Polyneuropathien
Wann ist ein Neurologe hinzuzuziehen?

Polyneuropathien

Übersichtsartikel AIM
Ausgabe
2017/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02914
Schweiz Med Forum 2017;17(14):324-329

Affiliations
a Unité Nerf-Muscle, Service de Neurologie, Département des Neurosciences Cliniques, CHUV, Lausanne
b Cabinet de neurologie, La Chaux-de-Fonds

Publiziert am 04.04.2017

Periphere Neuropathien kommen häufig vor und können sensible, motorische oder autonome Nervenfasern betreffen. Sie sind die Folge zahlreicher internistischer ­Ursachen oder einer primären Schädigung des Nervensystems.

Einleitung

Periphere Neuropathien (PN) sind ein häufiger Konsultationsgrund und können schwere Beeinträchtigungen zur Folge haben. Daher muss ihre Ätiologie rasch abgeklärt werden, um eine entsprechende Behandlung in die Wege zu leiten. Um Fehldiagnosen zu vermeiden, gibt es mehrere Empfehlungen. Am häufigsten werden diejenigen der «Haute Autorité de Santé» (HAS, oberste Gesundheitsbehörde) in Frankreich [1] und der Deutschen ­Gesellschaft für Neurologie [2] konsultiert. Auf diese bezieht sich der nachfolgende Review.
In diesem geht es um die Mononeuropathia multiplex ­sowie längenabhängige und nicht längenabhängige Polyneuropathien (PNP) wie die chronisch inflam­matorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) (Tab. 1). Auf fokale Neuropathien (Nervenkompres­sionssyndrome und Radikulopathien) wird nicht näher eingegangen.
Tabelle 1: Zu den peripheren Neuropathien oder Schädigungen des peripheren Nerven­systems gehören:
Die fokalen Neuropathien, die Nervenkompressionssyndrome, die traumatisch bedingtenNeuropathien und Radikulopathien; meist infolge mechanischer Belastungen auftretend
Die Mononeuropathia multiplex (gleichzeitige oder zeitlich versetzte Beteiligung mehrerer Nervenstränge) mit asymmetrischer Verteilung der Ausfälle; meist infolge einer Vaskulitis auftretend (systemische Erkrankung, Infektionen wie Lepra usw.)
Die Polyneuropathien (PNP), welche durch eine symmetrische Schädigung der sensiblen, motorischen oder autonomen Nervenfasern ohne systematische Rumpf- oder Wurzel­beteiligung gekennzeichnet sind.
– Die längenabhängigen PNP (distaler Befall, überwiegend an den Beinen), die üblicherweise durch eine metabolische, toxische oder genetische neuronale bzw. axonale Schädigung bedingt sind.
– Die nicht längenabhängigen PNP oder Polyradikuloneuropathien (proximaler und distaler Befall, manchmal auch mit Rumpf- und Hirnnervenbeteiligung), welche ­häufig durch eine entzündliche Schädigung der Schwann-Zellen oder Myelinscheiden bedingt sind. Diese können sich chronisch, z.B. in Form einer chronisch inflamma­torischen demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP) oder akut (in Form des ­Guillain-Barré-Syndroms) äussern.
Es soll Antwort auf die folgenden, hauptsächlich aus den Empfehlungen der HAS übernommenen Fragen gegeben werden:
– Wann besteht der Verdacht auf eine PN?
– Welche Ursachen sollten zuerst abgeklärt werden?
– Welches sind die wichtigsten klinischen und elektrophysiologischen Klassifizierungsmerkmale vor der ätiologischen Diagnostik?
– Wann ist eine Nervenbiopsie indiziert?
– Warum und wie sollten das Auftreten und die Progression einer möglichen kausalen PNP überwacht werden?
– Welchen PN gilt das aktuelle Interesse?

Wann besteht der Verdacht auf eine PN?

