Sagittale Balance: Indikation für Wirbelsäulenoperationen?
Schlaglicht der Schweizerischen Gesellschaft für Neurochirurgie

Sagittale Balance: Indikation für Wirbelsäulenoperationen?

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2020/1516
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08501
Swiss Med Forum. 2020;20(1516):256-258

Affiliations
Spinale Chirurgie / Chirurgie spinale, Spitalzentrum Biel / Centre hospitalier Bienne, Biel-Bienne

Publiziert am 07.04.2020

Die sagittale Balance ist ein massgebliches Kriterium für Operationen an der ­Wirbelsäule. Ausserhalb der spinalen Chirurgie ist die Thematik aber mitunter noch wenig bekannt.

Einführung

Die typischen Symptome werden in der Sprechstunde wöchentlich mehrmals geklagt: Nach wenigen Minuten Stehen oder Gehen kommt es zu lumbalen Rückenschmerzen, die abnehmen, sobald sich Patienten mit den Händen auf einer Tischplatte, auf Gehstöcken, auf dem Rollator oder einem Einkaufswagen abstützen. Hingegen wähnen sich die Patienten im Sitzen oder Liegen klassischerweise beschwerdefrei. Derartige positions- und belastungsabhängige Rückenschmerzen weisen auf muskuläre Ermüdungsschmerzen hin. Klinisch und radiologisch lässt sich meistens eine gestörte sagittale Balance feststellen.

