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Die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) ist Allgemeinärzten häufig kaum als Therapieoption bekannt, obwohl sie diese verschreiben könnten. In Akutsituationen wie bei einer CO-Vergiftung und blasenbedingten Erkrankungen (Gasembolie, Dekompressionskrankheit) ist die HBO die Behandlung erster Wahl. Bei chronischen Erkrankungen (Wundheilungsstörungen, postaktinische Läsionen) stellt sie eine adjuvante Therapie dar. Dieser Beitrag soll einen Überblick über das Prinzip der und mögliche Indikationen für die HBO verschaffen.
Einleitung
Das Grundprinzip der hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO) besteht darin, Patienten Sauerstoff zu verabreichen, welchen sie unter einem Partialdruck von über 1 bar (absoluter atmosphärischer Druck) inhalieren. Meist handelt es sich dabei um 100%igen Sauerstoff, manchmal um Sauerstoff-Helium-Gemische (Heliox) oder Gemische von Sauerstoff mit anderen Gasen (z.B. Nitrox), je nach Indikation, Dekompressionstabelle und Zentrum für hyperbare Sauerstofftherapie.
Neben einigen Indikationen, bei denen die hydrostatische Druckerhöhung in der Druckkammer lebensrettend ist (z.B. bei Gasembolie), bewirkt die HBO eine Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks im Blut. Der Sauerstoff bindet einerseits an das Hämoglobin (1 g Hämoglobin kann höchstens 1,34 ml Sauerstoff binden) und reichert sich andererseits in gelöster Form im Blutplasma an, wo er einen grossen «Reservepool» bildet. Diese Reserve erhöht wiederum die Diffusionsdistanz zwischen Blut und Gewebe, was für die Behandlung einer lokalen Hypoxie wie z.B. in radionekrotischem Gewebe oder bei Mikro- bzw. Makroangiopathien (diabetischer Fuss) essentiell ist. Und schliesslich wird durch den erhöhten Sauerstoffpartialdruck in normoxischem Gewebe durch Vasokonstriktion und in hypoxischem Gewebe durch Vasodilatation die Mikrozirkulation beeinflusst, was beispielsweise akute Traumata mit gequetschten Gliedmassen oder chronische Läsionen beim diabetischen Fusssyndrom positiv beeinflusst.
In Abbildung 1 ist die Sauerstoffverteilung im Gefässinneren schematisch dargestellt.
Indikationen für eine HBO in Europa
Tabelle 1 (nicht vollständig) gibt eine Übersicht über die Indikationen einer HBO sowie den jeweiligen Empfehlungsgrad. Auf ausgewählte Indikationen wird später im Artikel eingegangen.
Tabelle 1: Indikationen für eine hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) und ihr Empfehlungsgrad (angepasst gemäss [2]). | |
Indikationen | Empfehlung |
Akute Erkrankungen | |
CO-Vergiftungen bei Patienten mit hohem kurz- oder langfristigen Komplikationsrisiko: – Bewusstseinsverlust – Neurologische, kardiologische, respiratorische oder psychologische Symptome – Schwangere | 1B |
Dekompressionskrankheit
– Initialtherapie – Behandlung von Restschäden | 1C 1C |
Gasembolie | 1C |
Bakterielle Infektion mit anaeroben oder gemischten Keimen, die Weichteilnekrosen verursachen | 1C |
Gequetschte Gliedmassen (offene Fraktur Grad III nach Gustilo B und C) | 1B |
Gequetschte Gliedmassen ohne Fraktur | 1C** |
Hörsturz | 1C** |
Chronische Erkrankungen | |
Bestrahlungsfolgen
– Osteoradionekrose des Unterkiefers – Präventivbehandlung gegen Osteoradionekrose des Unterkiefers bei Zahnextraktion im bestrahlten Gebiet – Weichteilradionekrose (Proktitis, Zystitis) | 1B 1B 1B** |
Diabetischer Fuss mit chronischer kritischer Ischämie, wenn tcpO2* unter HBO >100 mm Hg | 2B |
Femurkopfnekrose | 2B** |
* tcpO2 = transkutaner Sauerstoffpartialdruck (polarographische Messung mittels einer auf 42–44 °C erwärmten Sauerstoffelektrode). Anhand des tcpO2-Werts lässt sich der Ischämiegrad des Fusses bestimmen. Bei Belastungsischämie (Claudicatio) beträgt der tcpO2-Wert <35 mm Hg und bei einer chronischen kritischen Ischämie <10 mm Hg. ** Überarbeitung der Evidenzgrade der Empfehlungen (gemäss «The 10th European Consensus Conference on Hyperbaric Medicine», Lille, France; noch nicht veröffentlicht) |
Kontraindikationen der HBO
Als absolute Kontraindikationen gelten:
– Pneumothorax ohne Drainage;
– Mediastinalemphysem.