PN können sich durch sensorische Positiv- (Parästhesien, Dysästhesien, Schmerzen) und Negativphänomene (Hypästhesien, Gleichgewichtsstörungen), motorische Positiv- (Krämpfe, Faszikulationen) und Negativphä­nomene (Schwäche, Muskelatrophie, Ermüdbarkeit) bemerkbar machen. In selteneren Fällen kann sich eine PN in Form von Beeinträchtigungen des autonomen Nervensystems (orthostatische oder postprandiale ­Beschwerden, motorische Diarrhoe, Völlegefühl, trophische, Schweiss-, Miktions-, Erektions- und Ejakulationsstörungen, Anhidrose) äussern oder wird zufällig aufgrund von Verdachtszeichen, wie Areflexie der Beine und gestörter Pallästhesie, im Rahmen einer systema­tischen klinischen Untersuchung bei unter 60-Jährigen festgestellt [1].
Die empfohlene klinische Untersuchung umfasst eine motorische, eine Reflex- und Sensibilitätsprüfung sowie eine körperliche Untersuchung (Tab. 2). Beim Verdacht auf neuropathische Schmerzen kann der DN4-Frage­bogen als Diagnosehilfe verwendet werden [3].
Tabelle 2: Bei peripherer Neuropathie empfohlene klinische Untersuchungen.
Beurteilung der proximalen und distalen Muskelkraft aller vier Gliedmassen gemäss der Klassifikation des «Medical Research Council» (0–5)*
Sehnenreflexe; Achilles-, Patellar-, Bizeps-, Trizepssehnen- und Supinator-longus-Reflex
Sensibilitätsprüfung auf Wärme-, Schmerz- und taktile Wahrnehmung**, 
Prüfung des Lagesinns und des Vibrationsempfindens
Suche nach Skelett- oder Gelenkdeformationen, Nervenhypertrophie (häufig bei ­hereditären Neuropathien)
Orthostase-Test mit arterieller Blutdruckmessung zuerst im Liegen, dann im Stehen (Dysautonomie)
Suche nach Anzeichen für systemische Erkrankungen (Hautläsionen, Arthritis, ­trockene Schleimhäute, Hepatosplenomegalie oder Adenopathien)
Augenuntersuchung (trockene Bindehaut, Pupillenveränderungen, Katarakt, ­Optikusatrophie, Uveitis)
* Das häufigste motorische Symptom ist eine Lähmung der Oberschenkelstreckerlogen, die sich 
als Steppergang äussert.
** Die «International Working Group on the Diabetic Foot» empfiehlt die Verwendung eines ­Monofilaments zur Prüfung der Berührungssensibilität (http://iwgdf.org/).

Welche Ursachen sollten zuerst ­abgeklärt werden?

