Kurz und bündig
Journal Club

Kurz und bündig

Kurz und bündig
Ausgabe
2020/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08669
Swiss Med Forum. 2020;20(4950):714-717

Publiziert am 01.12.2020

Damit Sie nichts Wichtiges verpassen: unsere Auswahl der aktuellsten Publikationen.

Fokus auf ... IgG4-Krankheit

– Histologie: lymphoplasmazelluläre, IgG4-positive Infiltrate und ­Fibrose, oft mit Gewebe-Eosinophilie und einer vernarbenden Phlebitis
– Serum: IgG4-Spiegel bei fast allen Patient(inn)en erhöht
Manifestation: systemische Erkrankung, aber initial oft nur ein einzelnes Organ betroffen
– Klinik: Pankreatitis, Grossgefässvaskulitis inklusive Koronaritis, Nephropathie (tubulointerstitielle Nephritis, membranöse Glomerulonephritis), Sialadenitis, fibrosierende Thyreoiditis (Riedel), retroperitoneale Fibrose (Ormond) u.a.m.
– Therapie: Glukokortikoide, allenfalls B-Zell-Depletion (Anti-CD20, z.B. ­Rituximab)
N Engl J Med. 2020, doi.org/10.1056/NEJMcpc2002415, verfasst am 01.11.2020.

Praxisrelevant

Wirksamkeit nicht medikamentöser COVID-19-Prävention (1)

Die Umsetzung dieser Massnahmen hat es nach den eher sorglosen Sommermonaten – wie die Erkrankungszahlen zeigen – schwierig. Eine mathematische Modellierung untersuchte die Effekte von Schul- und Arbeitsplatzschliessungen, dem Verbot öffentlicher ­Anlässe, der Limitierung von Gruppenkontakten auf <10 Personen, der Anordnung, zuhause zu bleiben, und der Restriktionen der Mobilität auf die Infektionsrate mit Verwendung von Daten aus 131 Ländern. Alle diese Massnahmen führten zu einer Verminderung der Übertragungsrate, allerdings war der Effekt erst nach ein bis sogar drei Wochen evident. Die gleiche Latenz gilt übrigens auch für das Aufheben einer Massnahme.
Da wir Schul- und Firmenschlies­sungen verhindern möchten, ist Maskentragen als zusätzliche – hier noch nicht mit untersuchte, aber als erfolgreich dokumentierte – Massnahme umso wichtiger.
Lancet Infect Dis. 2020, doi.org/10.1016/S1473-3099(20)30785-4.
Verfasst am 24.10.2020.

Wirksamkeit nicht medikamentöser COVID-19-Prävention (2)

Kurz und bündig wurde schon auf den ansehnlichen Ausstoss von SARS-CoV-2 beim Sprechen hingewiesen [1]. Die Menge ist linear mit der Dezibelzahl korreliert: Je lauter, desto mehr.
Dies wird – unterstützt durch die Autorität des Leiters der US-Covid-19-Taksforce, A. S. Fauci – nun nochmals betont [2]. Unter anderem ist es unsinnig, wenn die vortragende oder aus anderen Gründen am Mikrofon stehende Person als einzige die Maske abzieht.
Die vielen und oft in Vielpersonen­büros angesiedelten Callcenter und Kundenservicezentren sollten dies berücksichtigen und Sie bei Ihrer Praxiskommunikation und den Telefonaten auch.
1 Swiss Med Forum. 2020, doi.org/10.4414/smf.2020.08522.
Verfasst am 28.10.2020.

COVID-19-Impfstoffe: Nicht ungeduldig werden!

