschien.
Im weiteren Verlauf war der Patient bei zunehmender Kräftigung der Quadricepsmuskulatur und freiem Bewegungsausmass des Knies mit Ext/Flex 0/0/130° unter intensiver Physiotherapie schmerzfrei. Er hatte ein hinkendes Gangbild und empfand ein Bewegungshindernis und «Schnappen» im Knie. Die Patellarsehne war im Seitenvergleich ohne sichtbaren Patellahochstand weiterhin straff palpabel. Der «single-leg-raise» war schmerzfrei gegen die Schwerkraft, jedoch nicht gegen Wiederstand möglich (M3 nach Janda).
In der MR- und computertomographischen Diagnostik bestätigte sich eine sekundäre Avulsion der Patellarsehne bei vollständiger Konsolidation der ossären Avulsion im Bereich der Tuberositas tibiae (Abb. 3).
Abbildung 3: Ergänzende Diagnostik mit CT und MRT.
Zehn Wochen nach der primären Osteosynthese erfolgte eine Revision mit Entfernung der Spongiosa­schrauben, transossärer Reinsertion der Patellarsehne mit drei Fadenankern und einer Entlastung mittels McLaughlin-Cerclage. Es folgte die erneute Nachbehandlung für sechs Wochen im «ACL-Brace» mit stufenweiser Steigerung des «range of motion» sowie Teilbelastung.
Sechs Wochen nach der Revision war der Patient beschwerdefrei und der «single leg raise» probemlos ­gegen Widerstand möglich (M4 nach Janda). Zwölf ­Wochen postoperativ wurde die Metallentfernug der McLaughlin-Cerclage bei klinisch-radiologisch konsolidierter Tuberositas tibaie durchgeführt. Das Gangbild war hinkfrei bei freiem Bewegungsumfang von Ext/Flex 5/0/130° und bei regelgerechter Führung der Beinachsen sowie der Patella. Die Muskelkraft war vollumfänglich vorhanden (M5). Der Patient konnte zunehmend mit sportlichen Aktivitäten beginnen. Zwölf Monate nach dem Trauma zeigte der Patient bei der funktionellen Testung symmetrische Werte in der Sprungtestung sowie der isokinetischen Testung der Schnell- und Maximalkraft.

Diskussion

Avulsionsverletzungen der Tuberositas tibiae sind seltene Verletzungen und betreffen eher ältere Kinder und Adoleszente [7].
Apophysen sind sekundäre Ossifikationszentren, die im zweiten Lebensjahrzehnt durch enchondrale Ossifikation im Bereich von Sehnenansätzen entstehen und im Verlauf des Wachstums mit den angrenzenden Knochen fusionieren. So auch an der Tuberositas tibiae, an der das Ligamentum patellae ansetzt. Besonders gegen Ende der Apophysenfusion ist diese besonders vulnerabel, da die hohe Elastizität des kindlichen Knorpels bereits verloren, die Festigkeit des erwach­senen Knochens jedoch noch nicht erreicht ist. Dadurch kommt es zu einer altersabhängigen verminderten mechanischen Belastbarkeit der Apopyhsen­region [5].
Die Avulsionsverletzung der Tuberositas tibiae ist mit einer Inzidenz von 0,4–2,7% sehr selten und macht ­weniger als 1% aller Apopyhsenverletzungen aus [4]. In dem systemischen Review von Pretell-Mazzini 2016 zeichnet sich jedoch eine Zunahme der Avulsionsverletzungen der Tuberositas tibiae in den letzten Jahren ab [8]. Die Verletzung tritt überwiegend bei sportlichen Aktivitäten auf, und die inadäquate Behandlung kann zu funktionellen Beeinträchtigungen im Alltag führen. Bei der aktuellen Datenlage gibt es wenig Erkenntnisse über Begleitverletzungen, Therapie, Komplika­tionen und Langzeitergebnisse.
97% der Apopyhsenverletzungen der proximalen Tibia treten bei männlichen Patienten im Alter zwischen 13 und 16 Jahren auf [8]. Die Geschlechterverteilung wird auf die erhöhte Muskelmasse, hormonelle Faktoren ­sowie geschlechtsspezifische Sportarten zurückgeführt [6, 7].
