Prävention und Gesundheitswesen: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
Prävention und Gesundheitswesen

Prävention und Gesundheitswesen: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Schlaglichter
Ausgabe
2017/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02872
Schweiz Med Forum 2017;17(0102):36-37

Affiliations
Schweizerische Gesellschaft der Fachärztinnen und -ärzte für Prävention und Gesundheitswesen

Publiziert am 10.01.2017

Diese Erkenntnis hat nach heutigem Wissen erstmals der griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) formuliert: «Das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes ­bildet – nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe –, das ist offensichtlich mehr als bloss die Summe seiner Bestandteile.» [1].

Über das Verhältnis der Subspezialitäten

Die aristotelische Wahrheit gilt auch für die Gesundheit: Ein gesunder Mensch ist mehr als eine Ansammlung gesunder Organe. Dies geht manchmal etwas ­vergessen, wenn wir uns in den Details einer Subsubspezialität verlieren. Die Praxis der Medizin ist nur dann Heilkunst, wenn sie den ganzen Menschen und seine Umgebung betrachtet. «Heil», «health» oder ­nordisch «hell» bedeutete einmal «ganz». Heller Wahnsinn leuchtet also nicht, sondern ist einfach totaler Wahnsinn.
Ganzheitlichkeit ist kein Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der Medizin, im Gegenteil, sie ist eines ihrer Kernelemente. Eine wissenschaftliche Disziplin muss ihre Grenzen erkennen, und dies nicht in einem metaphysischen Sinn, sondern ganz konkret. Der ­Spezialist, auch der Sozialmediziner, ist aufgefordert, auf seinem Gebiet das Beste zu geben. Er muss aber ­bedenken, dass es ausserhalb seines Fachgebiets Wahrheiten, Interessen, Bedürfnisse subjektiver und objektiver Art gibt, von denen er nicht unabhängig sein kann. Die Teile sind immer Teile eines Ganzen.
Die Sozialmedizin, bekannter noch unter ihrer englischen Bezeichnung Public Health, beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Faktoren und individueller Gesundheit. Eine gesunde Bevöl­kerung ist mehr als eine Ansammlung gesunder Menschen. Es öffnet sich ein weites Feld von Fachdisziplinen: Sozialwissenschaften, Kommunikation, Statistik, Ökonomie, Recht und andere. Die primäre Aufgabe von Public Health ist es, das Wissen dieser einzelnen Disziplinen für die medizinische Heilkunst nutzbar zu machen. Public Health ist ein interdisziplinäres Fachgebiet. Aber so, wie Wissenschaft heute organisiert ist, hat Public Health einen schweren Stand.

Mensch und Welt

Der Mensch – sowohl als Spezies als auch als Individuum – ist ebenfalls Teil eines Ganzen. Auch wenn er sich im Zentrum der Welt sieht und meist vergisst, dass das Individuum von einer funktionierenden menschlichen Gesellschaft und diese von der physikalischen und biologischen Umwelt abhängig ist. Ohne Nahrung können wir nicht existieren. Wir können nicht einmal einen eigenen Gedanken fassen, ohne auf die Worte und Begriffe zurückzugreifen, die wir uns in einem langen sozialen Prozess des Spracherwerbs angeeignet haben. Unser Gehirn verarbeitet die Sinneseindrücke, ohne sich ständig die ablaufenden Repräsentationsvorgänge zu vergegenwärtigen. Diese «Phänomenale Transparenz» lässt im Alltag den naiven Realismus entstehen, der davon ausgeht, dass die Welt so ist, wie sie als Vorstellung erscheint [2].

Was haben Sozialmedizin, Prävention und Public Health im letzten Jahr ­erreicht?

