Impfungen bei erwachsenen Flüchtlingen
Empfehlungen für den klinischen Alltag

Impfungen bei erwachsenen Flüchtlingen

Übersichtsartikel
Ausgabe
2016/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2016.02829
Schweiz Med Forum 2016;16(4950):1075-1079

Affiliations
a Medizinische Universitätsklinik und Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital Baselland, Bruderholz, Universität Basel; b Schweizerisches Tropen- und Public Health Institut, Universität Basel, Basel; c Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, Muttenz BL; d Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Münchenstein BL; e Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene, Universitäts-Kinderspital Zürich, Universität Zürich; f Klinik Infektiologie und Spitalhygiene, Universitätspital Basel, Universität Basel; g Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene, Universitätsspital Zürich, Universität Zürich; h Service de médecine
de premier recours, Hôpitaux Universitaires de Genève et Institut de santé globale, Université de Genève; i Unité des maladies infectieuses pédiatriques, Hôpital des Enfants, Hôpitaux Universitaires de Genève; j Programme santé migrants & Réseau santé pour tous, Département de médecine communautaire, de premier recours et des urgences, Hôpitaux Universitaires de Genève; k Pädiatrische Infektiologie und Sprechstunde Migrationsmedizin, Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), Basel; l Universitäts­klinik für Infektiologie, Inselspital Bern; m Service des Maladies Infectieuses, CHUV Lausanne; n Stellvertretender Kantonsarzt Basel-Stadt, Medizinische Dienste, Basel; o Kantonsarzt Basel–Landschaft, Amt für Gesundheit, Liestal; p Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, Universität Zürich

Publiziert am 06.12.2016

Die wenigsten Asylsuchenden kommen komplett ungeimpft in der Schweiz an, aber ein Impfausweis liegt nur selten vor. In der Regel sollen Flüchtlinge daher als ungeimpft betrachtet und baldmöglichst gemäss aktueller Version des Schweize­rischen Impfplans des Bundesamtes für Gesundheit geimpft werden (Nachholimpfungen bei ungeimpften bzw. unvollständig geimpften Personen). In diesem Artikel geben wir Empfehlungen für ein sinnvolles Impfen beim ärztlichen Erstkontakt und den Folgekonsultationen.

Hausärztinnen und Hausärzte 
sind gefordert

Der Bund delegiert das Impfen der ­Flüchtlinge an die Kantone und damit in der Regel an die Hausärztinnen und Hausärzte.
In den Empfangs- und Verfahrenszentren (EVZ) des Bundes für Flüchtlinge wird kaum geimpft (Ausnahme: Empfehlung, im EVZ aufgenommene Kinder <5 Jahren gegen Polio zu impfen, sofern sie nicht vorher schon gemäss schweizerischen Empfehlungen geimpft wurden). Denn der Bund delegiert die Durchführung von Impfungen bei Flüchtlingen an die Kantone. Nach dem Transfer in die Gemeinden sind die Flüchtlinge ver­sichert und die medizinische Versorgung erfolgt für sie gleich wie für die einheimische Bevölkerung. Für die Hausärztinnen und Hausärzte ist die Situation aber oft komplex: So kann es sprachlich oder bildungsbedingte Kommunikations­probleme geben, und die Dokumentation bisher durchgeführter Impfungen ist meist lückenhaft oder fehlt ganz .
Mit diesem Artikel möchten wir Praktikern eine erste, praktische Orientierungshilfe für das konkrete Vorgehen bei Impfungen bei erwachsenen Asylsuchenden und Flüchtlingen zur Verfügung stellen. Denn die Empfehlungen einer Arbeitsgruppe von Bund und Kantonen zur gesundheit­lichen Versorgung von Flüchtlingen werden kaum vor Anfang 2018 vorliegen. Als Grundlage für diesen Artikel dienten neben dem Schweizerischen Impfplan des Bundesamtes für Gesundheit (kostenloser Download via ) die Empfehlungen des «European Centre for Disease Prevention and Control»(ECDC; [1]) und des deutschen Robert Koch-Instituts (RKI; [2]). ­Unsere Empfehlungen werden unterstützt durch die Schweizerische Gesellschaft für Infektio­logie.
Zum Thema «Infektionen bei Flüchtlingen» verweisen wir auf unseren separaten Artikel in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum (S. 1067–1074). Impfempfehlungen bei asylsuchenden Kindern hat kürzlich die pädiatrische Infektiologiegruppe der Schweiz (PIGS) abgegeben (frei zugänglich auf ).