Unter dem Druck seiner Vorgesetzten, der jetzigen ­US-Regierung, erwägt die «Food and Drug Administration» (FDA) eine beschleunigte Zulassung von Anti-­COVID-19-Impfstoffen, eine sogenannte «emergency use authorization» (EUA). Ein FDA-Beratungsgremium aus Medizinern, Biologen, Ökonomen und anderen mehr hat sich ziemlich vehement dagegen gewehrt, da damit die seriöse Evaluation anderer laufender klinischer Studien behindert werden und die falsche Interpretation präliminärer Evidenz höheren gesundheitlichen und ökonomischen Schaden anrichten könnte. Die FDA erwägt als Kompromiss ein sogenannten «expanded access»-Programm, das schon früher bei an­deren Impfstoffen (z.B. Meningitis B) erfolgreich zur Anwendung kam. In einem solchen Programm werden nach den ersten Wirksamkeitsstudien die Zulassungen auf bestimmte, genau definierte Patientengruppen ­limitiert. Bei COVID-19 zum Beispiel bei einer oder mehreren Risikopopulationen.
Im Moment sind vier Impfstoffe in der Testphase hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, und zwar nach dem grob gleichen Schema: Doppelblind sollen je mehr als 30 000 Individuen geimpft werden, die Entblindung und Auswertung sollen dann nach den ersten 150 COVID-19-Fällen erfolgen (Interimsanalysen nach 50 und 100 Fällen).
Verfasst am 26.10.2020.

Radiotherapie nach totaler Prostatektomie: wann und für wen?

Ein höherer Gleason-Score (7–10) oder Tumorgewebe am Resektionsrand (T3-Tumorstadium und höher) oder ein präoperativer Wert des prostataspezifischen Antigens (PSA) von >10 ng/ml bedeutet für Patienten nach totaler Prostatektomie ein erhöhtes Rezidivrisiko. Gemäss den urologischen Richtlinien werden diese Patienten zusätzlich bestrahlt. Dabei unterscheidet man eine adjuvante Radiotherapie (innerhalb von 6 Monaten postoperativ) von einer Radiotherapie erst nach Auftreten eines biochemischen Rezidivs – das heisst nach einem PSA-Anstieg –, einer sogenannten Salvage-Radiotherapie.
Ist adjuvant oder früher besser als später respektive nur im Falle eines Wiederanstiegs des Tumormarkers? Wahrscheinlich nicht, und zwar laut einer Serie von verschiedenen, grossen Studien [1–4], weshalb die Salvage-Therapie wohl zu bevorzugen ist.
Wie immer können selbst grosse und mehrere parallele Studien nicht immer eine massgeschneiderte Antwort für alle Patienten geben. Eine individualisierte Beratung muss den besten Weg finden. Die relevanten Nuancen werden in einem gut geschriebenen Editorial erwähnt [5].
3 Lancet Oncol. 2020, doi.org/10.1016/S1470-2045(20)30456-3.
4 Lancet Oncol. 2020, doi.org/10.1016/S1470-2045(20)30454-X.
Verfasst am 01.11.2020.

Für Ärztinnen und Ärzte im Spital

Zitrat oder Heparin bei koninuierlicher Hämo(dia)filtration?

Eine kontinuierliche Nierenersatztherapie ist eine wichtige Option, meist auf der Intensivstation, für Patient(inn)en mit schwerer, akuter Nierenschädigung. Eine systemische Heparintherapie – zur Verhinderung der Blutgerinnung im Filter mit einem PTT-Zielwert von 45–60 s – ist in vielen Zentren Standard, aber Blutungen oder die heparininduzierte Thrombozytopenie sind wichtige Nebenwirkungen.
Eine regionale (auf das Tubus- und Filtersystem beschränkte) Anti­koagulation mit Zitrat ist eine Alternative und hat in den letzten Jahren auch Eingang in Richtlinien gefunden. Zitrat ist gerinnungshemmend durch Komplexierung von Kalzium, wodurch die Aktivierung von verschiedenen Gerinnungsfaktoren ­gehemmt wird. Das ionisierte Kalzium wird dabei auf etwa 0,3 mmol/l gesenkt, Kalzium wird dem Blut vor Wiedereintritt in die Patientenzirkulation wieder zugegeben.
In einer prospektiv randomisierenden Studie wurden 596 Patienten 1:1 der Heparin- oder der Zitratgruppe ­zugeteilt. Während die Mortalität nach 90 Tagen in beiden Gruppen gleich und typischerweise hoch war (über 50%), lag die Funktionsdauer des Filters in der ­Zitratgruppe bei 47 Stunden, in der Heparingruppe bei signifikant weniger, nämlich 26 Stunden. Die Zitratgruppe wies weniger Blutungskomplikationen, allerdings auch mehr neu aufgetretene Infekte auf.
Also eine Ressourcen schonende Methode, die mit ihr assoziierte erhöhte Infektrate rechtfertigt aber das ­Fragezeichen im Titel.
Verfasst am 25.10.2020.

