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In der Schweiz sterben jährlich drei bis vier Personen aufgrund einer schweren allergischen Reaktion nach einem Insektenstich. In dieser Übersichtsarbeit werden die wichtigen Insekten, Risikofaktoren, klinischen Manifestationen und die Akutbehandlung allergischer Reaktionen nach Insektenstichen besprochen. Die neuesten diagnostischen Verfahren wie auch die Therapien, speziell die Insektengift- spezifische Immuntherapie, werden dargelegt.
Einleitung
Die Insekten sind mit weit über 1 Million Spezies die artenreichste Klasse des Tierreichs. Insektenstiche gehören neben Arzneimitteln und Nahrungsmitteln zu den häufigsten Ursachen schwerer, allergischer Reaktionen. In Mitteleuropa werden allergische Symptome hauptsächlich durch Stiche von Hautflüglern (Hymenopteren) ausgelöst. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Ordnung gehören die Honigbiene und die Wespe, aber auch die Hornisse, die Hummel oder die Ameise. Der Stachel wird sowohl zur Verteidigung als auch zum Angriff mit Tötung von Beutetieren eingesetzt.
Beim Menschen führen Hymenopterenstiche meistens zu einer schmerzhaften lokalen Schwellung. Als Folge einer Sensibilisierung kann es zur Bildung von spezifischen IgE-Antikörpern gegen Giftproteine kommen, welche bei erneuten Stichen zu allergischen Allgemeinreaktionen führen können. Schwere, anaphylaktische Reaktionen können potenziell tödlich verlaufen. Die Inzidenz fataler Ereignisse wird zwischen 0,03 bis 0,48 pro Million Einwohner geschätzt. In der Schweiz sterben durchschnittlich drei bis vier Menschen pro Jahr.
Als Risikofaktor für schwere Allgemeinreaktionen nach Insektenstichen hat sich eine erhöhte Serumtryptase erwiesen, weshalb die Bestimmung dieser Serinprotease zur Diagnostik einer Insektengiftallergie gehört. Bei allen Patienten mit einer schwereren Allgemeinreaktion ist eine allergologische Abklärung im Hinblick auf eine spezifische Immuntherapie mit Insektengift («venom immunotherapy», VIT) indiziert. Die VIT gilt als einzige kausale und effektive Behandlung einer Hymenopterengiftallergie. Die molekularen diagnostischen Entwicklungen mit Identifizierung giftspezifischer Allergene hat zur Verbesserung der Diagnostik geführt.
Entomologie
In Europa sind Insekten aus den beiden Familien der Apidae und Vespidae für allergische Ereignisse bedeutsam. Die wichtigsten Vertreter aus der Familie der Apidae sind die Honigbiene (Apis melifera) und die Hummel (Bombus terrestris, B. agrorum u.a.m.), aus der Familie der Vespidae die Kurzkopf- (z.B. Vespula germanica,V. vulgaris) und Langkopfwespe (z.B. Dolichovespula media, D. saxonica) sowie die Hornisse (z.B. Vespa crabro) [1]. Stiche der Feldwespe (z.B. Polistes dominulus, P. gallicus) sind vor allem in den Mittelmeerländern für allergische Allgemeinreaktionen verantwortlich. In Mittel- und Nordeuropa kommen Polistes-Arten seltener vor, wobei sie sich in den letzten Jahren zusehend Richtung Norden verbreitet haben. Neu eingeschleppt wurde die asiatische Hornisse Vespa velutina, die sich seit 2005 ausgehend von Südfrankreich schnell Richtung Norden ausbreitet [2]. Im Gegensatz zu anderen Wespenarten zeigt speziell die Kurzkopfwespe eine Vorliebe für menschliche Nahrungsmittel, weshalb Stiche häufig im Zusammenhang mit dem Essen oder dessen Zubereitung erfolgen. Stiche von Hornissen und Langkopfwespen ereignen sich dagegen fast nur in Nestnähe.
Morphologisch unterscheiden sich die Bienen von den Vespidae durch den deutlich stärker behaarten Körper. Das Abdomen ist bräunlich und im Gegensatz zu den Vespidae ohne ausgeprägte Querstreifung. Da der Bienenstachel mit Widerhaken versehen ist, bleibt er nach dem Stich in der Regel in der Haut stecken. Aber auch Wespen können gelegentlich den Stachel verlieren. Bienenstiche ereignen sich bereits ab dem Frühjahr, Wespenstiche hingegen meist nach dem Sommer.