Bei anderen Erkrankungen müssen die Ursachen für eventuelle Kontraindikationen abgeklärt werden. Es bestehen folgende vorübergehende Kontraindikationen:
– Asthmaanfall
– Akutes Koronarsyndrom (NSTEMI, STEMI und instabile Angina pectoris). Anmerkung: Ein Koronarsyndrom kann im Zusammenhang mit einer CO-Vergiftung oder einer koronaren Gasembolie auftreten, welche wiederum eine dringliche Indikation für die HBO-Therapie darstellen.
– Unbehandelte oder unzureichend eingestellte Epilepsie. Anmerkung: Diese Patienten können nach einer Anpassung ihrer Behandlung therapiert werden. Dazu wird ein (zusätzliches) Antiepileptikum wie Levetiracetam verabreicht (z.B. 500–1000 mg p.o. eine Stunde vor jeder Sitzung).
– Operationen im unteren Teil der Speiseröhre und enges Magenband (beim Trinken kohlensäurehaltiger Getränke muss problemlos aufgestossen werden können).
Dringliche Indikationen für eine HBO
In Tabelle 1 sind die Indikationen für eine HBO in Akutsituationen zusammengefasst. Auf folgende Erkrankungen soll in diesem Beitrag näher eingegangen werden: CO-Vergiftung, blasenbedingte Erkrankungen (Gasembolie, Dekompressionskrankheit) und Hörsturz.
Kohlenmonoxid (CO)-Vergiftung
Die weltweite Mortalität infolge einer CO-Vergiftung beträgt 0–30% [3–5].
Seit den 60er Jahren ist die HBO der Goldstandard bei CO-Vergiftungen [6–9]. Die hohe Wirksamkeit der HBO bei einer CO-Vergiftung ist auf die zwei folgenden Aspekte zurückzuführen: (1) Durch den hohen Sauerstoffpartialdruck kann das CO, welches sich stark an das Hämoglobin bindet (um das 230–250-Fache höhere Bindungsaffinität als Sauerstoff), gelöst werden und (2) wird die Halbwertszeit von CO durch die HBO von 5 h bei Raumluft unter 2,5 at in der Druckkammer auf 23 min verringert [10].
Somit besteht kein Zweifel daran, dass durch die HBO schwere und tödliche Komplikationen einer CO-Vergiftung verhindert werden können. Die Wirksamkeit der HBO zur präventiven Behandlung neurologischer Spätschäden nach einer CO-Vergiftung, auch unter der Bezeichnung «delayed neurological syndrome» (DNS; verzögerte neurologische Schäden) bekannt, ist jedoch nach wie vor umstritten [11, 12]. Letztere kommen nicht selten vor. Sie betreffen 10–40% der Patienten [13–17] und äussern sich in folgenden klinischen Symptomen: Parkinsonismus, Verwirrtheitszustand, Apathie, Mutismus, Harninkontinenz, Persönlichkeits- und Konzentrationsstörungen, Demenz, Epilepsie, Chorea.
In einer Cochrane-Analyse wurden sechs Studien (mit 1361 Patienten) untersucht. Von diesen zeigten zwei einen Nutzen der HBO in Form einer verringerten Inzidenz verzögerter neurologischer Schäden nach einem Monat, während vier andere diese Resultate nicht bestätigten. Bei drei davon galt jedoch eine schwere CO-Vergiftung als Ausschlusskriterium, obgleich gerade bei diesen Patienten der Nutzen einer HBO am höchsten ist.
Blasenbedingte Erkrankungen: Gasembolie, Dekompressionskrankheit
Die meisten Gasembolien sind iatrogen durch Venenkatheter, chirurgische Eingriffe (Neurochirurgie, HNO, Orthopädie, Gynäkologie, Kardiologie) und Überdruckbeatmung bedingt. Andere Ursachen sind seltener (Dekompressionskrankheit, thorakale und abdominale Traumata). Gasembolien werden in arterielle und venöse Gasembolien unterteilt. Nicht alle Patienten mit Gasembolien werden in der Druckkammer behandelt. Bei schweren klinischen Symptomen ist die HBO jedoch von grossem Nutzen, was bei einer paradoxen arteriellen Gasembolie meist der Fall ist. Bei hämodynamisch instabilen Patienten mit neurologischen Symptomen oder Anzeichen für Endorganschäden sollte frühzeitig mit einer HBO begonnen werden [18–20].