Die initiale ätiologische Diagnostik erfolgt anhand der Anamnese durch den Erstversorger. Aus dieser leiten sich weitere Untersuchungen ab. Es empfiehlt sich abzuklären, ob ein Diabetes mellitus (Blutzuckereinstellung, Komplikationen, Dauer), Alkoholmissbrauch (>30 g/Tag, oder laut WHO 3 Gläser/Tag bei Männern und 2 Gläser/Tag bei Frauen), Ernährungsstörungen, eine systemische Erkrankung (AIDS, Krebserkrankung, Bluterkrankung, Vaskulitis usw.), eine Hypothyreose, eine Nierenin­suffizienz oder eine Hepatitis vorliegen, neurotoxische Medikamente (Vincristin, Cisplatin, Vinblastin, Doxyrobutin, Isoniazid, Amiodaron, Metronidazol, Ethambutol, Nitrofurantoin, Dapson, Malariabehandlung, antiretrovirale Behandlungen usw.) angewendet werden, eine Exposition gegenüber neurotoxischen Substanzen (Blei, Queck­silber, Polyacrylamid, Thallium, Arsen, organische Lösungsmittel, Acrylamid usw.) besteht, längere Aufenthalte in tropischen Ländern (Lepra) erfolgt und Hinweise auf Neuropathien in der Familienanamnese zu finden sind. PN haben unterschiedliche Ursachen und Schweregrade. Die häufigsten sind in ­Tabelle 3 aufgeführt.
Tabelle 3: Ursachen und Schweregrad der Polyneuropathien nach Häufigkeit. Es sind lediglich epidemiologische Daten über Diabetes mellitus und das Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Insgesamt weisen ca. 8% der Bevölkerung eine PN jeglicher Ursache auf.
Schwere SchädigungLeichte Schädigung
Diabetes mellitus* Alkoholmissbrauch
Guillain-Barré-Syndrom*Vitaminmangel-Polyneuropathien
Medikamente (Chemotherapie)*Niereninsuffizienz
Systemische Erkrankungen 
(Vaskulitis*; AIDS*; Hepatitis, Krebs)Hypothyreose
Chronische Polyradikuloneuritiden* 
und immunvermittelte PolyneuropathienMeningo-Polyradikulitis (Lyme-Krankheit)*
Entzündliche Ganglionopathien*Bestimmte genetisch bedingte Neuropathien
Bestimmte genetisch bedingte Neuropathien 
– Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT)
– Familiäre Amyloidose 
Lepra 
* mit neuropathischen Schmerzen; Neuropathien mit monoklonaler Gammopathie
Bereits die Anamnese kann Hinweise darauf liefern, ob es sich um eine hereditäre, toxische, medikamentöse oder metabolische Polyneuropathie handelt. So weist eine proximale Schwäche beispielsweise auf eine CIDP hin, während Hohlfüsse und Krallenzehen typisch für eine hereditäre Neuropathie sind.
Mithilfe einer initialen Laboruntersuchung (Tab. 4) können einige dieser Hypothesen bestätigt werden.
Tabelle 4: Als Goldstandard empfohlene Laboruntersuchungen* zur Ursachensuche bei peripherer Neuropathie.
Nüchternblutzucker, glykiertes Hämoglobin
Grosses Blutbild (Anämie, Makrozytose, Bluterkrankung)
Gamma-Glutamyltransferase, mittleres Eryhtrozytenvolumen, Disialo-Transferrin oder CDT (bei Alkoholkonsum)
Transaminasen (Hepatitis)
Kreatinin-Clearance (bei Niereninsuffizienz, die eine potentielle Medikamenten­intoxikation begünstigen kann)
C-reaktives Protein (CRP), Blutsenkungsgeschwindigkeit, Serumelektrophorese ­(Entzündungszeichen, Verdacht auf Bluterkrankung)
Thyreoidea-stimulierendes Hormon (TSH) und T4 (Hypothyreose)
Serumtest auf die wasserlöslichen Vitamine B1, B6, B12 und B9 (Vitaminmangel)
* Entsprechend des klinischen Erscheinungsbildes kann ein Bluttest auf HIV, Lyme-Krankheit, ­Hepatitiden und Syphilis empfehlenswert sein.
Ergibt die Erstuntersuchung keine Hinweise auf die Ätiologie, ist der Patient an einen Neurologen zu überweisen, um spezifischere und seltenere Ursachen, die bei malignen Bluterkrankungen, entzündlichen Erkrankungen, hereditären Formen oder Paraneoplasien bestehen, abzuklären. Nichtsdestotrotz ist bei ca. 20% der chronischen PN die Ursache unbekannt.

Sonderfall

Im Jahr 2010 wurden mehrere Empfehlungen der «European Federation of Neurological Societies» (EFNS) zur Diagnostik von motorischen Neuropathien, Neuro­pathien mit monoklonalen Gammopathien und CIDP veröffentlicht [4]. CIDP sind entzündliche PN mit der Besonderheit, dass sie gut auf eine Immunmodulation (durch Prednison und intravenöse Infusionen von Immunglobulinen) ansprechen. Die Diagnosestellung ­erfolgt anhand der Kombination eines heterogenen klinischen Erscheinungsbildes (chronischer schubweiser oder progressiver Verlauf seit >2 Monaten, sensomotorische Defizite an allen 4 Gliedmassen, proximale motorische Defizite, diffuse Areflexie, Sensibilitätsstörungen, die an den Armen beginnen, mögliche Beteiligung der Hirnnerven) mit demyelinisierenden Läsionen in der Elektroneuromyographie (ENMG).

