Bettruhe während des Spitalaufenthalts
«Smarter Medicine»: Empfehlungen der Top-5-Liste für den Spitalbereich

Bettruhe während des Spitalaufenthalts

Aktuell
Ausgabe
2017/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02878
Schweiz Med Forum 2017;17(07):152-154

Affiliations
a Service de médecine interne, Département de médecine, CHUV, Lausanne
b Service de gériatrie et de réadaptation, Département de médecine, CHUV, Lausanne

Publiziert am 14.02.2017

Bis zu 65% der älteren Menschen, die initial keine Einschränkung der Gehfähigkeit aufweisen, verlieren diese zunehmend während eines Spitalaufenthalts. Ein Verlust der Gehfähigkeit erhöht die Hospitalisationsdauer sowie die Notwendigkeit ­einer Rehabilitation, einer Platzierung im Pflegeheim sowie das Sturzrisiko (während und nach der Hospitalisation). Eine reduzierte Gehfähigkeit erhöht auch die Mortalität älterer Menschen. Lässt sich der Verlust der Funktionsfähigkeit älterer Menschen im Spital durch Mobilisation verhindern?
Empfehlung 4 der Top-5-Liste der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM): 
Ältere Menschen während des Krankenhausaufenthalts nicht zu lange im Bett liegen lassen. Indivi­duelle therapeutische Ziele sollten sich an den Werten und Präferenzen der Patienten orientieren.

Einleitung

Für ältere Menschen ist das Spital ein gefährlicher Ort [1]. Während noch im 19. Jahrhundert bei zahlreichen Erkrankungen Bettruhe empfohlen wurde, dauerte es bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um zu erkennen, dass ein Spitalaufenthalt und insbesondere Bettruhe für ältere Patienten schädlich sein können [1–3].
Schauen wir uns diesbezüglich einige Zahlen aus einem Bericht mit dem Titel «Politique Vieillissement et santé» (Alters- und Gesundheitspolitik) des Kantons Waadt aus dem Jahr 2012 an [4]. In der Westschweiz haben 20–40% der älteren Menschen ein erhöhtes Risiko, pflegebedürftig zu werden, während 15–20% dies bereits sind. Im Jahr 2030 wird jeder fünfte Waadtländer über 65 Jahre alt sein. Zu diesem Zeitpunkt wird der Anteil älterer Menschen ab 80 Jahren um 75% zugenommen haben. Das Ziel des kantonalen Projekts «Politique Vieillissement et santé» besteht darin, das Gesundheitssystem so gut wie möglich auf die demographische und epidemiologische Entwicklung der kommenden Jahre vorzubereiten. Zu den vorgeschlagenen Massnahmen gehören Gesundheitsförderung, koordinierte Versorgung zur Optimierung der häuslichen Pflege sowie Aufwertung der beruflichen Kompetenzen, um die Pflege von Senioren zu verbessern. Ein weiterer Schwerpunkt, den die Expertengruppe verbessern möchte, ist die Anpassung der Spitäler, um die Autonomie älterer Menschen zu erhalten.
Denn obgleich die negativen Auswirkungen eines Spitalaufenthalts auf die Funktionsfähigkeit und Autonomie älterer Patienten wissenschaftlich gut dokumentiert sind [5], werden präventive Massnahmen zur Mobilisation älterer Patienten in unseren Spitälern erst seit Kurzem als prioritär angesehen [6].