Prioritäre Gesundheitsmassnahme

Impfungen sind eine prioritäre Gesundheitsmassnahme, besonders bei Kindern und Bewohnern von Flüchtlings­heimen.
Impfungen gehören zweifelsohne zu den wichtigsten medizinischen Errungenschaften der letzten 100 Jahre, bezogen auf die Verlängerung der Lebenserwartung und die Senkung der Säuglingssterblichkeit [3]. Neben der Verhinderung von impfpräventablen Krankheiten beim individuellen Flüchtling geht es um das Vermeiden von Ausbrüchen ansteckender Krankheiten in Gruppenunterkünften, wo Asylsuchende meist auf engem Raum zusammenleben. Dies betrifft drei Impfungen besonders, nämlich die Influenza-, die Masern- und die Varizellen-Impfung. Denn dies sind hochansteckende Viren mit dem Potenzial für Ausbrüche in Heimen; Influenza und Varizellen gehörten 2015/2016 in Deutschland bei Flüchtlingen zu den am häufigsten gemeldeten Infektionen.
Die Hausärztinnen und Hausärzte sollten beim Impfen von Asylsuchenden gewisse wichtige Punkte beachten (Tab. 1).
Tabelle 1: Impfungen bei Flüchtlingen –wichtige Konzepte für die Hausarztpraxis.
Flüchtlinge möglichst bald impfen: idealerweise innerhalb der ersten Tage nach Ankunft oder nach Erstkontakt in ­Hausarztpraxis. Kinder haben Priorität.
Die wenigsten Asylsuchenden kommen komplett ungeimpft in der Schweiz an. Da aber der Impfstatus meist unbekannt ist, sollen Flüchtlinge als ungeimpft betrachtet werden. Man kann nicht zuviel impfen: Es gibt keine Daten, dass zuviel gemachte Impfungen oder Impfungen bei Personen, ­welchedieKrankheit bereits durchgemacht haben, zu Schäden führen können [2, 4].
Serologien zur Evaluation des Impfbedarfs in der Regel ­vermeiden: Abwarten des Resultats verzögert das Impfen unnötig, die Resultatinterpretation ist nicht immer einfach, falsch negative Antikörpertiter sind häufig und die Koordi­nation von ­Resultatinterpretation und Impfungen unter den Institutionen und Ärztenist aufwendig.
Die Varizellen-, Masern- und Influenza-Impfungen sind besonders empfohlen bei Flüchtlingen, die in Gruppenunterkünften wohnen, um Ausbrüche mit diesen hochansteckenden und bei Flüchtlingen gehäuft gemeldeten Viren zu ­vermeiden.
Dokumentation aller verabreichten Impfungen in der Krankengeschichte sowie in einem internationalen (gelben) Impf­ausweis. Der Flüchtling soll den Impfausweis mit dem Smartphone fotografieren und das Foto bei allen ärztlichen Folgeterminen bereithalten (der Impfausweis wird eher ­verlorengehen als das Smartphone!).
Falls ein Impfausweis vorliegt: Man muss mit dem Impfen nie von vorne beginnen.Bei unterbrochenen Impfserien, selbst bei Impflücken von mehreren Jahren:einfach die fehlenden Dosen in den empfohlenen Abständen geben [4].