Welches sind die wichtigsten klinischen und elektrophysiologischen Klassifi­zierungsmerkmale vor der ätiologischen Diagnostik?

Bei PN gibt es mehrere Klassifikationssysteme, nach Verlaufsform, Art der betroffenen Nervenfasern (vorwiegend motorische, sensible oder autonome Nervenfasern) und Entstehung (hereditär oder erworben) usw.
Diese sind für die Neurologen von Nutzen, da sie auf die jeweilige Ursache hinweisen. Nachfolgend sollen dazu mehrere Beispiele angeführt werden. Eine vollständige Liste ist in den Publikationen der HAS [1] und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zu finden [2]. Zur Veranschaulichung finden Sie in Abbildung 1 ­einen diagnostischen Entscheidungsbaum.
Abbildung 1: Diagnostischer Entscheidungsbaum bei peripherer Neuropathie. CIDP: Chronic Inflammatory Demyelinating ­Polyradiculoneuropathy; CMT: Charcot-Marie-Tooth-Disease; ENMG: Elektroneuromyographie; DM: Diabetes mellitus; 
HNPP: Hereditary Sensory Neuropathy with liability to Pressure Palsy; MMN: Multifocal Motor Neuropathy; GBS: Guillain-Barré syndrome; POEMS-Syndrom: ­Polyneuropathy, Organomegaly, Endocrinopathy, Monoclonal protein, Skin changes.

Art der betroffenen Nervenfasern

Motorische PN werden beispielsweise beim Guillain-Barré-Syndrom, bei CIDP, motorischer Neuropathie mit Leitungsblöcken, Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen, Porphyrie, Bleivergiftung oder Intoxikation mit Dapson beobachtet.
Bei sensiblen PN ist es wichtig, zwischen Störungen der thermischen Schmerzwahrnehmung und der Propriozeption zu unterscheiden. Bei einer überwiegenden Beeinträchtigung der kleinen Nervenfasern und des ­autonomen Nervensystems sollte an Diabetes mellitus, Alkoholmissbrauch, eine medikamentöse oder to­xische Ursache, eine familiäre oder systemische Amyloidose bzw. eine Mutation des Natriumkanals des ­peripheren Nervs gedacht werden. Zu den sensiblen ataktischen PN (mit gestörter Propriozeption) zählen die CIDP, das Guillain-Barré- und Miller-Fisher-Syndrom, die toxischen, urämischen, paraneoplastischen (Denny-Brown-Syndrom), entzündlichen (Sjögren-Syndrom), infektiösen (Rickettsien, Syphilis, Diphterie, HIV, HTLV-1), toxischen PN (Vitamin B6-, Cisplatin-Intoxikation ...), die IgM-Gammopathien und die heredi­tären sensiblen PN.