Faktoren für den Verlust der Funktions­fähigkeit während einer Hospitalisation

Der wahrscheinlich entscheidende Faktor für den Verlust der Funktionsfähigkeit älterer Patienten ist körperliche Inaktivität aufgrund von Bettruhe während eines Spitalaufenthalts. Studien haben gezeigt, dass die Reduktion der Funktionsfähigkeit infolge von Bettruhe während einer Hospitalisation mit steigendem Alter per se zunimmt [5, 7]. So ist der Verlust der Unabhängigkeit bei Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) infolge eines Spitalaufenthalts bei Patienten ab 90 dreimal höher als bei Patienten von 70–74 Jahren [7].
Um einer Verwechslung von Verlusten der Funktionsfähigkeit aufgrund der akuten Erkrankung mit den Auswirkungen der Bettruhe während des Spitalaufenthalts vorzubeugen, wurden letztere bei gesunden freiwilligen Probanden von 60–85 Jahren untersucht [2, 3].Nach zehntägiger Bettruhe waren signifikante Einschränkungen der Gehweite, Gehgeschwindigkeit sowie der Lungenfunktion zu beobachten [2]. Zudem ­waren die magere Körpermasse (Muskeln!) und die Muskelkraft der Beine der Probanden während dieser zehn Tage um mehr als ein Kilo respektive um ca. 12% zurückgegangen [2].
Bei hospitalisierten älteren Menschen sind die möglichen negativen Auswirkungen des langen Liegens noch stärker. Überdies kommt es zu einer hämodynamischen Instabilität bei der Orthostase-Reaktion [8]. So sind bei älteren Menschen bereits nach einigen Stunden Bettruhe Volumenverluste zu beobachten, die ab dem zweiten Tag ~600 ml betragen können. Diese entstehen aufgrund einer verminderten Flüssigkeitszufuhr und einer veränderten Nierenperfusion, können jedoch auch medikamenteninduziert sein (Diuretika). All dies führt zu einem erhöhten orthostatischen Hypotonie- und Sturzrisiko. Zusätzlich zu den Muskel- und Kreislaufveränderungen kann es zu einer verringerten Nahrungsaufnahme mit Unterernährung und sensomotorischen Störungen kommen. Vergessen die Patienten zudem, ihre Hörgeräte oder Brille zu tragen, kann dies das Risiko für Verwirrtheitszustände noch erhöhen. Auch führt Bettruhe zur Abnahme der Atmungskapazität, welche mit einem Hypoventilations- und Aspirationsrisiko und somit eventuellen sekundären Lungeninfektionen einhergeht. Und schliesslich wird durch Bettruhe Harninkontinenz begünstigt und das Risiko für Hautläsionen und Dekubitus nimmt zu [8].
All diese Veränderungen begünstigen die sogenannte spitalbedingte Dekonditionierung, welche durch eine gestörte kardiorespiratorische Anpassung gekennzeichnet ist, wodurch unter  anderem das Risiko für Stürze und sekundäre Frakturen steigt [9].

Bettruhe während eines Spitalaufenthalts schadet älteren Menschen

Bereits vor dreissig Jahren wurden die negativen Auswirkungen von Bettruhe während eines Spitalaufenthalts angeprangert [10]. Tatsächlich verbringen ältere Patienten, unabhängig von ihrer Gehfähigkeit, den Grossteil ihrer Hospitalisation im Bett. In einer Studie wurde beobachtet, dass auf der medizinischen Abteilung hospitalisierte Patienten ohne Demenz oder schwere Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit in der Vorgeschichte täglich durchschnittlich 43 Minuten aus­serhalb ihres Krankenbetts verbrachten [11]. Bis zu 65% der Senioren, die initial keine Einschränkung der Gehfähigkeit aufweisen, verlieren diese zunehmend während eines Spitalaufenthalts [10].
Bei älteren Spitalpatienten ist die Gehfähigkeit entscheidend für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit. In einer Kohorte von 498 Patienten ab 70 Jahren war bei einem Drittel am Ende des Spitalaufenthalts die Autonomie, insbesondere bei den ADL, zurückgegangen. Dieser Autonomieverlust nimmt mit dem Alter beständig zu und erreicht schliesslich bei Patienten ab 90 Jahren 63% [7].
Die mit dem Verlust der Funktionsfähigkeit aufgrund von Bettruhe verbundenen Komplikationen treten bereits während der Hospitalisation auf. So wird die (altersbereinigte) Zahl der Stürze im Spitalbereich in der Schweiz auf 10 pro 1000 Patiententage geschätzt [12]. Überdies verlängert sich bei älteren und gebrechlichen Patienten die Dauer des Spitalaufenthalts, wodurch das Risiko für Komplikationen noch stärker steigt [13]. Auch nach Spitalaustritt bleibt das Sturzrisiko erhöht. In den ersten zwei Wochen nach der Entlassung treten 8 Stürze pro 1000 Personentage auf, gegenüber 1,7 pro 1000 Personentage drei Monate später [9].
Zu den langfristigen Komplikation des Verlusts der Funktionsfähigkeit älterer Patienten zählt der Langzeit­aufenthalt in Alters- und Pflegeheimen (bis zu 13–14%) [1, 14]. Tatsächlich bestehen die funktionellen Einschränkungen durch den Spitalaufenthalt häufig noch über ein Jahr nach der Entlassung fort [5, 15]. Auch das Mortalitätsrisiko ist nach einem Spitalaufenthalt im Vergleich zu nicht hospitalisierten Senioren deutlich höher [1, 13] und lässt sich anhand der Funktionsfähigkeit zum Zeitpunkt des Spitaleintritts, wie zum Beispiel dem Vorliegen von Einschränkungen im Bereich der ADL, einer kognitiven Beeinträchtigung (Mini-Mental-Status-Testergebnis von <20) oder der Stimmung («Geriatric Depression Scale» ≥7), vorhersagen [16].

Wie kann der Verlust der Funktionsfähigkeit im Spital verringert werden?