COVID-19: Wie hoch ist das Risiko für das Spitalpersonal?

In einer landesweiten Kohortenstudie wurde die COVID-19-bedingte Hospitalisationsrate aller Spitalangestellten (18–65-jährig) in Schottland sowie der Personen, die mit ihnen den Haushalt teilten, analysiert. Es handelte sich um fast 160 000 Angestellte, davon mehr als 90 000, die im Rahmen ihrer Tätigkeit direkte ­Pa­tientenkontakte aufwiesen. Die Population der Mitbewohner zuhause betrug knapp 230 000.
Die gute Nachricht zuerst: Das absolute Risiko einer COVID-19-bedingten Spitaleinweisung war selbst für Angestellte mit direkten Patientenkontakten eher niedrig (0,5%), aber etwas höher (1%) bei älteren Männern mit Komorbiditäten. Allerdings war das Risiko im Vergleich zu Angestellten ohne Patientenkontakte dreifach erhöht. Personen im Haushalt der Angestellten mit Patientenkontakten hatten ein doppelt so ­hohes Risiko, an COVID-19 zu erkranken, wie die Angehörigen des Spitalpersonals ohne Patientenkontakte. Nicht überraschend: Die Angestellten, die Tätigkeiten zu Beginn des Behandlungsprozesses (Notfall, Empfang) erledigten, also solche «an der Front», waren am meisten gefährdet.
Für die jetzige Welle sollten die Schutzmassnahmen für das Personal, das im doppelten Sinne des Wortes an der Front arbeitet, nochmals verbessert werden. Eine Prävention der Weiterverbreitung zuhause (und im Privatleben) sollte auch oberste Priorität erhalten.
Verfasst am 31.10.2020.
Spitalpersonal, das Tätigkeiten «an der Front» (Notfall, ­Empfang) erledigt, hat laut einer schottischen Studie das höchste Risiko, selbst an COVID-19 zu erkranken. ­© Corradobarattaphotos | Dreamstime.com

Neues aus der Biologie

Schleim- und Schleimhautbarrieren gegen Bakterien im Kolon

Die riesige Zahl von Mikroorganismen im Kolon (Kolon-Mikrobiom) erfordert für den Wirt, dass er sich ­gegen Adhärenz und Invasion dieser Keime schützen kann. Dieser Schutz besteht nicht nur aus der Epithelschicht bedeckt durch Schleim aus den Becherzellen der Dickdarmkrypten. Im proximalen Kolon wird ein Schleim hoher Dichte (Mucin2) gebildet, der sich um Pellets von unverdauten Nahrungsbestandteilen und Mikroorganismen bildet (primäre Enkapsulierung). Mit der Passage dieser mit Schleim umkapselten Pellets in distalere Kolonabschnitte, wird diesen im Colon descendens noch eine zweite Kapsel mit weniger dichtem Schleim hinzugefügt (sekundäre Enkapsulierung). Diese doppelte Verkapselung scheint die Bakterien sehr effektiv einzufangen, denn zwischen den Pellets sind die Konzentrationen der Mikroorganismen sehr tief. Somit wird die Kolonschleimhaut vor Kontakten mit Bakterien weitgehend geschützt.
Was bedeutet diese Enkapsulierung für die systemische Signifikanz der Mikrobiomanalysen? Werden allenfalls auch die inkriminierten bakteriellen Metabolite des ­Mikrobioms in den Pellets zurückbehalten? Wie werden diese Schleimschichten bei Infekten oder nach Anti­biose verändert und wie wieder rekonstituiert? Gibt es allenfalls genetische Varianten von Kolonschleimen, die diese Schutzfunktion verstärken oder abschwächen?
Verfasst am 26.10.2020.

Zum Nachdenken veranlasst

Haben in vitro gezüchtete Organoide von Hirnzellen ein Bewusstsein?