Chronischer Verlauf und Resultate der ENMG

Anhand der Anamnese und der klinischen Unter­suchung können PN in akute (<4 Wochen), subakute ­(einige Wochen bis Monate) und chronische Formen (mehrere Jahre) unterteilt werden.
Die ENMG ist für den Neurologen die Untersuchung der Wahl, da mit ihrer Hilfe der Befall der peripheren Nerven bestätigt und die Hauptlokalisation der Schädigung festgestellt werden kann. Dies führt zu folgender Unterteilung (Abb. 2):
Abbildung 2: Beispiele für die Nervenleitgeschwindigkeit. A: Normale Nervenleitgeschwindigkeitsparameter des Nervus medianus nach Stimulation am Handgelenk und Ellenbogen. B: Derselbe Nerv, jedoch mit Anomalien in Form eines beinahe vollständigen Leitungsblocks am Ellenbogen. Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Poly­neuropathie oder CIDP. C: Nervus ulnaris mit Stimulation am Handgelenk, unterhalb und oberhalb des Ellenbogens. Stark verringerte Nervenleitgeschwindigkeit als Hinweis auf eine demyelinisierende Neuropathie. In diesem Fall handelt es sich um eine hereditäre Neuropathie (Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung Typ 1).
Axonopathie: Verringerung der Amplitude des motorischen und sensiblen Potenzials proportional zum Axonuntergang. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist unauffällig.
Demyelinisierung: homo- oder heterogene Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit, Zunahme der distalen und proximalen Latenz, Leitungsblock oder vorübergehende Dispersion möglich.
Neuronopathie: der Ort der Schädigung liegt im Zellkörper der motorischen Neuronen im Rückenmark oder der sensiblen Neuronen im Spinalganglion. Es ist eine isolierte Schädigung der sensiblen (sensible Neuronopathie) oder motorischen Potenziale (motorische Neuronopathie) feststellbar.
Anhand der Verlaufsform und des ENMG-Resultats kann eine Differentialdiagnose gestellt werden. Beispiele bei PN:
– Eine akute motorische axonale PN kann auf die axonale Form des Guillain-Barré-Syndroms, Vaskuli­tiden, die Dekompensation einer diabetischen PN und Mangelernährung mit Alkoholmissbrauch hinweisen. Eine demyelinisierende PN kann auf das Guillain-Barré- oder Miller-Fisher-Syndrom hinweisen. Eine motorische Neuronopathie ist typisch für die Poliomyelitis und Flavivirus-Infektionen, wie die durch Zecken übertragene Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). Eine sensible Neuronopathie weist auf paraneoplastische Formen (Denny-Brown-Syndrom) und eine Vaskulitis auf das Sjögren-Syndrom hin.
– Eine chronische axonale PN lässt an eine Gammo­pathie, hereditäre PN (wie CMT2 und CMTX), eine familiäre oder systemische Amyloidose denken. Eine demyelinisierende PN lässt eine CIDP, eine monoklonale IgM-Gammopathie und hereditäre Formen (CMT1) vermuten. Zu den motorischen Neuronopathien zählen die spinale Muskelatrophie und die entzündliche oder hereditäre sensible Neuronopathie.

Welches Untersuchungsprotokoll bei der ENMG?

Vor der ENMG muss eine klinische Untersuchung er­folgen, anhand derer das Untersuchungsprotokoll festgelegt wird. Diese muss stets [1]: auf die Daten der ­Anamnese, der klinischen Untersuchung sowie der erhaltenen Resultate abgestimmt sein, die Lokalisation, die Art, den Schweregrad, die Ursache und den möglichen Verlauf der neurologischen Läsionen ermitteln. Sie soll lediglich dazu dienen, die erforderlichen Informationen zu erhalten, ohne dem Patienten unnötige Unannehmlichkeiten zu bereiten, die nicht im Verhältnis zum erwarteten diagnostischen Nutzen stehen. Zur Beurteilung und Überwachung einer klinisch homogenen symmetrischen PN bekannter Ursache (Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, neurotoxische Behandlung) ist nicht in jedem Fall eine ENMG erforderlich.
Entsprechend der vermuteten PN-Form werden folgende Untersuchungsprotokolle empfohlen:
Längenabhängige symmetrische PNP: Kurzprotokoll, wie von der HAS empfohlen, d.h. einseitige Untersuchung von 2–4 motorischen, 2–4 sensiblen Nerven und 2 Muskeln.
Nicht längenabhängige akute oder chronische PN (Guillain-Barré-Syndrom bzw. CIDP und Mononeuropathia multiplex): einseitige Untersuchung des Nervus medianus, N. ulnaris, N. fibularis und N. tibialis (mit Untersuchung der proximalen Nervenleitgeschwindigkeit). Sind die Kriterien der Demyelinisierung und Asymmetrie nicht erfüllt, werden dieselben Nerven auf der anderen Seite getestet.
Sensible ataktische PN: einseitige Untersuchung der motorischen Nervenfasern des Nervus medianus, N. ulnaris, N. fibularis und N. tibialis (mit Untersuchung der proximalen Nervenleitgeschwindigkeit). Die sensiblen Potenziale werden am Nervus medianus, N. radialis, N. cutaneus antebrachii medialis und lateralis, N. ulnaris, N. suralis und N. fibularis superficialis gemessen. Bei klinischen Defiziten können beide Seiten getestet werden.
Small-Fiber-Neuropathie: Bei dieser Form ist aufgrund der überwiegenden Störung der thermischen Schmerzwahrnehmung bei normaler Nervenleit­geschwindigkeit eine klinische, neurophysiologische und spezifische histologische Evaluation erforderlich [5]. Mithilfe einer neuen Technik kann der Schweregrad der Small-Fiber-Neuropathie festgestellt werden. Diese ist schnell, nicht invasiv und misst die Schweissproduktion an Händen und Füssen (Sudoscan).