Bereits in den 1960er-Jahren stellte die amerikanische Gesundheitsbehörde fest, dass der Kampf gegen den Verlust der Funktionsfähigkeit und Autonomie aufgrund fehlender Mobilisation und Bettruhe während eines Spitalaufenthalts zu den zehn wahrscheinlich nützlichsten gesundheitspolitischen Massnahmen zählt. Auf speziellen akut-geriatrischen Stationen («Acute Care for the Ederly Units», Stationen für die Akutversorgung von Senioren) sind die frühzeitige Mobilisation und Förderung körperlicher Aktivität («Prerehabilitation») ein fester Bestandteil der Versorgung. In mehreren Metaanalysen wurden die positiven Auswirkungen dieses Vorgehens auf die Funk­tionsfähigkeit sowohl während (um ~20% geringeres Risiko des Verlusts der Funktionsfähigkeit [17]) als auch nach dem Spitalaufenthalt (~2,2- bzw. 1,2-fach höhere Wahrscheinlichkeit, 6 bzw. 12 Monate nach dem Spitalaustritt noch zuhause zu wohnen [18]) nachgewiesen.
Vor Kurzem wurde in einer randomisierten Studie der Einfluss eines Programms zur Mobilitätsförderung im Spital auf die funktionelle Unabhängigkeit älterer Menschen untersucht [19]. Ca. hundert durchschnittlich 74 Jahre alte Patienten wurden während der Hospitalisation auf einen Studienarm mit Standardbehandlung respektive auf einen mit verstärkter Mobilisation randomisiert. Ein Monat nach Spitaleintritt lag die Gehfähigkeit der Patienten mit verstärkter Mobilisation, im Gegensatz zu den Patienten unter Standardbehandlung, auf dem Niveau vor der Aufnahme. Diese Studie bestätigt, dass ein Programm zur verstärkten Mobilisation während des Spitalaufenthalts dazu beiträgt, den Verlust der Funktionsfähigkeit zum Teil zu verhindern.
Ausserdem verkürzt eine frühzeitige Mobilisation die Hospitalisationsdauer und verbessert die Fähigkeit, die ADL unabhängig zu bewältigen [20, 21]. Auch die Erholung nach chirurgischen Eingriffen aller Art wird auf diese Weise beschleunigt [22].
Angesichts der vielfältigen Vorteile der Mobilisation älterer Patienten während des Spitalaufenthalts müssen wir alle als Betreuende unsere Anstrengungen bündeln, um eine frühzeitige Mobilisation zu fördern und die dafür erforderlichen ergonomischen Voraussetzungen zu gewährleisten [23, 24]. Dabei sollten einfache Empfehlungen befolgt werden: barrierefreie Betten, Vermeidung möglichst aller Massnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken (einschliesslich Venen- und Blasenkatheter) sowie die beständige Unterstützung von Bewegung durch alle Pflegenden [8]. Überdies stellen einfache Massnahmen wie die Gestaltung des Spitalzimmers mit vertrauten Gegenständen und Fotografien sowie die Einnahme gemeinsamer Mahlzeiten für ältere Menschen wichtige Anregungen dar. Auch sollte durch Licht sowie den Zugang zu Zeitschriften und Büchern die sensorische Stimulation gefördert werden.

Schlussfolgerung

Bettruhe oder begrenzte Mobilität (Transfer vom Bett auf den Stuhl und zurück) während eines Spitalaufenthalts führen rasch zur Dekonditionierung und zum Verlust der Gehfähigkeit älterer Spitalpatienten. Dies stellt einen Hauptrisikofaktor für Komplikationen während und nach der Hospitalisation dar. Eine frühzeitige Mobilisation verbessert die Prognose der Funktionsfähigkeit dieser Patienten, weshalb alle Pflegenden im Alltag entsprechend darauf achten sollten.
Dies ist der fünfte Beitrag einer sechsteiligen Artikelserie zu «Smarter Medicine» im Swiss Medical Forum. Der letzte Beitrag erscheint in der nächsten Ausgabe. Eine Parallelpublikation der Artikel erfolgt in der Revue Médicale Suisse.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Gérard Waeber
Service de médecine interne
BH10-628
CHUV
CH-1011 Lausanne
gerard.waeber[at]chuv.ch
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 4 Politique cantonale vieillissement et santé. 2011. (Accessed 18.10.2016, at http://www.vd.ch/fileadmin/user_upload/themes/sante_social/services_soins/rapport_version_finale-11janv2012.pdf.)
 5 Boyd CM, Xue QL, Guralnik JM, Fried LP. Hospitalization and development of dependence in activities of daily living in a cohort of disabled older women: the Women’s Health and Aging Study I. The journals of gerontology Series A, Biological sciences and medical sciences 2005;60:888–93.
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23 Doherty-King B, Bowers BJ. Attributing the responsibility for ambulating patients: a qualitative study. International journal of nursing studies. 2013;50:1240–6.
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