Die neurobiologische Grundlagenforschung verwendet immer mehr und immer komplexere humane Zellsy­steme. Dazu zählen die aus pluripotenten menschlichen Stammzellen gezüchteten Organoide von Hirnzellen, die ganze neuronale In-vitro-Netzwerke bilden können. Aufgrund der Entwicklung auf diesem Gebiet wird die Möglichkeit angesprochen, dass in diesen Organoiden irgendwann einmal ein körperloses Bewusstsein entstehen könnte. Das würde den Eintritt in eine Dimension ­bedeuten, die man vielleicht lieber auslassen möchte, aber – das zeigt die Vergangenheit – wahrscheinlich auch nicht erfolgreich verhindern kann. Eine grosse Debatte steht wohl an!
Verfasst am 31.10.2020.

Auch noch aufgefallen

Definition eines «close contact»

Dass die Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu erkranken, mit zunehmender physischer Distanzierung abnimmt, ist bestens dokumentiert. Zuerst waren es in der Schweiz 2, dann 1,5 m, die als Minimum empfohlen wurden. In der neuen Definition der «Centers for Disease Control and Prevention» (CDC) sind es nun 6 Fuss (= 1,83 m). Mindestens 2 m (plus Maske), und wenn immer möglich mehr, ist und bleibt kurz und bündiger Rat.
Verfasst am 26.10.2020.
Social Distancing während der COVID-19-­Pandemie. ­© Cateyeperspective | Dreamstime.com

Effekte von COVID-19 auf die Tierwelt

Über die Auswirkungen der durch den Lockdown induzierten Entschleunigung auf unser Leben und die Reaktionen in der Tierwelt ist schon viel spekuliert worden.
Die soziale Integration und die Fortpflanzung von Singvögeln hängt von der Übertragungsweite und der Differenzierung ihrer Lieder ab. In der Bucht von San Francisco fiel dieses Frühjahr der verkehrsbedingte Lärm auf die Werte von Mitte der 50er Jahre ab. Die Singvögel antworteten sehr schnell (und wahrscheinlich dankbar) darauf: Sie sangen komplexere Lieder mit niedriger (zärtlicherer?) Amplitude. Die Gesänge erreichten auch eine weitere geographische Verbreitung. Ein Effekt auf die Fertilität ist zwar nicht bewiesen, aber die Beobachtung zeigt, dass biologisch eine ziemlich robuste, schlummernde Widerstandsfähigkeit («Resilienz») gegen Lärm-Pollution besteht.
Somit lohnen sich lärmreduzierende Massnahmen weiterhin! In der Schweiz gibt weit über eine Million Menschen an, von Lärmimmissionen geplagt zu sein.
Verfasst am 01.11.2020.
Lärmreduzierende Massnahmen haben auch einen Einfluss auf Vogelgesänge. © Paul Reeves | Dreamstime.com

Vielleicht nicht ganz ernst zu nehmen?

Ein ganzes Volk negativ gestresst

Stressereignisse, die grosse Bevölkerungsgruppen betreffen, können zu einer mit diesen assoziierten Zunahme von akuten kardiovaskulären Ereignissen führen. Dies gilt zum Beispiel alljährlich für die Umstellung im Frühjahr auf die Sommerzeit und galt in Deutschland für die Fussballweltmeisterschaft 2006.
Präsidentschaftswahlen sind ein anderes Beispiel: In den zwei Tagen nach der Wahl (Hillary Clinton versus Donald Trump) 2016 stiegen die Hospitalisationen wegen akuter kardiovaskulärer Erkrankungen um mehr als 60% an. Die Kontrollperiode waren zwei Tage eine Woche vor der Wahl.
Zum Zeitpunkt dieser Besprechung sind diese spezifischen Folgen der Wahl vom 3. November noch nicht bekannt. Sie könnten aber angesichts der aufgewühlten Bevölkerung in den USA höher ausfallen.
Proc Natl Acad Sci U S A. 2020, doi.org/10.1073/pnas.2012096117
Verfasst am 01.11.2020.
Das «Kurz und bündig» gibt es noch aktueller «online first» unter medicalforum.ch sowie als Podcast unter emh.ch/podcast oder in Ihrer Podcast-App unter «EMH Journal Club»!