Zwei Verletzungsmechansimen führen durch eine plötzliche Zugbelastung aufgrund einer ruckartigen, maximalen Muskelspannung des Musculus (M.) quadriceps femoris zum Ausriss der Tuberositas tibiae [7, 8]:
1. Kräftige Kontraktion des M. quadriceps femoris bei voller Knieextension während eines Absprungs
2. Schnelle passive Flexion der Knies gegen den angespannten Qudricepsmuskel während dem Landen nach einem Sprung oder Sturz
Der häufigste Frakturtyp der Tuberositas tibiae mit >50% sind Typ-III-Verletzungen, die aufgrund der in­traartikulären Beteiligung öfter Begleitverletzungen mit sich führen können [8]. In der Literatur sind verschiedene Begleitverletzungen beschrieben [8]: Avulsion der Patellarsehne von der abgerissenen Tuberositas tibiae [1, 4], ebenso Ausriss der Quadricepssehne [4], Meniskuläsion [2], Ausriss des vorderen Kreuzbands und Innenbandruptur [2] sowie ein präoperatives Kompartmentsyndrom durch Ruptur der Arteria recurrens tibialis anterior [8]. Mosier et al. konnten 2004 sogar in 15,7% der Fälle eine Ruptur des Strecksehnenapparates nachweisen, davon waren Zweidrittel, also insgesamt 10,5% aller Fälle, eine Avulsion der Patellarsehne [4].
Um die zugrundeliegende Verletzung zu verstehen, ist neben der konventionellen Röntgenaufnahme und der klinischen Untersuchung die exakte Anamnese des Unfallhergangs wichtig. Für eine genauere Bilanzierung der Verletzung und einen Ausschluss von Begleitverletzungen, insbesondere Kniebinnenläsionen, ist eine Schnittbilddiagnostik mit MRT oder eine intraoperative Arthroskopie dringend empfohlen. Ziel der Therapie ist eine vollständige Wiederherstellung des Streckapparates sowie der Gelenkfläche.
Die Avulsionen der Tuberositas tibiae benötigen in 88% der Verletzungen eine osteosynthetische Versorgung [8]. Ausnahmen sind undislozierte Avulsionsverletzungen (meist Typ I A), die eine Immobilisation in ­einem Tutor in Extension für vier bis acht Wochen ­erhalten und einer strengen klinisch-radiologischen Kontrolle bedürfen [8, 10]. Für alle weiteren Typen (Typ I B–V) bei Dislokation >2–3 mm und mit intraartikulärer Beteiligung ist die Therapie der Wahl bei 98% der Fälle eine offene ­Reposition oder arthroskopisch assistierte Gelenks­rekonstruktion, da bei Dislokation häufig das Periost eingeschlagen ist. Dies verhindert eine korrekte anatomische Reposition und indiziert eine interne Fixation der Fraktur [3, 4, 8, 10]. Es gibt verschiedene interne Fixationen, die alle mit ähnlichem Erfolg ­angewendet werden: Spongiosschrauben, Kirschner-Drähte, Nahtanker, Zuggurtung oder Kombinationen [4, 8]. Anschliessend ist sowohl bei konservativer als auch bei operativer Therapie ein intensives Aufbautraining der Quadricepsmuskulatur sowie der Kniegelenkbeweglichkeit notwendig [10]. Die Daten für Langzeit-Ergebnisse nach osteosynthetischer Versorgung sind rar und von geringer Evidenz, bei adäquater und rechtzeitiger Behandlung wird mit 99% Frakturheilung ein gutes Resultat erreicht, der Heilungsprozess ist jedoch langwierig [8].
Der systemische Review von Pretell-Mazzini et al. konnte 2016 zeigen, dass 98% der Patienten im Mittel nach 22 Wochen ein freies Bewegungsausmass erreichen. Ebenfalls 98% erreichen ihr ursprüngliches Aktivitätsniveau nach im Mittel 29 Wochen. Der Review zeigt jedoch auch eine Komplikationsrate von insgesamt 29% [8]. Dies spiegelt die Schwere der Verletzung und die Schwierigkeit der korrekten Behandlung wider. In der Literatur gibt es keine Korrelation zwischen Frakturtyp, Behandlung, Alter des Patienten, Weichteilverletzungen oder positiver Anamnese für Osgood-Schlatter und dem Wiedererlangen des ursprünglichen Aktivitätsniveaus und Bewegungsumfangs [4].
Retrospektiv haben wir die Verletzung unseres Patienten initial unterschätzt. Dass bereits zu Beginn eine Avulsion des Ligamentum patellae vorlag, analog Typ C nach Frankl et al., ist möglich [1].