Bei unbekanntem Impfstatus: impfen

Flüchtlinge am besten als ungeimpft betrachten und gemäss Schweizer ­Impfplan nachimpfen.
Liegt ein Impfausweis vor, sollen die Hausärztinnen und Hausärzte gemäss aktueller Version des Schweizerischen Impfplans des Bundesamtes für Gesundheit vorgehen, also anstehende Impfungen vornehmen und Impflücken schlies­sen [4]).
Die wenigsten Asylsuchenden haben aber einen Impfausweis und ihre Anfälligkeit gegenüber impfpräventablen Krankheiten ist daher unbekannt. Deshalb empfehlen wir bei unbekanntem Impfstatus zu impfen (Tab. 2). Gemäss Schweizer Impfplan existieren aber grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
Tabelle 2: Impfungen bei Flüchtlingen 
mit unklarem Impfstatus.
Erstkontakt in der Praxis: Empfohlene Impfungen und Abklärungen
1 Dosis dTpa-IPV
+
1 Dosis MMR1
+
1 Dosis Varizellen-Impfung1
+
1 Dosis Hepatitis B
Bei Erstkontakt niederschwellig HBsAg 
und HBc-Antikörper messen 
(NB: Hepatitis B impfen ohne Resultat abzuwarten)
Folgeimpfungen
dT-IPV 2 und 8 Monate später
2. Dosis MMR zum Zeitpunkt ≥1 Monat später
2. Dosis Varizellen-Impfung ≥1 Monat später
Hepatitis B: 1 und 6 Monate später
– bei Alter 11–15 Jahre (vor dem 16. Geburtstag) 
genügen 2 ­Impfdosen (Monat 0 und 6)
HPV: 3 Dosen (0, 1–2, 6 Monate) bei Alter 15–19 Jahre
– bei Alter 11–14 Jahre (vor dem 15. Geburtstag) 
genügen 2 ­Impfdosen (Monat 0 und 6)
1 kontraindiziert bei Immunsuppression und Schwangerschaft (siehe Text)

Flüchtlinge ohne Impfausweis als ungeimpft betrachten (empfohlenes Vorgehen)

Wir empfehlen, die Person als ungeimpft zu betrachten und gemäss dem Schema bei ungeimpften Kindern und Erwachsenen (Schweizerischer Impfplan, Tab. 2) nachzuimpfen. Auf diese Weise wird eine korrekte Durchimpfung der Flüchtlinge gewährleistet. Allerdings werden so die meisten Asylsuchenden überimpft. Denn im Jahr 2015 stammten die meisten Asylsuchenden aus Eritrea, Afghanistan, Syrien, Irak, Sri Lanka und Somalia [1]. In all diesen Ländern, selbst in Kriegsgebieten, wird geimpft, die wenigsten Personen aus diesen Ländern kommen also komplett ungeimpft in der Schweiz an. Dieses «Paradox» der vermutlich geimpften Flüchtlinge und der gleichzeitigen Empfehlung, sie als ungeimpft zu betrachten, wird sich nicht einfach beseitigen lassen.

Impfbedarf festlegen aufgrund von Antikörper-Titerbestimmung (nicht generell empfohlen)

Die Person wird mit einer Dosis dTPa-IPV geimpft. Das weitere Vorgehen richtet sich nach dem Tetanus-Antikörpertiter ein bis zwei Monate nach dieser Impfung:
– Bei nicht schützendem Tetanus-Antikörpertiter (<0,1 U/ml bzw. <100 U/l) braucht es für die Grund­immunisierung noch zwei weitere dT-IPV-Impfdosen (diese ohne Pertussiskomponente, siehe unten).
– Ist der Tetanus-Antikörpertiter schützend, dann erfolgt die nächste Boosterdosis gemäss Schweizer Impfplan.
Diese Strategie, den Impfbedarf aufgrund von Antikörpertitern festzulegen, ist grundsätzlich valide, auch für die Varizellen- und Hepatitis-A-Impfungen. Dieses Vorgehen ist bei Flüchtlingen aber logistisch aufwändig (Koordination der Titerinterpretation und der Impfungen unter den einzelnen betreuenden Ärzten und Institutionen, nicht immer triviale Interpretation der Antikörpertiter, Dokumentation), weshalb wir es in der Regel nicht empfehlen.