Die Giftzusammensetzung der Vespiden ist zwar ähnlich, aber nicht identisch. So weist das Gift der Hornisse und der Langkopfwespe eine hohe Kreuzreaktivität mit jenem der Kurzkopfwespe auf. Unterschiede gibt es aber zum Gift der Feldwespe. Auch das Gift der Honigbiene und der Hummel weist eine gewisse Kreuzreaktivität auf, was bei der Indikationsstellung der VIT zu berücksichtigen ist. Die Giftmenge, die nach einem Stich in den Körper des Opfers oder eines Menschen gelangt, variiert zwischen den einzelnen Insektenarten. Bienen geben pro Stich rund 50 μg und Wespen zwischen 2 und 14 μg Gift ab [3].
Klinische Manifestationen
Nicht jede Hautreaktion nach einem Insektenstich ist mit einer Allergie gleichzusetzen. Das richtige Erkennen einer Reaktion erleichtert eine korrekte Einordnung der Symptomatik, was für den Entscheid einer allfälligen Diagnostik und Behandlung hilfreich ist. Die Stichreaktionen werden in normale lokale, schwere lokale, systemisch-toxische, systemisch-allergische und ungewöhnliche Reaktionen kategorisiert (siehe Tab. 1).
Tabelle 1: Klinische Manifestationen nach Hymenopterenstichen. | ||||
Art der Reaktion | Symptomatik | Akutbehandlung | Pathogenese | Abklärung |
Normalreaktion | – Hautschwellung von <10 cm – Dauer: <24 h | Antiphlogistische Massnahmen | Nicht allergisch bedingt | Nicht indiziert |
Schwere Lokalreaktion | – Hautschwellung von >10 cm (gelegentlich groteskes Ausmass, z.B. Schwellung des ganzen Arms von den Fingern bis zur Schulter) – Dauer >24 h – Selten begleitende Symptome: Lymphadenopathie, Lymphangitis, Fieber, Malaise, Kopfweh | – Antiphlogistische Massnahmen (Kühlung der Stichstelle, Hochlagerung) – Nichtsteroidale Antirheumatika (lokal und systemisch) | Nicht allergisch bedingt | Nicht indiziert (kein erhöhtes Risiko einer zukünftigen Allgemeinreaktion) |
Toxische Reaktionen | – Rhabdomyolyse, intravaskuläre Hämolyse, Koagulationsstörungen, Nieren-
und Leberschäden sowie Myokardschäden, Leberdysfunktion, Hirnödem – Lebensbedrohliche Reaktionen: ab 100 Stichen bei Erwachsenen und ab 50 Stichen bei Kindern | Symptomorientiert | – Zytotoxische Wirkung von Melittin, Phospholipasen und Kininen nach multiplen Hymenopterenstichen – In der Regel nicht allergisch bedingt | Abklärung in Erwägung ziehen |
Allergische Systemreaktion | Nach den Kriterien von H.L. Mueller eingeteilt (siehe Tab. 2) | – Je nach Schwergrad – Milde Reaktionen (z.B. isolierte Urtikaria): Antihistaminikum und Kortikosteroide. – Anaphylaxie: Adrenalin i.m. (0,1 mg pro 10 kg Körpergewicht), Antihistaminikum und Kortikosteroide (p.o. oder i.v.), allenfalls Volumen- und Sauerstoffgabe (siehe auch Tab .4) | Allergisch bedingt | Abklärung im Hinblick auf eine VIT («venom immunotherapy»)indiziert |
Ungewöhnliche Reaktionen | Unter anderem: Lymphadenopathie, periphere Neuropathien, extrapyramidale Syndrome, akute disseminierte Enzephalomyelitis, Arthralgien, Vaskulitiden, glomerulo- und interstitielle Nephritis | Symptomorientiert | Weder IgE-vermittelter noch toxischer Mechanismus | Abklärung in Erwägung ziehen |
Allergischen Systemreaktion nach Hymenopterenstich
Nach jedem Insektenstich kann sich eine Sensibilisierung auf Komponenten des Gifts ausbilden, das heisst, es kommt zur Produktion von spezifischen IgE-Antikörpern. Bei erneuten Stichen können sich als Konsequenz dieser Sensibilisierung allergische Reaktion entwickeln.