Wann ist eine Nervenbiopsie indiziert?

In bestimmten Fällen können durch die Biopsie eines Fragments des sensiblen peripheren Nervs weitere ­Informationen gewonnen werden. Das Ziel der Nervenbiopsie (NB) besteht darin, die zu behandelnden Ursachen der PN herauszufinden und nicht, letztere zu bestätigen. Sie wird am Nervus suralis, N. fibularis superficialis oder N. radialis in einem Referenzlabor vorgenommen. Bei 10% der Patienten treten Kompli­kationen auf (neuropathische Schmerzen, Wundde­hiszenz). Eine NB ist bei PN indiziert, die anhand der ENMG nicht klassifiziert werden konnten, bei chronischer PN ohne offensichtliche Ursache (Abb. 3), seltenen hereditären Neuropathieformen, jedoch insbesondere bei schmerzhaften und invalidisierenden Manifestationen, die erst kürzlich aufgetreten oder progredient sind (Vaskulitis oder Amyloidose?).
Abbildung 3: 35-jähriger Mann mit seit einem Jahr bestehender, nicht längenabhängiger, sensomotorischer Neuropathie. ­Normale Nervenleitgeschwindigkeit, jedoch verringerte ­Amplitude der Reizantworten. Ursache unbekannt. Unter­suchung auf Demyelinisierung oder Vaskulitis. A: Biopsie des M. peroneus brevis (Hämatoxylin-Eosin; 20×) mit Denervierungsanzeichen (isolierte Atrophie der Muskelfibrillen mit angulär-atrophen Muskelfasern*) und faszikulärer Atrophie einer reinnervierten motorischen Einheit (chronische Rein­nervation, gestrichelte Linie). B: Biopsie des Nervus suralis, Semidünn-Schnitt (Toluidinblau; 60×): Verringerte Axonzahl, jedoch Verdünnung der Myelinscheiden (ausgefüllte Pfeile) mit chronischer Reinnervation (abnorme Präsenz von 3 Axonen in einer einzigen Nervenfaser mit Zwiebelschalen-Formation , hohler Pfeil). Revidierte Dia­gnose: Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie oder CIDP. Vielen Dank an Dr. med. A. J. Lobrinus, Abteilung für klinische Pathologie, HUG, Genf.

Warum und wie sollten das Auftreten und die Progression einer möglichen kausalen PNP überwacht werden?