Ihr Nutzen ist einerseits mechanischer Art, da durch den hohen hydrostatischen Druck die Luftblasen platzen, und andererseits durch eine Diffusionswirkung bedingt, da durch die HBO ein grosses Druckgefälle entsteht, wodurch die Gase aus den Luftblasen ins Blut diffundieren können («shrinkage»). Eine solche HBO-Sitzung kann bis zu 6–8 Stunden dauern. Die Zahl der Sitzungen ist vom klinischen Verlauf abhängig. Die HBO sollte frühzeitig begonnen werden (<4–6 Stunden nach Symptombeginn, es wurde jedoch auch noch über einen Nutzen während der ersten 30 Stunden berichtet [21, 22]).
Hörsturz
Ein idiopathischer Hörsturz ist definiert als plötzlicher Hörverlust innerhalb von 24–72 Stunden ohne erkennbare Ursache. Dabei muss eine Schallempfindungsstörung mit einem Hörverlust von >30 dB über drei aufeinander folgende Frequenzen vorliegen. Im Endstadium spricht man von Taubheit. Die Spontanheilungsrate des Hörverlusts beträgt 60–89% [23]. Wird die HBO innerhalb der ersten 14 Tage nach Symptombeginn durchgeführt, hat dies in mindestens 25% der Fälle eine >50%ige Besserung zur Folge [24]. Die HBO ist adjuvant zur konventionellen Therapie des Hörsturzes indiziert (Empfehlungsgrad 1C) [25]. Entsprechend dem klinischen Verlauf findet jeweils eine Sitzung pro Tag während 10 Tagen statt. Dabei ist eine audiometrische Kontrolle erforderlich.
Chronische Erkrankungen mit Indikation für eine HBO
Bestrahlungsfolgen
Die Inzidenz von Bestrahlungsfolgen ist hoch (10–35%). Weltweit unterziehen sich jährlich über 4 Millionen Menschen mit Neoplasien einer Strahlentherapie [26]. Die zur Tumorbehandlung eingesetzte Strahlentherapie hat Akut- (während der Behandlung) und Spätschäden (nach drei Monaten bis mehreren Jahren, durchschnittlich nach zwei Jahren) zur Folge. Die Kaskade, welche zu Bestrahlungsfolgen an verschiedensten Geweben (z.B. Knochen, Blase, Darm, Haut) führt, kann durch einen chirurgischen Eingriff, ein Trauma oder eine lokale (selbst banale) Infektion ausgelöst werden. Die HBO trägt zur Erneuerung des beschädigten Gewebes bei, indem sie die Angiogenese anregt [27].
Von besonderem Nutzen ist die HBO bei Blasenblutungen infolge einer Strahlentherapie: Diese können bereits nach ein- bis zweiwöchiger Behandlung (5 Sitzungen/Woche) aufhören. Auf diese Weise kann die Kontrollzystoskopie schneller und unter besseren Voraussetzungen wiederholt werden.
Eine randomisierte, kontrollierte, doppelblinde Studie hat die Wirkung der HBO bei 120 Patienten mit gegenüber der konventionellen Behandlung refraktärer Proktitis nach Strahlentherapie untersucht [28]. Unter HBO hatte sich die Wundheilung gegenüber der Gruppe ohne HBO gemäss LENT-SOMA-Skala signifikant verbessert (NNT = 3) [29]. Überdies wies die Interventionsgruppe eine bessere Lebensqualität auf.
Auswirkungen der HBO auf die Wundheilung
Die Wundheilung hängt eng mit der Neoangiogenese zusammen. Diese wiederum ist mit der sauerstoffabhängigen Aktivität der Fibroblasten und des VEGF («vascular endothelial growth factor receptor») assoziiert. Während einer HBO-Sitzung entsteht durch die hohe Sauerstoffmenge ein Druckgefälle. Dies führt zu einer abwechselnden Hypoxie und Hyperoxie, was für die Anregung des Wundheilungsprozesses unabdingbar ist. Die positiven Auswirkungen der HBO auf die Wundheilung wurden vor allem beim arteriellen Ulkus nachgewiesen. Dies gilt insbesondere für gegenüber der üblichen Therapie resistente Diabetespatienten und die Förderung der Wundheilung von Lappenplastiken bei rekonstruktionschirurgischen Eingriffen, die nicht auf die Standardbehandlung ansprechen [30].