Die Einteilung des Schwergrades einer Insektengiftallergie erfolgt in der Schweiz mehrheitlich nach den Kriterien von H.L. Mueller (Tab. 2). Eine zweite Kategorisierung ist die von Ring & Messmer, welche vorwiegend in Deutschland verwendet wird. Die beiden Einteilungen sind hinsichtlich der Symptome und Klassifizierung aber nicht identisch.
Tabelle 2: Einteilung der allergischen Allgemeinreaktionen nach H.L. Mueller und Indikation zur spezifischen Immuntherapie mit Insektengiften («venom immunotherapy», VIT). | ||
Schwergrad | Klinische Manifestation | Indikation zur VIT |
I | Generalisierte Urtikaria, Juckreiz, Malaise, Angst | Keine Indikation, weder bei Kindern noch Erwachsenen. Ausnahmen: Hochrisikopersonen, z.B. Imker, Dachdecker, Buschauffeur usw. |
II | Jede des Vorgrades plus 2 oder mehrere der Folgenden: Angioödeme (Fernödem als Einzelsymptom = Grad II), Druckgefühl in der Brust, Nausea, Erbrechen, Bauchkolik, Diarrhoe, Schwindelgefühl | Keine generelle Indikation. In ausgewählten Situationen (Risikogruppen, starke Angst) in Erwägung ziehen. |
III | Jede der Vorgrade plus 2 oder mehrere der Folgenden: Dyspnoe, Wheezing, Stridor (jede Form der Atemnot = Grad III); Dysphagie, Dysarthrie, Heiserkeit; Schwächegefühl, Verwirrtheit, Todesangst | Indiziert und empfohlen |
IV | Jede der Vorgrade plus 2 oder mehrere der Folgenden: Blutdruckabfall (allgemeiner Kraftverlust, massiver Schwindelanfall), Kollaps, Bewusstseinsverlust, Urin-/Stuhlinkontinenz, Zyanose | Indiziert und empfohlen |
Die Prävalenz einer allergischen Systemreaktion nach einem Hymenopterenstich wird zwischen 0,3–8,9% geschätzt [1, 4]. Das Risiko steigt mit der Häufigkeit von Stichen und ist besonders hoch, wenn sich zwei Stiche innerhalb von kurzer Zeit ereignen [5]. Atopiker weisen kein höheres Risiko auf, allergisch auf einen Hymenopterenstich zu reagieren, als Nichtatopiker. Das Rückfallrisiko hingegen hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie vom Alter, der Indexreaktion oder auch von Medikamenten (Tab. 3). Nach einer leichten Allgemeinreaktion liegt das Risiko einer erneuten Systemreaktion nach einem Hymenopterenstich beim Erwachsenen bei ~30%, nach einer schweren bei 50–70%. Kinder (<12 Jahren) haben generell ein niedrigeres Rückfallrisiko als Erwachsene [6].
Tabelle 3: Risikofaktoren für erneute systemische Reaktionen nach Hymenopterenstichen. |
Erhöhtes Expositionsrisiko |
Beruflich: Imker, Landwirt, Waldarbeiter, Obst- oder Bäckereiverkäufer, Feuerwehrmann, Gärtner |
Hobbys: Radfahren, Motorradfahren, Gartenarbeiten |
Grunderkrankungen oder Situation |
Erhöhte basale Serumtryptase und Mastozystose |
Schwere Kardiovaskuläre Erkrankungen |
COPD (GOLD III–IV) |
Schweres Asthma |
Erhöhtes Alter (>70 Jahre) |
Behandlung mit Betablockern oder Angiotensin-Converting-Enzyme-(ACE)-Hemmern |
Vorbedingung |
Das Risiko steigt, wenn zwei Stiche innerhalb einer kurzen Zeitspanne erfolgen. |
Schwergrad einer früheren Stichreaktion |
Alter (Kinder haben ein niedriges Rückfallrisiko als Erwachsene) |
Bienengiftallergiker haben im Allgemeinen ein höheres Rückfallrisiko als Wespengiftallergiker |
Ein klar erhöhtes Rückfallrisiko besteht bei Personen mit einer erhöhten basalen Serumtryptase [7, 8]. Bei basalen Tryptasewerten >20 μg/l ist an das Vorliegen einer Mastozytose zu denken. Je nach klinischer Manifestation und therapeutischer Konsequenzen sind weitere Abklärungen erforderlich [9, 10].