Diabetes

Jedem Diabetespatienten werden eine optimale Diabeteskontrolle und eine jährliche neurologische Untersuchung empfohlen, um Komplikationen der PN (Malum perforans, autonome Neuropathie oder neuropathische Schmerzen) vorzubeugen und zu behandeln. Dabei handelt es sich um die häufigste PN-Form. Bei diagnostischen Zweifeln, einer überwiegend motorischen, rasch fortschreitenden PN, bei asymmetrischem Befall, bei Beginn des Befalls an den Armen oder am Rumpf, bei Beteiligung der Hirnnerven, bei Progression trotz Behandlung eines Diabetes oder neuropathischer Schmerzen hat der Grundversorger den Patienten an einen Neurologen zu überweisen.

Alkohol

Bei alkoholbedingter PNP sollte die Diagnosestellung frühzeitig erfolgen, da erstere mit einem Vitaminmangel oder Mangelernährung assoziiert ist und durch ­Abstinenz, Vitaminsubstitution und entsprechende Ernährung verbessert werden kann.

Chronische Niereninsuffizienz

Das Auftreten einer PN kann eine Verschlechterung der Nierenfunktion anzeigen und eine Umstellung der Behandlung des Patienten erforderlich machen. Es wird empfohlen, bei jeder Konsultation auf eine PNP zu screenen. Bei einer Niereninsuffizienz ohne Dialysepflicht wird die Durchführung einer ENMG nicht empfohlen. Vor einer Nierentransplantation ist sie jedoch Bestandteil der Voruntersuchung und bei Verdacht auf ein Karpaltunnelsyndrom ebenfalls indiziert.

Chemotherapie bei Krebs

Die Schwierigkeit für den überwachenden Onkologen besteht darin, eine Chemotherapie-bedingte PNP von einer vorbestehenden oder krebsassoziierten PN (paraneoplastische PN, Kompressionssyndrom, Infiltration?) zu unterscheiden. Beim Auftreten einer PNP sollte die Behandlung fortgesetzt werden, wenn der zu erwartende Nutzen das Risiko einer unerträglichen Beeinträchtigung übersteigt. Dabei sollte unbedingt die Meinung des Patienten berücksichtigt werden. Bei zu erwartender PNP wird vor dem Beginn einer Chemotherapie eine neurologische Beurteilung mit ENMG empfohlen, um diese unerwünschte Wirkung gegenüber dem erwarteten Behandlungsnutzen abzuwägen.

Hereditäre Neuropathien

Hereditäre Neuropathien gehören in den Zuständigkeitsbereich eines Neurologen (es sind über 80 Genmutationen bekannt). Dabei sind zwei Fragen zu klären: die präsymptomatische Diagnostik und die frühzeitige Feststellung von PN-Symptomen bei Patienten mit ­positiver Familienanamnese. Die präsymptomatische Diagnostik muss auf Wunsch des Patienten erfolgen. Wenn er dies wünscht, kann ihm eine genetische Beratung Informationen über die Grenzen der genetischen Diagnostik, die voraussichtliche Progression der Erkrankung und die verschiedenen Therapieoptionen entsprechend des mutierten Gens liefern.

Welchen PN gilt das aktuelle Interesse?

Die sensiblen ataktischen PN, Ganglionopathien oder ataktischen Neuronopathien (mit propriozeptivem Defizit) wurden in immunvermittelte, paraneoplastische, toxische, infektiöse und genetisch bedingte Formen unterteilt. Bei den immunvermittelten Formen wurde ein neuer Biomarker (anti-FGFR3-Antikörper) entdeckt [6].
Die toxischen PN, welche insbesondere infolge von Chemotherapien auftreten, werden intensiv untersucht [7], bis dato hat man jedoch keine neuen Behandlungen gefunden.
Bei familiärer und systemischer Amyloidose wurden neue Therapien (Tafamidis, Diflunisal, Antisense-Therapie) entwickelt [8].
Bei der Behandlung von ANCA(«antineutrophil cytoplasmic autoantibody»)-assoziierten Vaskulitiden hat Rituximab dieselbe Wirkung wie Cyclophosphamid gezeigt [9].
Ferner wurden neue Ursachen für Small-Fiber-Neuropathien gefunden, insbesondere eine Mutation des ­Natriumkanals des peripheren Nervs [5].
Beim Guillain-Barré-Syndrom und den CIDP (Nodopathien und CIDP mit Autoantikörpern gegen die Proteine des Ranvier-Schnürrings) [10] wurden neue Biomarker gefunden. Auf der Suche nach neuen gezielten Behandlungsmöglichkeiten laufen aktuell zudem Studien zur Expression der Gene der Entzündungswege bei diesen NP [11].

