COVID-19: Therapieentscheidungen und Palliative Care
Advance Care Planning

COVID-19: Therapieentscheidungen und Palliative Care

Aktuell
Ausgabe
2020/1718
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08518
Swiss Med Forum. 2020;20(1718):280-281

Affiliations
a Abteilung Palliative Care, CHUV, Lausanne; b Klinik für Palliative Care, IOSI-EOC, Bellinzona; c Präsidentin palliative ch, Bern; d Professur für Geriatrische Palliative Care, CHUV, Lausanne

Publiziert am 21.04.2020

Das vorrangige Ziel von «Advance Care Planning» im Rahmen von COVID-19 ist es, von den Patienten nicht erwünschte Spitalaufenthalte und Intensivbehandlungen zu vermeiden, um die Gesundheitsversorgung nicht unnötig zu belasten.

Advance Care Planning und ­medizinische Indikation

Das vorrangige Ziel von «Advance Care Planning» (ACP) im Rahmen von COVID-19 ist es, von den Patient(inn)en nicht erwünschte Spitalaufenthalte und Intensivbehandlungen zu vermeiden, da diese die Gesundheitsversorgung unnötig belasten und die Notwendigkeit von Rationierungen verschärfen würden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es von grösster Bedeutung, die Präferenzen der Patient(inn)en in ­einem ­Notfalldokument (z.B. die Schweizer Version der Ärzt­lichen Notfallanordnung, ÄNO [1]) klar zu ergründen und zu dokumentieren.
Patient(inn)en, die derzeit von Palliative-Care-Teams betreut werden, kommen im Allgemeinen nicht für eine intensivmedizinische Behandlung im Falle einer COVID-19-Erkrankung in Frage. Dies gilt auch für die meisten Patient(inn)en in Alters- und Pflegeheimen, entsprechend den kürzlich veröffentlichten Triage-Kriterien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) [2].
Mehrere Palliativ- und Pflegeheimpatient(inn)en haben bereits Patientenverfügungen erstellt. Es ist wichtig, die Wünsche der Patient(inn)en zu dokumentieren und die Dokumente für eine akute Situation verfügbar zu machen. Urteilsfähige Patient(inn)en sollten über das Risiko einer COVID-19-Infektion informiert und nach ihren Wünschen befragt werden, die in den ­Patientenakten zu dokumentieren sind.
Die Bewohner/Patienten und ihre Familien sollten wohlgemerkt auch darüber informiert werden, dass, selbst wenn sie im Falle einer COVID-19-Erkrankung den Wunsch nach Verlegung ins Spital und intensivmedizinischen Massnahmen äussern, dieser Wunsch im Falle einer fehlenden medizinischen Indikation, insbesondere in einer Situation der Rationierung knapper Ressourcen, voraussichtlich nicht umgesetzt werden kann. Patientenverfügungen, die eine «Maxi­mal­therapie» fordern, sind nach geltendem Schweizer Recht nicht rechtsverbindlich und können bei fehlender medizinischer Indikation keine Therapie einfordern.
Die klinischen Optionen für diese Patient(inn)en im Falle einer COVID-19-Krankheit sind die folgenden:
– Wenn der Verlauf gutartig ist, erhalten sie weiterhin die übliche Behandlung und Betreuung.
– Bei schwerem Verlauf, der auch mit einer Ver­zögerung von mehreren Tagen einsetzen kann, ­entscheidet die behandelnde Ärztin / der behandelnde Arzt über die medizinische Indikation zur Spitaleinweisung mit kurativer Absicht (bei Palliativ- oder Pflegeheimpatient[inn]en wird dies nur für eine kleine Minderheit der Fall sein). Der Pa­tient / die Patientin hat natürlich das Recht, die Ver­legung abzulehnen.
– Wenn die medizinische Entscheidung darin besteht, Palliative Care anzubieten, dann ist zu entscheiden, ob diese in einem Spital oder zuhause im Pflegeheim stattfinden soll. Dies wird abhängen:
• von der Schwere und Komplexität der Symptome der Patientin / des Patienten und dem zusätz­lichen Pflegebedarf;
• von der Möglichkeit des Pflegeheimes / ambulanten Settings, eine qualitativ hochwertige Palliativbetreuung zu gewährleisten (Präsenz von Pflegenden? Mobiles Palliative-Care-Team verfügbar?);
• von der Verfügbarkeit von Spitalbetten bzw. Betten auf Palliativstationen;
• vom Wunsch der Patientin / des Patienten.
Ein grosser Vorteil von Entscheidungen auf der Grundlage der medizinischen Indikation, insbesondere im Zusammenhang mit der Rationierung von Ressourcen, besteht darin, dass die Last der Entscheidung von der Familie und der vertretungsberechtigten Person genommen wird, wodurch das Risiko eines komplizierten Trauerverlaufs verringert wird. In allen anderen Fällen sind das ACP und die gemeinsame Ent­scheidungsfindung zuverlässige Instrumente zur Entlastung von Patient(inn)en und ihren Familien. Die psychosoziale und spirituelle Betreuung der Patient(inn)en und insbesondere ihrer Angehörigen ist in diesen Situationen von grösster Bedeutung (siehe auch die Dokumente von palliative ch und auf der neu eingerichteten Website für Spiritual Care bei COVID-19 [3]).