Akutbehandlung einer Allgemeinreaktion nach einem Insektenstich
Das Behandlungsprinzip jeder allergischen Reaktion ist unabhängig von Alter, Auslöser oder klinischem Stadium uniform. Milde Reaktionen wie isolierte Urtikaria und/oder leichte Gesichtsschwellung können mit einem Antihistaminikum behandelt werden. Zu vermerken ist, dass ein Therapieeffekt nach oraler Gabe frühestens nach einer halben Stunde erwartet werden kann. Obschon vielfach anders gehandhabt, sind Kortikosteroide keine primären Notfallmedikamente bei der Anaphylaxie. Selbst intravenös verabreicht ist von dieser Substanzklasse frühestens nach einer Stunde eine gewisse Wirksamkeit zu erwarten. Laut Empfehlung der «World Allergy Organization» (WAO) und vieler internationaler oder nationaler Leitlinien ist Adrenalin bei Anaphylaxie und jeder allergischen Allgemeinreaktion das Medikament der Wahl [11, 12]. Für den Einsatz von Adrenalin bei einer schweren allergischen Reaktion besteht keine absolute Kontraindikation. Adrenalin soll immer intramuskulär und nicht subkutan verabreicht werden! Der idealste Ort für die intramuskuläre Gabe von Adrenalin ist der anterolaterale Bereich des Oberschenkels. Beim Erwachsenen soll die Initialdosis wenigstens 0,3–0,5 mg betragen (Faustregel 0,1 mg pro 10 kg Körpergewicht [KG]). Falls nach 3–5 Minuten kein Therapieeffekt ersichtlich ist, soll die Adrenalingabe repetiert werden. Nach der Gabe von Adrenalin soll möglichst rasch ein venöser Zugang gelegt und Volumen zugeführt werden (bei schweren Reaktionen 50–100 ml/10 kg KG in den ersten 5–10 Minuten). Falls vorhanden, soll auch Sauerstoff gegeben werden (Maske 40–60%, Brille 8–10 l/min). Bei ungenügender Stabilisierung des Kreislaufs ist Adrenalin stark verdünnt intravenös oder am Perfusor unter Überwachungsbedingungen zu verabreichen (Tab. 4) [13].
Tabelle 4: Akutbehandlung einer anaphylaktischen Reaktion. | |
Allgemeine Massnahmen | |
– Schocklagerung und Sichern der Atemwege – Kontrolle der Vitalparameter: Blutdruck, Puls, Atmung, Pulsoxymetrie – Sauerstoffzufuhr via Maske/Brille – Falls nötig: Reanimation, Defibrillation | |
Medikamentöse Massnahmen | |
Erwachsene | Kinder |
Adrenalin – Faustregel 0,1 mg pro 10 kg Körpergewicht (KG) i.m. – Anfangsdosis: 0,3–0,5 mg i.m. – Bei fehlendem Ansprechen Wiederholungsgaben alle 3–5 min. | Adrenalin – 0,01 mg/kg KG i.m – Bei fehlendem Ansprechen Wiederholungsgaben alle 3–5 min. |
Venöser Zugang
und Volumengabe (z.B. NaCl 0,9%, Elektrolytlösung, kolloidale Lösung) – 0,5–1 l ggf. bis 2–3 l je nach Ansprechen | Venöser Zugang
und Volumengabe (z.B. NaCl 0,9%, Elektrolytlösung, kolloidale Lösung) – 20 ml/kg KG |
Antihistaminika – H1-Rezeptorenblocker: z.B. Clemastin 2 mg i.v. (langsam!) – H2-Rezeptorenblocker: z.B. Ranitidin 150 mg (fakultativ, aber in Kombination mit H1) | Antihistaminika – H1-Rezeptorenblocker: z.B. Clemastin 0,025–0,05 mg/kg KG i.v. (langsam!) |
Glukokortikoide – Methylprednisolon: 125–500 mg i.v. | Glukokortikoide – Methylprednisolon: 2 mg/kg KG i.v. |
Inhalatives kurzwirksames Beta-2-Mimetikum – Salbutamol Dosieraerosol: 2–6 Hübe | Inhalatives kurzwirksames Beta-2-Mimetikum – Salbutamol Dosieraerosol: 2–6 Hübe |
Allergie-Notfallset für die Selbstbehandlung
Jeder Patient mit einer durchgemachten Allgemeinreaktion nach einem Insektenstich soll Notfallmedikamente für eine allfällige Selbstbehandlung mit sich führen. Das Notfallset setzt sich aus Antihistaminika (z.B. 2 Tabletten Levocetirizin, Cetirizin oder Fexofenadin) kombiniert mit einem Kortikosteroidpräparat (z.B. Prednisolon 2 Tabletten 50 mg) zusammen. Anstelle der Tabletten können bei Kleinkindern Antihistaminika-Tropfen (z.B. Cetirizin-Tropfen 0,25 mg/kg KG) zusammen mit wasserlöslichen Kortisontabletten (z.B. Betnesol® 0,2–0,5 mg/kg) verordnet werden. Nach jeder Systemreaktion soll zusätzlich immer ein Adrenalin-Autoinjektor (Epipen®, Jext®) rezeptiert werden [12]. Jeder Patient sollte einen Behandlungsplan erhalten und korrekt in der Handhabung des jeweiligen Adrenalin-Injektors instruiert worden sein. Zur Optimierung des Anaphylaxie-Managements und des Trainings bei Verwendung von Adrenalin-Autoinjektoren werden Schulungen für Betroffene, Eltern, Lehrkräfte usw. durch aha! Allergiezentrum Schweiz angeboten.