Ärztlicher Erstkontakt

Beim ärztlichen Erstkontakt ist ein pragmatisches Vor­gehen sinnvoll: Das Impfen bevorzugen, niederschwellig chronische Hepatitis B suchen, keine Antikörper-Titerkontrollen machen.
Wir empfehlen das folgende Vorgehen bei allen Asylsuchenden, und zwar innert Tagen nach Ankunft (Tab. 2).

Eine Impfdosis gegen Mumps-Masern-Röteln sowie gegen Varizellen s.c.

Abbildung: Rötelnviren, transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme (© CDC/ Dr. Fred Murphy; Sylvia Whitfield).
Die Anamnese (bereits durchgemachte Krankheiten) ist unzuverlässig, insbesondere auch wegen der Sprachbarriere. Diese Impfungen sind prioritär, vor allem bei jungen Personen und Bewohnern von Gruppenunterkünften. Denn im Vergleich zu westlichen Ländern haben junge Migranten aus tropischen Ländern zum Teil deutlich seltener die Varizellen durchgemacht: Sie sind daher anfällig für eine Erstinfektion im Adoleszenten- oder Erwachsenenalter, mit deutlich erhöhtem Komplikationsrisiko, insbesondere für eine Varizellen-Pneumonie [5]. Bei unklarer Varizellen-Anamnese soll also Flüchtlingen die Varizellen-Impfung gegeben werden.

Kontraindikation: Schwangerschaft,
Immunsuppression

Bei Schwangerschaft oder Immunsuppression sind die Varizellen- oder MMR-Impfung (Lebendimpfstoffe!) kontraindiziert. Nicht schwangere Frauen sollen nach der Varizellen- oder MMR-Impfung einen Monat lang nicht schwanger werden; ein Schwangerschaftstest vor der Impfung ist aber nicht nötig. Bei schwangeren Frauen werden diese Lebend­impfstoffe auf das Wochenbett verschoben, allerdings sind bisher bei versehentlich geimpften Schwangeren keine Schädigungen des Föten bekannt geworden [2].
Bei Steroidtherapie (Prednison Äquivalentdosis >20 mg/Tag für min. 2 Wochen) oder bekannter HIV-Positivität empfiehlt sich Rücksprache mit Infektiologen. Ein HIV-Test vor dem Impfen ist nicht nötig, das Vorliegen ­einer HIV-Infektion soll aber niederschwellig erwogen werden (z.B. bei Auftreten von Fieber/Ausschlag nach Impfung, bei krank wirkenden Asylsuchenden, Fieber, Gewichtsverlust, Husten, Durchfall, etc.).
Hinweis: Die kombinierten Impfstoffe gegen MMR-V sind praktisch, aber nur bei Kindern bis 12 Jahre zugelassen und werden nicht von der Krankenkasse übernommen.

Eine Impfdosis gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis und Poliomyelitis i.m.

Diese Impfungen sind wichtig und können in einer einzelnen Impfung verabreicht werden (dTPa-IPV).

Eine Impfdosis gegen Hepatitis B i.m.

Gleichzeitig mit der Impfung erfolgt eine Blutentnahme zum Ausschluss einer vergangenen oder chronischen Hepatitis B (mittels anti-HBc-Antikörpern und HBsAg) – die Impfung wird also nicht durch das Abwarten des Laborresultats verzögert. Eine chronische Hepatitis B liegt bei mehr als 3% der Flüchtlinge aus den häufigsten Immigrationsländern vor (also Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea, Somalia), daher ist ein Hepatitis-B-Screening bei diesen Flüchtlingen empfohlen.