Das Wichtigste für die Praxis:

• Die periphere Neuropathie (PN) tritt als Komplikation zahlreicher internistischer Erkrankungen (häufig bei Diabetes mellitus, über systemische Erkrankungen bis hin zu seltenen paraneoplastischen Formen) sowie bei primären Schädigungen des Nervensystems auf (entzündliche Formen des Guillain-Barré-Syndroms, CIPD und hereditäre Formen).
• Für ihre Behandlung ist eine initiale ätiologische Diagnostik durch den Erstversorger (klinische und Laboruntersuchung) erforderlich.
• Wenn nötig, können durch eine neurologische Beurteilung mithilfe einer fachlichen Untersuchung, einer Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (ENMG) und einer detaillierten Blutuntersuchung spezifischere PN-Formen festgestellt werden. Mitunter sind auch eine Liquoruntersuchung, eine Nervenbiopsie oder spezielle Analysemethoden (Autoantikörperbestimmung, Gentests) notwendig.
• Eine symptomatische (neuropathische Schmerzen, spezifische Rehabilitation) oder zielgerichtete Therapie (Immunmodulation oder -suppression, Behandlung von Vitaminmangel und Amyloidosen) ist die Grundlage der neurologischen Versorgung bei PN.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med.
Thierry Kuntzer
DNC, BH07/413,
Rue du Bugnon 46
CH-1011 Lausanne
Thierry.kuntzer[at]chuv.ch
 1 Haute Autorité de Santé: Prise en charge diagnostique des neuropathies périphériques (polyneuropathies et mononeuropathies multiples). http://www.has-sante.fr. 2007.
 2 Deutsche Gesellschaft für Neurologie: Erkrankungen peripherer Nerven. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie: http://www.dgn.org/leitlinien; 2015.
 3 Bouhassira D, Attal N. Diagnosis and assessment of neuropathic pain: the saga of clinical tools. Pain. 2011;152:74–83.
 4 EFNS/PNS. European Federation of Neurological Societies/Peripheral Nerve Society Guideline on management of chronic inflammatory demyelinating polyradiculoneuropathy-First Revision. J Peripher Nerv Syst. 2010;15:1–9.
 5 Gibbons CH. Small fiber neuropathies. Continuum (Minneap Minn). 2014;20:1398–412.
 6 Antoine JC, Boutahar N, Lassabliere F, Reynaud E, Ferraud K, Rogemond V, et al. Antifibroblast growth factor receptor 3 antibodies identify a subgroup of patients with sensory neuropathy. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2015;86:1347–55.
 7 Diezi M, Buclin T, Kuntzer T. Toxic and drug-induced peripheral neuropathies: updates on causes, mechanisms and management. Curr Opin Neurology. 2013;26:481–8.
 8 Adams D, Suhr OB, Hund E, Obici L, Tournev I, Campistol JM, et al. First European consensus for diagnosis, management, and treatment of transthyretin familial amyloid polyneuropathy.
Curr Opin Neurology. 2016;29 Suppl 1:14–26.
 9 Lally L, Spiera R. B-cell-targeted therapy in systemic vasculitis. Curr Opin Rheumatol. 2016;28:15–20.
10 Uncini A, Kuwabara S. Nodopathies of the peripheral nerve: an emerging concept. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2015;86:1186–95.
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