Allergologische Abklärung
Jeder Patient soll nach einer Allgemeinreaktion nach einem Hymenopterenstich einer allergologischen Beurteilung vor allem im Hinblick auf eine VIT überwiesen werden. Zwar ist der optimale Zeitpunkt für eine allergologische Abklärung nicht klar definiert, aber in der Regel findet diese drei bis vier Wochen nach einem akuten Ereignis statt.
Basis ist die Anamnese. Dabei interessiert unter anderem das kausale oder vermutete Insekt, die Stichlokalisation, das Intervall zwischen Stich und Auftreten der Erstsymptome, Ausmass und Verlauf der Symptome, Behandlung und Ansprechen der Therapie, sowie allfällige Risikofaktoren (Tab. 3). Eine spezifische Diagnostik mittels Hauttests und/oder Bestimmung der allergenspezifischen IgE-Antikörper soll erfolgen, wenn sie zur Einordnung unklarer Reaktion beiträgt oder falls sich daraus therapeutische Konsequenzen ergeben. Da rund 40% der Bevölkerung eine asymptomatische Sensibilisierung auf Insektengifte aufweisen, ist eine prädiktive Testung für eine Insektengiftallergie nicht sinnvoll. Vielmehr wird ein «positiver» Testbefund zu einer erheblichen Verunsicherung beim Patienten führen.
Diagnostik der Hymenopterengiftallergie
Die am besten validierte Testmethode ist die intradermale Hauttestung mit ansteigenden Konzentrationen von Bienen- und Wespengift (0,00001–1,0 µg/ml) (Abb. 1). Die kommerziell erhältlichen Pricktestlösungen (Konzentration 0,01–300 µg/ml) hingegen sind deutlich weniger sensitiv. Die giftspezifischen IgE-Antikörper gegen das Bienen- und Wespengift können mittels verschiedener Assays bestimmt werden. Die Komponenten-basierte molekulare Allergiediagnostik hat bei doppelpositiven Sensibilisierungen (bei 45–50% der Insektengiftallergiker) zu einer Verbesserung der Interpretation geführt [14–17]. Bei einer Doppelpositivität gilt es, möglichst zwischen einer Kreuzreaktivität und einer echten Doppelsensibilisierung abzugrenzen. Die Kreuzreaktivität zwischen Komponenten von Bienen- und Wespengift basiert einerseits auf der IgE-Reaktivität gegen Kohlenhydratseitenketten («cross-reaktive carbohydrate determinants», CCD) und anderseits auf vergleichbaren Strukturen einzelner Allergene auf Proteinebene [15]. Das Hymenopterengift enthält über 100 Einzelkomponenten, unter anderem biogene Amine (z.B. Histamin), Peptide wie Mellitin und artenspezifische Allergene. Im Gift der Honigbiene (Apis melifera) konnten bis dato 12 Allergene (Api m 1–12) identifiziert werden, im Wespengift sind es sechs Allergene (Ves v 1-6). Eine Homologie strukturell ähnlicher Proteine wurde bei Dipeptidylpeptidasen (Api m 5 und Ves v 3), Hyaluronidasen (Api m 2 und Ves v 2) und Vitellogeninen (Api m 12 und Ves v 6) nachgewiesen. Dank der molekularbiologischen Technik können CCD-freie Allergene produziert werden, was eine exakte Zuordnung der Sensibilisierung und somit auch des kausalen Insekts erlaubt. Für die Wespengiftallergie stehen die rekombinanten Major- Allergene Ves v 5 und Ves v 1 zur Verfügung. Die Testsensitivität bei Bestimmung beider Allergene beträgt 97%. Für die Bienengiftallergie stehen Api m 1, Api m 10 und seit Kurzem auch Api m 2, Api m 5 und Api m 3 zur Verfügung. Mit diesen fünf Bienengiftkomponenten kann eine Detektionsrate von 93% erreicht werden. Vorher – mit Api m 1 und Api m 10 – lag diese bei 86,8% [17].