Eine einzelne Influenza-Impfdosis i.m. in ­besonderen Situationen

Die saisonale Influenza-Impfung soll empfohlen werden bei:
– Schwangeren (ab 2. Trimenon), zu ihrem eigenen und zum Schutz des Neugeborenen;
– Personen ab 65 Jahren und mit chronischen Krankheiten gemäss Schweizerischem Impfplan (Indikation grosszügig stellen);
– Personen, die in Situationen mit erhöhtem Ansteckungsrisiko leben, zum Beispiel in Gruppenunterkünften; ebenso beim Personal dieser Unterkünfte.

Folgeimpfungen

In den Monaten nach dem ärztlichen Erstkontakt sollen Impfungen gemäss Schweizer Impfplan vervollständigt werden.
In den Monaten nach dem ärztlichen Erstkontakt sollen fehlende Impfungen gemäss Impfplan vervollständigt werden. Sorgfältige Dokumentation aller verabreichten Impfungen und Koordination unter den Institutionen/Ärzten ist essentiell: Am besten fotografiert der Flüchtling den ausgehändigten Impfausweis mit seinem Smartphone (oder elektronischen Impfausweis machen: siehe ).

Masern-Mumps-Röteln und Varizellen

≥1 Monat nach der Erstdosis wird allen Asylsuchenden die zweite empfohlene Impfdosis verabreicht.
Abbildung: Intraepidermale Veränderungen bei Varizelleninfektion mit mehrkernigen Riesenzellen und intranukleären Einschlusskörperchen, 1200× Vergrösserung (© CDC).

Diphtherie, Tetanus, Polio

Vervollständigung der fehlenden Impfdosen gemäss Schweizer Impfplan (Grundimmunisierung mit total 3 Dosen; Zeitpunkt 0, 2 und 8 Monate). Nach der Impfung mit dTpa-IPV beim Erstkontakt wird bei Monat 2 und 8 mit dT-IPV (ohne Pertussis) geimpft. Alternativ Komplettierung der Impfung gemäss Tetanus-Antikörpertiter (siehe oben; nicht empfohlen).

Pertussis

Die Pertussisimpfung wird als Kombination mit der Diphtherie- und Tetanus-Impfung (dTPa-IPV) einmal im Alter von 11–15 Jahren und erneut einmal im Alter von 25–29 Jahren verabreicht. Zudem sollen schwangere Frauen und Betreuungspersonen von Neugeborenen einmal geimpft werden. Alle weiteren Diphtherie- und Tetanus-Impfdosen erfolgen ohne Pertussis (als dT-IPV). Ist also beispielsweise mit 26 Jahren eine Grundimmunisierung mit 3 Dosen nötig (zu den Zeitpunkten 0, 2, 8 Monate), so wird nur einmalig Pertussis bei der ersten Impfung gegeben (dTPa-IPV; Zeitpunkt 0). Die weiteren Impfdosen (Zeitpunkt 2 und 8 Monate) erfolgen ohne Pertussis als dT-IPV.

Polio

Grundimmunisierung i.m. mit inaktiviertem Impfstoff (IPV); total 3 Dosen (0, 2, 8 Monate), immer in Kombination mit dTpa (Zeitpunkt 0) oder dT (Zeitpunkt 2 und 8 Monate). Ein optimaler Bevölkerungsschutz für Polio ist für die gesamte Schweizer Bevölkerung von grosser Bedeutung. Ein Absinken der Bevölkerungsimmunität kann auch in Europa zu einem erneuten Auftreten der Poliomyelitis führen, wie dies 1992 in einer niederländischen Population der Fall war, die sich aus religiösen Gründen nicht impfen lassen wollte. Der letzte Fall von Polio trat in der Schweiz 1982 auf. Wir wollen verhindern, dass sich dieses hochansteckende Virus nach einem möglichen Einschleppen durch Flüchtlinge wieder bei uns etabliert. Denn es kommen zurzeit Flüchtlinge in die Schweiz aus Ländern, die aktuell oder vor kurzem noch Poliofälle «exportiert» hatten. Dies betrifft insbesondere Afghanistan, Pakistan, Somalia und Nigeria sowie die angrenzenden Länder (Kamerun, Äquatorial Guinea, Äthiopien, Irak, Israel, und Syrien).