Niemand wartet auf die Erkenntnisse von Public Health. Die Entwicklung besteht aus vielen kleinen Schritten. Auf der internationalen Ebene entwickelt sich das Fachgebiet weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Die Vereinten Nationen haben die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung auf den 1. Januar 2016 hin beschlossen. 17 Hauptziele mit 169 Unterzielen sollen der ganzen Welt eine bessere Zukunft ermög­lichen. Public Health findet seine Aufgaben in Ziel 3 ­formuliert: «Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern». Dies wird mit 13 Teilzielen differenziert. Die Schweiz hat sich verpflichtet, die UNO-Ziele umzusetzen.
Das Regionalbüro für Europa der Weltgesundheitsorganisation stellt Grundlagen für die Entwicklung der Gesundheitssysteme zur Verfügung. Seit 2015 erscheint die Zeitschrift «Panorama für Gesundheit». Sie wirbt für wissensbasierte Gesundheitspolitik und will durch die Bereitstellung von Forschungsergebnissen, Erkenntnissen, Informationen und Daten zu gesundheitspo­litischen Entscheidungsprozessen in der Europäischen Region beitragen [3].
In der Schweiz hat das Parlament am 18. März 2016 das Krebsregistrierungsgesetz verabschiedet und damit ­einen Public-Health-Pflock für die evidenzbasierte Krebsbekämpfung eingeschlagen. Krebs ist in der Schweiz die häufigste Todesursache zwischen dem 35. und 75. Altersjahr. Die flächendeckende und systema­tische Registrierung von Krebs wird erlauben, die Fortschritte der Prävention und der Behandlung weitertreiben zu können.
Eine weitere Errungenschaft ist das totalrevidierte ­Epidemiengesetz, das am 1. Januar 2016 in Kraft trat, ein weiteres Element in der Vielzahl von Public-Health-Massnahmen in der Schweiz. Alle sollen zu einer gesunden Bevölkerung beitragen. Wir sind optimistisch.

Die Herausforderung der Prävention

Die Behandlung von Krebs macht langsame, aber stetige Fortschritte. Davon zeugt etwa der Schweizerische Krebsbericht 2015 [4]. Die Bekämpfung von Krebs durch primäre Prävention wird demgegenüber vernachlässigt. Vermeidbar wäre als äusserer Faktor an erster Stelle das Rauchen, das etwa einen Viertel aller Krebsfälle verursacht. Es scheint aber, dass Tabakprävention eher die sozial schwachen und in ihrer Sucht gefangenen Raucherinnen und Raucher stigmatisiert, statt ihnen wirklich zu helfen. Man vergisst neben den katastrophalen medizinischen Folgen die positiven Seiten des Rauchens auf gesellschaftlicher Ebene. Die Tabakindustrie ist eine der profitabelsten Industrien überhaupt. Sie zahlt ihren Angestellten einen mittleren monatlichen Bruttolohn von ungefähr 9000 ­Schweizer Franken [5]. Sie ist auch eine wichtige Stütze der Par­teienfinanzierung in der Schweiz. Eine der Herausforderungen von Public Health ist, in diesem komplexen Umfeld eine wirksame Präventionspolitik zu entwickeln. Und wirksam sind strukturelle Massnahmen, Massnahmen, welche die Verhältnisse beeinflussen. Das Rauchverbot in Restaurants hat zu einer deutlichen Abnahme der Herzinfarkte beigetragen.
Es bleibt die Verhaltensprävention. Die Raucherbe­ratung in der ärztlichen Praxis ist weiterhin und bei Weitem die effizienteste Möglichkeit von individueller Prävention. Fragen Sie jede Patientin und jeden Patienten, wenn Sie nicht 100% sicher sind, dass sie oder er nicht raucht. Hat sie oder er schon daran gedacht, aufzuhören? Ist ein Wunsch oder Wille aktuell vorhanden? Möchte sie/er Unterstützung erhalten? Mit dieser einfachen Methode lässt sich die spontane Aufhörrate von 1–2% jährlich mindestens verdoppeln. Das scheint ­wenig, aber nach zehn Jahren haben 30 statt 15% auf­gehört.
Durch Beratung allein lassen sich soziale Benachtei­ligung, Stress, eine ungünstige Sozialisation, gesellschaftliche Diskriminierung und andere äussere Faktoren nicht beseitigen. Vor hundert Jahren wurde die Kindersterblichkeit auch nicht mit moralischen Appellen an die Selbstverantwortung gesenkt. Public Health will individuelle Verantwortung ermöglichen und fordert soziale Verantwortung.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen 
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Christoph Junker
Schweizerische Gesellschaft der Fachärztinnen und -ärzte für Prävention und
Gesundheitswesen
Effingerstrasse 2
CH-3011 Bern
christoph.junker[at]
bfs.admin.ch
1 . Metaphysik VII 17, 1041 b.
2 Metzinger T. Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten.
3 WHO, europäisches Regionalbüro:
4 Bundesamt für Statistik BSF 2016. .
5 Bundesamt für Statistik BFS 2015. .