Sagittale Balance

Zustande kommt eine gestörte sagittale Balance, wenn die fein aufeinander abgestimmten Krümmungen der Wirbelsäule (Lordose der Lenden- [LWS] und Halswirbelsäule [HWS], Kyphose der Brustwirbelsäule [BWS]) sich infolge Trauma, früherer Rückenoperationen, ­vorbestehender idiopathischer Skoliose, Degeneration oder Muskelschwäche so verändern, dass die Wirbelsäule tendenziell nach vornüber kippt. Das aufrechte Stehen und Gehen bewahren in dieser Situation unbewusst ablaufende muskuläre Kompensationsmechanismen: Es kommt zu gegenläufigem Aufklappen der kranial oder kaudal gelegenen Wirbelsäulenabschnitte, Retrolisthesen, Retroversion der Pelvis und im fort­geschrittenen Stadium zu flektierten Hüft- und Kniegelenken. Somit stellt sich eine Körperhaltung ein, die den energetisch günstigen sogenannten «cone of economy» durchbricht (Abb. 1) [1].
Abbildung 1: A) Eine physiologische Form der Wirbelsäule ermöglicht das aufrechte Stehen innerhalb des sogenannten «cone of economy» von Dubousset, was ein ­Minimum an Muskelarbeit erfordert. B) bei einer Störung der sagittalen Balance ist ­aufrechtes Stehen und Gehen zwar weiterhin möglich, aber infolge der energetisch ­aufwändigen Kompensationsmechanismen wie Retroversion des Beckens, Hüft- und Knieflexion kommt es tieflumbal und in den Oberschenkeln zu muskulären Ermüdungsschmerzen. (Illustration von A. Prandstätter. Mit freundlicher Genehmigung modifizert nach einer Abbildung von Kenneth X. Probst, Xavier­Studio, und nach Ames PC, et al. Impact of spinopelvic alignment on decision making in deformity surgery in adults: a review. J Neurosurg Spine. 2012;16:547–64.)
Im Alter kann diese Haltung angesichts des Muskel­abbaus ab 60 Jahren und der verminderten Leistungsfähigkeit der verbliebenen Muskeln zu den ebengenannten muskulären Ermüdungsschmerzen führen [2, 3]. Im stehenden seitlichen LWS-Röntgen erkennt man eine gestörte sagittale Balance an der abgeflachten Lordose der LWS und der kompensatorischen Re­troversion der Pelvis: Das Promontorium nimmt dadurch eine Position dorsal der Hüftgelenke ein (Abb. 2).
Abbildung 2: Seitliches Röntgen im Stehen einer gesunden und einer degenerierten Lendenwirbelsäule (LWS). A) Im physiologischen Zustand verläuft die Lordose der LWS reziprok und harmonisch zur Ausrichtung des Sakrums im Becken. B) Im fortgeschritten degenerierten ­Stadium ist die Lordose der LWS aufgehoben. Kompensatorisch ist das Becken retrovertiert. Meistens verlagert sich dadurch das Promontorium weit hinter die Flucht der Hüftgelenksköpfe. Der Autor dankt PD Dr. med. Anna Hirschmann, Institut für Radio­logie und Nuklearmedizin, ­Universitätsspital Basel, für die Bilder.
Die sagittalen Kurven der HWS, BWS und insbesondere LWS stehen im jungen Erwachsenenalter in enger ­Beziehung zu der im Becken fixierten Ausrichtung des Sakrums. Da die Ausrichtung des Sakrums ab dem Erwachsenenalter stabil bleibt, kann man daraus zeit­lebens auf die physiologische LWS-Lordose in jungen Jahren zurückschliessen [4].
Das Konzept der sagittalen Balance wurde in den frühen 90er Jahren zunächst von französischen Autoren beschrieben und ist in der spinalen Chirurgie seit 10–15 Jahren für die Diagnostik und Therapieplanung etabliert [1, 5]. In anderen Fachkreisen dürfte die sagittale Balance bisher nicht im selben Ausmass beachtet worden sein. Der chirurgische Ansatz liegt darin, durch geeignete Korrektur- und Stabilisationstechniken das sagittale Profil der altersentsprechenden Norm anzugleichen und damit die schmerzhaften Kompensationsmechanismen zu entlasten. Da Störungen der sagittalen Balance in zirka 75% der Fälle mit (degenerativen) Skoliosen, also Deformitäten in der koronalen Ebene, einhergehen, werden die beiden in Kohortenstudien meistens unter dem Sammelbegriff «adult spinal deformity» (ASD) zusammengefasst und ausgewertet [6]. Gut belegt ist, dass Patienten mit ASD ihre Lebensqualität tiefer einstufen als Gesunde und Patienten mit chronischen Krankheiten [7, 8] und dass die operative Dekompression und korrigierende Stabilisation korrelierende Rücken- und Beinschmerzen besser zu lindern vermag als die konservative Therapie [9]. Dabei fällt aber auf, dass bei Patienten mit einer isolierten Störung der sagittalen Balance die Rückenschmerzen postoperativ eher persistieren als bei Pa­tienten mit gleichzeitig vorhandenen Skoliosen [6]. Aber gerade im Alter ist nicht jede formal positive ­sagittale Balance schmerzhaft und nicht jede ­schmerzhafte positive sagittale Balance muss maximal korrigiert werden. Dieser Grundsatz hilft bei der Operationsplanung für Patienten, deren führende Symptomatik von einer assoziierten Spinalkanal- oder Foraminalstenose ausgeht. Dabei gilt: Je älter die Pa­tienten sind, desto partieller sollte die aufgehobene LWS-Lordose wiederhergestellt werden, um den bestmöglichen Nutzen zu gewährleisten [10, 11]. Die sagittale Balance ist indessen ein Zusammenspiel des gesamten muskuloskelettalen Systems, insbesondere der wirbelsäulennahen muskulären Verstrebungen. Vermögen diese zum Beispiel bei Sarko­penie oder ­neurodegenerativen Erkrankungen eine korrigierte Wirbelsäulenform nicht zu stabilisieren, kommt es zu Pseudarthrosen, Anschlusskyphosen und Korrekturverlusten. Ähnliches geschieht, wenn sich Patienten nach einer Operation mental nicht in die neue Körperhaltung einfinden können, sondern in verinnerlichte Haltungsmuster zurückfallen, oder wenn Kontrakturen der Bauchmuskeln oder der ischio­kruralen Muskulatur keine neue Körperhaltung zulassen. Um die bisher hohen Komplikations- und Revisionsraten dieser mitunter grossen Eingriffe an der Wirbelsäule zu vermindern [12, 13], beziehen sich neuere Messwinkel und Berechnungen auf Röntgenaufnahmen der gesamten Wirbelsäule und orientieren sich für die Operationsplanung am Soll-Wert und der physiologischen Ver­teilung der LWS-Lordose. Es hat sich nämlich herauskristallisiert, dass für ein erfolgreiches postoperatives Resultat nicht einfach der Gesamtwinkel der Lordose eine Rolle spielt, sondern wie dieser Winkel über die einzelnen Segmente fragmentiert ist. Zum Beispiel sollte der Winkel zwischen L4 und S1 50–80% der gesamten LWS-Lordose ausmachen [14, 15].
Ferner wird die Erhebung eines präoperativen «frailty index» vorgeschlagen, um das Behandlungsrisiko anhand des Allgemeinzustandes und der Komorbiditäten des Patienten abschätzen zu können [16]. Die chirur­gischen Herausforderungen und patientenbezogenen Hürden schmälern indessen nicht den Stellenwert, der dem Konzept der sagittalen Balance in der spinalen Chirurgie heute zukommt. Dies gilt auch für die Planung von kurzstreckigen Dekompressionen und Stabilisationen, bei denen eine segmentale Wiederherstellung der Lordose die Entwicklung hin zu einem iatrogenen «flat back»-Syndrom verhindern und das Risiko für Anschluss­segmentdegenerationen mindern kann [17, 18]. Denn falls der kurzstreckige Korrekturwinkel zu gering ausfällt, klappen benachbarte noch mobile Segmente kompensatorisch auf und es kommt zu Retrolisthesen, was die Anschlussdegeneration der benachbarten Segmente akzeleriert und das Risiko für Folgeoperationen nach wenigen Jahren erhöht.

Beurteilung

Auch wenn viele betagte Patienten mit einer «rechnerisch» eindeutigen Indikation zur Korrektur für eine komplexe Operation nicht mehr infrage kommen, zeigt die Erfahrung aus der Sprechstunde, dass es für Patienten trotzdem hilfreich ist, den Ursprung ihrer Beschwerden zu verstehen und mit Gehstöcken, Rollator oder häufiger Sitzpausen die Belastung des Musculus erector spinae zu reduzieren. Angesichts einer re­striktiven Patientenselektion ist dies gerade für ältere Patienten eine gängige Empfehlung. Somit ist es immer indiziert, in der Beratung und Planung der Therapie die sagittale Balance zu berücksichtigen, aber nicht immer ergibt sich daraus eine Indikation für eine Wirbelsäulenoperation.
Ein Übersichtsartikel zu sagittaler Balance und Instabilität folgt in einer der nächsten Ausgaben des Swiss Medical Forum.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med. Gregory Jost
Chefarzt Spinale Chirurgie / Médecin-chef Chirurgie spinale
Spitalzentrum Biel / Centre hospitalier Bienne
Vogelsang 84
CH-2502 Biel-Bienne
gregory.jost[at]szb-chb.ch
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