Trotz der Inhomogenität und unterschiedlichen Qualität der Methodik der jeweiligen Studien kommt eine Cochrane-Analyse [31] zu dem Schluss, dass die HBO bei der Behandlung von Ulzerationen des diabetischen Fusses von Nutzen sein kann [32–35]. Andere Forscher haben sich mit der Amputationsrate bei Patienten mit Fussgeschwür und schwerer Ischämie befasst [34–36]. Eine weitere Studie zeigt einen signifikanten Rückgang der Amputationsrate bei 70 Patienten (8,6% in der HBO- versus 33,3% in der Kontrollgruppe; p = 0,016) [36].
Klinische Anwendung: Diabetischer Fuss
Das diabetische Fusssyndrom kommt häufig vor. Rund 25% der Diabetespatienten (Typ 1 und 2) leidet mindestens einmal im Leben an einem Fussulkus [37].
Bei kritischer Ischämie wirkt sich die HBO positiv auf zahlreiche Regulationssysteme aus, weil sie die Wundheilung anregt:
– Verbesserung der Sauerstoffsättigung des Gewebes und ödemhemmende Wirkung;
– bakteriostatische und bakterizide Wirkung mit positivem Effekt auf die Aktivität der neutrophilen Leukozyten;
– Stimulation und Beschleunigung der Neovaskularisation;
– Fibroblastenstimulation mit Kollagenbildung;
– positive Wirkung auf einen vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor.
Eröffnung weiterer HBO- und/oder multidisziplinärer Zentren erforderlich
Die «Popularität» der hyperbaren Sauerstofftherapie hängt stark davon ab, ob sich ein Zentrum für hyperbare Sauerstofftherapie in geographischer Nähe befindet. Wenn ein Patient einen stundenlangen Anfahrtsweg hat, ist dies weder für die Therapieakzeptanz noch -adhärenz optimal.
Wissenschaftlich gesehen ist es aus folgenden Gründen sehr schwer, Studien mit hohem Evidenzgrad (randomisiert und doppelblind) durchzuführen:
– ethische Probleme;
– multidisziplinäre Versorgung;
– häufig lange Studiendauer (das Follow-up eines Patienten mit Bestrahlungsfolgen dauert Jahre);
– Entfernung der Patienten von der und Transport zur Druckkammer;
– Therapieadhärenz, insbesondere bei Erkrankungen, die viele Sitzungen erfordern (z.B. Wundheilung, Bestrahlungsfolgen);
– Schulung des medizinischen und paramedizinischen Personals;
– Schwierigkeiten, Allgemein- und Fachärzte von der Wirkung der HBO-Therapie zu überzeugen.
Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, weitere Zentren für hyperbare Sauerstofftherapie zu eröffnen, um eine gleichwertige Behandlung in der gesamten Schweiz zu ermöglichen.
In Abbildung 2 ist die Aktivität des Zentrums für hyperbare Sauerstofftherapie in Genf in Bezug auf die jeweiligen Indikationen dargestellt.
Es ist festzustellen, dass über 80% der HBO-Sitzungen aufgrund der Indikationen «Wundheilung» und «Bestrahlungsfolgen» stattfinden, während Gasembolien nur etwa 1% der Behandlungen ausmachen.
In Abbildung 3 sind die dringlichen den nicht dringlichen Indikationen gegenübergestellt.
Der Anteil der nicht dringlichen Behandlungen stellt mit 88% aller HBO-Sitzungen im 6-Jahres-Durchschnitt die überwiegende Mehrheit der HBO-Therapien in Genf dar. Die dringlichen Indikationen (CO-Vergiftung, Gasembolie/Dekompressionskrankheit) machen hingegen nur 12% der Gesamtaktivität aus.
Die Zahlen des Zentrums für hyperbare Sauerstofftherapie des Hôpital Edouard Herriot in Lyon sind vergleichbar: Wundheilung und Bestrahlungsfolgen 72%, Gasembolie 3,6%. Auch die Aktivitätsverteilung der dringlichen versus nicht dringlichen Indikationen unterscheidet sich nicht (12 und 88%).
HBO-Sitzungen
Eine HBO-Sitzung dauert üblicherweise zwei Stunden (bei Gasembolie bis zu 6–8 Stunden). Der übliche Sauerstoffpartialdruck beträgt 2,5 at (entspricht dem Druck in 15 m Wassertiefe). Die Zahl der HBO-Sitzungen und die Höhe des Drucks richten sich nach der Indikation. Entsprechend erhält ein Patient mit einer CO-Vergiftung eine oder selten zwei bis drei Sitzungen, während sich ein Patient mit Bestrahlungsfolgen häufig über 50 Sitzungen unterziehen muss. Eine HBO-Sitzung kostet etwa 300 CHF und wird von der Grundversicherung (KVG) übernommen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Dr. med. Philippe Furger
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