In seltenen Fällen, kann die Testung trotz suggestiver Anamnese negativ auf beide Insektengifte ausfallen. Falls das zeitliche Intervall zwischen allergischer Reaktion und Testung weniger als drei Wochen betrug, soll letztere nach einigen Wochen wiederholt werden. Wurden Pricktests verwendet, empfiehlt sich die Applikation der sensitiveren Intradermaltests. Ferner können Zusatzuntersuchungen wie der Basophilen-Aktivierungstest (BAT) in Betracht gezogen werden [18]. Wird mittels Zweittestung und ergänzender Analysen erneut keine Sensibilisierung nachgewiesen, ist die Durchführung einer VIT nicht indiziert. Diese Patienten sollen aber alle mit Notfallmedikamenten, inklusive Adrenalin-Autoinjektor, ausgerüstet werden. Von diagnostischen Provokationstests mit lebenden Insekten raten wir ab.
Spezifische Immuntherapie mit Insektengiften: Indikationen
Die Wirksamkeit der VIT, der einzigen kausalen und effektiven Behandlung der Insektengiftallergie, wurde in den letzten 35 Jahren durch mehrere prospektive und kontrollierte Studien bestätigt [4, 19–21]. Bei jedem Patienten mit einer Systemreaktion nach einem Hymentopterenstich mit Beteiligung der Atemwege und/oder des Kreislaufssystems (Schwergrad III und IV nach H. L. Mueller) ist die Indikation zur VIT gegeben. Auch bei hohem Stichexpositionsrisiko (Imker, Landschaftsgärtner, Landwirte) oder bei speziellen Risikoberufen (Chauffeure, Piloten, Dachdecker) oder bei nachgewiesener Mastozytose ist die VIT die Therapieoption der Wahl [20, 23]. Selbstverständlich sind auch weitere Faktoren wie zum Beispiel begleitende Herz- oder Lungenkrankheiten oder Einschränkung der Lebensqualität aufgrund von Angst oder Panikattacken zu berücksichtigen. Andererseits gelten schwere Lokalreaktionen – auch wenn diese eine ganze Extremität umfassen sollten – grundsätzlich nicht als Indikation einer VIT. Auch bei ungewöhnlichen und toxischen Reaktionen (z.B. >100 Wespenstiche) ist die VIT nicht angezeigt.
Einleitung und Durchführung der VIT
Die Einleitung der VIT soll durch den Allergologen erfolgen. Dabei kann diese konventionell wöchentlich oder mittels Ultra-Rush (rasche Steigerung bis zur Erhaltungsdosis innerhalb eines Tages) initiiert werden [24] Im Allgemeinen beträgt die Erhaltungsdosis 100 μg des entsprechenden Gifts sowohl für Kinder wie auch für Erwachsene. Diese Dosis entspricht etwa zwei Bienen- und mehreren Wespenstichen. Bei Patienten, bei denen diese Erhaltungsdosis nicht ausreichend protektiv ist, wird die Dosis verdoppelt. Bei Personen mit erhöhtem Expositionsrisiko, vor allem aber bei Imkern, wird a priori eine Erhaltungsdosis von 200 μg angestrebt.