Als häufigste postoperative Komplikationen sind beschrieben: Bursitis (56%), persistierende Schmerzen im Bereich der Tuberositas tibiae (18%), Refrakturen (6%), Genu recurvatum durch vorzeitigen Fugenschluss (4%), Beinlängendifferenz (5%) und Verkalkung der Patellarsehne [4, 7, 8].
Ein Zusammenhang der Avulsionsverletzungen an der proximalen Tibia mit dem Morbus Osgood-Schlatter wird vermutet, ist jedoch bioptisch nie nachgewiesen worden [8]. 23% der Patienten mit Avulsiosnverletzung der Tuberositas tibiae hatten bereits vor dem Trauma eine entsprechende Symptomatik bei Osgood-Schlatter [8]. Es ist jedoch unklar, wie viele Patienten mit ­Osgood-Schlatter eine Fraktur entwickeln. Eine beweisende Studienlage gibt es hierfür nicht, die Patienten mit Osgood-Schlatter sollten aber über die erhöhte ­Gefahr einer Fraktur aufgeklärt werden [8].

Das Wichtigste für die Praxis

• Apophysenverletzungen der Tuberositas tibiae sind seltene, aber schwere Verletzungen, die vor allem bei männlichen Adoleszenten im Rahmen sportlicher Aktivitäten, insbesondere bei Sprungsportarten, auftreten.
• Begleitverletzungen sollten mit MRT oder intraoperativer Arthro­skopie ausgeschlossen werden.
• Dislozierte Avulsionen der Tuberositas tibiae sollten frühzeitig osteo­synthetisch versorgt werden. Therapie der Wahl ist die offene Reposition und interne Fixation mit Schraubenosteosynthese.
• Eine frühzeitige Metallentfernung ist bei Gefahr eines vorzeitigen Fugenschlusses aufgrund der Apophyseodesenwirkung empfehlenswert.
• Apophysenverletzungen haben bei korrektem Erkennen und adäquater Behandlung eine gute Prognose.
Die Autoren danken dem Patienten für die Mitarbeit und Herrn Dr. med. Beat Walser und dem Team der Radiologie Südost, Institut für ­Radiologie Spital Davos, für die radiologischen Abbildungen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Anna Genthner, dipl. Ärztin
Spital Davos
Promenade 4
CH-7270 Davos
chir-ortho[at]spitaldavos.ch
 1 Frankl U, Wasilewski SA, Healy WL. Avulsion fracture of the tibial tubercle with avulsion of the patellar ligament. Report of two cases. J Bone Joint Surg Am. 1990; 72(9):1411–3.
 2 Lipscomb AB, Gilbert PP, Johnston RK, Anderson AF, Snyder RB. Fracture of the tibial tuberosity with associated ligamentous and meniscal tears. A case report. J Bone Joint Surg Am. 1984;66(5):790–2.
 3 McKoy BE, Stanitski CL. Acute tibial tubercle avulsion fractures. Orthop Clin North Am. 2003;34(3):397–403.
 4 Mosier SM, Stanitski CL. Acute tibial tubercle avulsion fractures. J Pediatr Orthop. 2004;24(2):181–4.
 5 Nehrer S, Huber W, Dirisamer A, Kainberger F. Apophyseal damage in adolescent athlete. Radiologe. 2002;42(10):818–22.
 6 Nowack K, Schlickewei W. Apophysenverletzungen. Unfallchirurg. 2013;116(12):1069–75.
 7 Ogden JA, Tross RB, Murphy MJ. Fractures of the tibial tuberosity in adolescents. J Bone Joint Surg Am. 1980;62(2):205–15.
 8 Pretell-Mazzini J, Kelly DM, Sawyer JR, Esteban EM, Spence DD, Warner WC Jr, Beaty JH. Outcomes and Complications of Tibial Tubercle Fractures in Pediatric Patients: A Systematic Review of the Literature. J Pediatr Orthop. 2016;36(5):440–6.
 9 Ryu RK, Debenham JO. An unusual avulsion fracture of the proximal tibial epiphysis. Case report and proposed addition to the Watson-Jones classification. Clin Orthop Relat Res. 1985;(194):181–4.
10 Schneidmueller D, Gercek E, Lehnert M, Walcher F, Marzi I. Proximal tibial fractures. Unfallchirurg. 2011;114(5):396–402.