Haemophilus influenzae Typ b

Nach dem 5. Geburtstag ist gemäss Schweizer Impfplan aufgrund natürlich erworbener Immunität keine Impfung mehr notwendig.

Hepatitis B

Vervollständigung der fehlenden Impfdosen gemäss Schweizer Impfplan (siehe Tab. 2), falls keine chronische Hepatitis B vorliegt. Die Bestimmung des Impfbedarfs aufgrund des HBs-Antikörpertiters ist nur nach dokumentierter Impfserie ein valides Vorgehen.

«Human Papilloma Virus»-Impfung

Impfung der Flüchtlinge gemäss Schweizer Impfplan, nicht anders als einheimische Bevölkerung (siehe Tab. 2). Seit 1.7.2016 KVG Kostenübernahme auch für Knaben/junge Männer (und nicht nur Mädchen), falls die Impfung im Rahmen eines kantonalen Impfprogramms erfolgt.

Das Wichtigste für die Praxis

• Der Bund delegiert die Durchführung von Impfungen bei Flüchtlingen an die Kantone.
• Flüchtlinge sollen als ungeimpft betrachtet werden, ausser es liegt ein Impfausweis vor.
• Antikörper-Titerkontrollen zur Bestimmung des Impfbedarfs werden in der Regel nicht empfohlen.
• Grundsätzlich sollen Flüchtlinge gemäss der aktuellen Version des Schweizerischen Impfplans des Bundesamtes für Gesundheit geimpft werden.
• Impfungen sind eine prioritäre Gesundheitsmassnahme: Flüchtlinge sollten baldmöglichst (idealerweise innerhalb der ersten Tage nach Ankunft in den Gruppenunterkünften) geimpft werden und Kinder haben dabei besondere Priorität.
• Beim Erstkontakt empfiehlt sich 1 Dosis dTpa-IPV, 1 Dosis MMR, 1 Dosis Varizellen Impfung und 1 Dosis Hepatitis-B-Impfung – gleichzeitig niederschwellig Suche nach chronischer Hepatitis B mittels HBsAg und HBc-Antikörper.
• Die Folgeimpfungen in den Monaten nach dem ärztlichen Erstkontakt sollen gemäss aktuellem Schweizerischen Impfplan erfolgen.
• Bei Personen in Gruppenunterkünften haben die Influenza- und die ­Varizellen-Impfung besondere Priorität, um Epidemien mit diesen hochansteckenden Viren zu vermeiden.
Die Autoren bedanken sich bei Dr. Niklaus Labhardt, Prof. Christoph Hatz und Dr. Artur Dandörfer für hilfreiche Kommentare und kritische Durchsicht des Manuskripts
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med. Philip Tarr
Medizinische ­Universitätsklinik
Kantonsspital Baselland
CH-4101 Bruderholz
philip.tarr[at]unibas.ch
1 European Centre for Disease Prevention. Infectious disease risks of specific relevance to newly-arrived migrants in the EU/EEA [Internet]. 2015 [cited 2016 Aug 29]. Available from: http://ecdc.europa.eu/en/publications/_layouts/forms/Publication_DispForm.
aspx?List=4f55ad51-4aed-4d32-b960-af70113dbb90&ID=1405.
2 Robert Koch Institut. Konzept zur Umsetzung frühzeitiger Impfungen bei Asylsuchenden nach Ankunft in Deutschland. 41:439–442. Available from: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2015/Ausgaben/41_15.pdf?__blob=publicationFile
3 Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Ten great public health achievements. United States, 1900–1999. MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 1999;48(12):241–3.
4 Bundesamt für Gesundheit BAG OFSP. Schweizerischer Impfplan. [Internet]. 2016 [cited 2016 Aug 29]. Available from:
http://www.bag.admin.ch/ekif/04423/04428/
5 Barnett ED, Christiansen D, Figueira M. Seroprevalence of measles, rubella, and varicella in refugees. Clin Infect Dis. Oxford University Press. 2002;35(4):403–8.