Die Fortsetzungsbehandlung kann durch den Hausarzt übernommen werden. Im ersten Behandlungsjahr werden die Injektionen alle vier Wochen verabreicht. Ab dem zweiten Behandlungsjahr kann das Injektionsintervall bei problemlosem Verlauf auf sechs Wochen ausgedehnt werden. Im Gegensatz zu Immuntherapien bei Aeroallergien beträgt die Dauer der VIT in der Regel fünf Jahre [19]. Gemäss kontrollierten und prospektiven Untersuchungen beträgt die Effektivität der VIT bei einer Wespengiftallergie >95% und bei einer Bienengiftallergie 80–85% [19, 22, 25]. Patienten mit schweren Indexreaktionen, ausgeprägten kardiovaskulären oder pulmonalen Komorbiditäten, bei systemischer Mastozytose oder Patienten mit deutlicher erhöhter basaler Serumtryptase sind alle Kandidaten für eine längere, allenfalls sogar auch eine lebenslange VIT [7, 24].
Nebenwirkungen und Kontraindikationen
Lokalreaktionen an der Injektionsstelle treten vor allem zu Beginn der Behandlung bei vielen Patienten auf. Diese verlieren sich aber meist im Lauf der Therapie und über die Jahre. Allergische Allgemeinreaktionen werden überwiegend in der Einleitungsphase der VIT beobachtet (5–20%). Schwere Ereignisse sind aber sehr selten. Nebenwirkungen treten häufiger bei einer VIT mit Bienen- als mit Wespengift auf und sind häufiger beim Ultra-Rush als bei einer konventionellen Aufdosierung. Systemische Nebenwirkungen treten bei Personen mit einer erhöhten basalen Serumtryptase häufiger auf. Für den individuellen Komfort und um lokale Reaktionen einzudämmen, wird die Einleitung einer VIT meist unter prophylaktischer Einnahme eines Anthistaminikums durchgeführt.
Kontraindikationen einer VIT sind nicht anders als bei anderen Immuntherapien z.B. mit Pollen [26]. Aufgrund der Erkenntnisse der letzten Jahre gelten Immundefizienzen (z.B. HIV-Infekte) oder Autoimmunerkrankungen nicht mehr generell als Kontraindikation für eine VIT [27, 28]. Während einer Schwangerschaft soll eine VIT nur in ausgewählten Fällen begonnen werden. Hingegen kann diese, falls die Erhaltungsdosis gut vertragen wird, bei Eintritt einer Schwangerschaft weitergeführt werden. Wir empfehlen aber immer, das Vorgehen mit der Patientin zu besprechen.
Ausblick
Die VIT ist die erfolgreichste allergenspezifische Immuntherapie. Dank der Entwicklung in der Komponenten-basierten molekularen Allergiediagnostik mit immer grösserer Anzahl charakterisierter Hymenopterengiftallergene kann das kausale Insekt identifiziert und somit die Indikation zur VIT präziser gestellt werden.
In einigen Studien wurden alternative Applikationsmethoden der VIT untersucht (z.B. intralymphatisch, sublingual). Trotz zum Teil ansprechender Daten sind diese Therapieoptionen bei einer Hymenopterengiftallergie nicht etabliert und auch nicht für den Alltag in der Praxis zugelassen [29, 30]. Wünschenswert wäre eine Optimierung des Sicherheitsprofils der VIT vor allem mit Bienengift. Es wurden bereits klinische Untersuchungen mit dem modifizierten Hauptallergen (Api m 1) mit abgeschwächter IgE-Bindung, aber erhaltener spezifischer T-Zell-Interaktion durchgeführt. Allerdings waren die Ergebnisse enttäuschend, da nur drei von fünf Patienten nach Abschluss der Behandlung eine Stichprovokation ohne allergische Allgemeinsymptome tolerierten [31]. Die Anwendung der Peptid-basierenden Therapie sowie auch eine DNA-Vakzinierung sind in naher Zukunft eher unwahrscheinlich.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Kopfbild: © Yung-chao Chen | Dreamstime.com
Prof. Dr. med. Arthur
Helbling,
Universitätsklinik für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie
Inselspital
Freiburgstrasse 8
CH-3010 Bern
Arthur.Helbling[at]insel.ch
Prof. Dr. med. Arthur
Helbling
Universitätsklinik für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie
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