Die Rolle der Palliative Care bei Triage-­Entscheidungen aufgrund von COVID-19

Die COVID-19-Pandemie wird auf ihrem absehbaren Höhepunkt wahrscheinlich die Kapazität des Schweizer Gesundheitssystems übersteigen, insbesondere was die Betten auf Intensivstationen betrifft (die ­Aufenthalte auf den Intensivstationen dauern in der Regel länger als eine Woche). Wenn nicht schnell eine wirksame Behandlung gefunden wird, müssen Triage-Entscheidungen über den Zugang zu den Spitälern und Intensivstationen getroffen werden. Um die ­meisten Leben zu retten, sollte die Triage diejenigen Patient(inn)en bevorzugen, welche mit der grössten Wahrscheinlichkeit einen Nutzen durch die Intensivbehandlung erfahren werden.
Ein Rahmen für diese Entscheidungen wurde kürzlich von der SAMW veröffentlicht (siehe oben). Darauf ­aufbauend wurden lokale Richtlinien entwickelt, z.B. im Tessin und in der Waadt. Es liegt weder im ­Bereich noch in der Kompetenz der Palliative-Care-Spezialist(inn)en, weitere Triage-Kriterien zu den ­bereits bestehenden hinzuzufügen. Vielmehr soll in ­diesem Dokument definiert werden, welchen Beitrag die Palliative Care zu einer besseren Patientenver­sorgung in einem solchen Triage-Kontext leisten kann. Auf der Grundlage der bisherigen klinischen ­Erfahrung mit COVID-19, insbesondere im Tessin, können die folgenden allgemeinen Grundsätze aufgestellt werden:

Alle sterbenden COVID-19-Patient(inn)en sollten Zugang zu Palliative Care haben

Jede Triage-Richtlinie, sei es auf lokaler, kantonaler oder Bundesebene, muss die zentrale Rolle der Palliative Care für diejenigen Patient(inn)en, denen nach der Triage-Entscheidung keine intensivmedizinischen Massnahmen angeboten werden können, sowie für ­deren Angehörige und die beteiligten Gesundheitsfachpersonen berücksichtigen. Es ist ein ethischer ­Imperativ, allen Patient(inn)en, die wahrscheinlich an COVID-19 sterben werden, eine qualitativ hochwertige Palliative Care anzubieten, insbesondere angesichts ­ihrer hohen Symptomlast (Dyspnoe, Angst usw.).

Triage sollte vermieden werden durch Klärung der Behandlungsziele mit den Patient(inn)en und/oder ihren Stellvertretern, v.a. in Pflege­heimen.

Siehe oben für Einzelheiten.

Bei komplexen Triage-Entscheidungen sollte eine Palliativärztin hinzugezogen werden

Komplexe Triage-Entscheidungen sollten nie von einer einzelnen Person getroffen werden. Sie sollten durch ein interdisziplinäres Team, bestehend z.B. aus einer Intensivmedizinerin, einer Internistin und einer Pallia­tivmedizinerin, gefällt werden.

Die psychosoziale und spirituelle Betreuung von Patient(inn)en, Angehörigen und Gesundheitsfachpersonen ist von grösster Bedeutung

Die Belastungen durch die Triage sind vielfältig: Gefühle des Verlassenwerdens seitens der Patient(inn)en und der Angehörigen (was zu komplizierten Trauerverläufen führen kann), «moral distress» für die Gesundheitsfachpersonen (was zu Burnout führen kann). Die Verfügbarkeit von qualifizierter psychosozialer und spiritueller Unterstützung, insbesondere auch Trauerbegleitung, ist von entscheidender Bedeutung.
Palliative ch
Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung
Bubenbergplatz 11
CH-3011 Bern
info[at]palliative.ch
1 Bundesamt für Gesundheit und palliative ch: Gesundheitliche Vorausplanung mit Schwerpunkt «Advance Care Planning» – ­Nationales Rahmenkonzept für die Schweiz. Online unter: https://www.pallnetz.ch/cm_data/Rahmenkonzept_Gesundheitl_Vorausplanung_DE_1.pdf