Ärztliche Präsenz am Lebensende
Gedanken anhand einer aussergewöhnlichen Parallele

Ärztliche Präsenz am Lebensende

Editorial
Ausgabe
2017/3031
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03001
Schweiz Med Forum 2017;17(3031):622-623

Affiliations
Universitäre Klinik für Akutgeriatrie, Stadtspital Waid, Zürich

Publiziert am 26.07.2017

Im Blick auf unseren ärztlichen Umgang mit dem Sterben wage ich einmal, eine etwas aussergewöhnliche Parallele zwischen dem Essen in einem französischen Gourmetlokal und dem Angebot der modernen Medizin zu ziehen. Die Liste der Vorspeisen im Restaurant in Frankreich ist lange, vielfältig und verlockend. Auch das Angebot der medizinischen «entrées» wird immer länger und reicht von sinnvollen bis fragwürdigen Screenings über präventive Massnahmen bis zu den Verlockungen des Anti-Ageings. Der Kreativität bei den Hauptgängen sind den Köchen keine Grenzen gesetzt. Auch die Forschung und Innovation in der Medizin bringen ständig neue kurative Interventionen und Behandlungsansätze hervor – die Heilung von Patienten ist das «plat principal» der ärztlichen Tätigkeit. Nach dem Hauptgang wartet noch das Dessert, die Pâtissiers präsentieren eine raffinierte Assemblage, um das gastronomische Erlebnis zu verlängern. Sind die Möglichkeiten zur Kuration unserer Patienten überschritten, steht auch uns heute eine breite Assemblage an palliativen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um bei chronischen, unheilbaren Erkrankungen die Lebensqualität zu erhalten.
Über Jahrzehnte hielt aber der Abschluss des kulinarischen Erlebnisses in Frankreich nicht mit der Leistung beim Essen mit: Der abschliessende Kaffee war eine Enttäuschung und Ernüchterung. Erst in den letzten Jahren hat man sich auch dessen Qualität zugewandt und sie verbessert. In der Medizin zeigt sich Vergleichbares: Um die Qualität beim Abschluss des Lebens, beim Sterben der Patienten, sorgten wir uns wenig. End-of-Life Care war kaum im Fokus der Forschung und Lehre. Ein wich­tiger Entwicklungsschritt waren 2006 die medizin-ethischen Richtlinien «Palliative Care» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), in deren Präambel als Ziel formuliert wird, «zu einer ­Haltung zu ermutigen, welche die Grenzen der Medizin anerkennt und sich dem Sterben des Patienten und dem häufig anklingenden Gefühl der Hilflosigkeit stellt.» [1]. In den letzten Jahren hat Palliative Care stark an Bedeutung gewonnen. Und ich nenne bewusst die Palliative Care als multiprofessionellen und interdisziplinären ­Ansatz, nicht nur die Palliativmedizin als ärztliche Dis­ziplin. Eine Pubmed-Suche zu den Begriffen «Dying» und «End-of-Life Care» zeigt, dass in der Zeit seit der Jahrtausendwende mehr als doppelt so viele Publikationen erschienen sind wie in der gleichen Zeitspanne davor.

Fokus auf die Kommunikation

Der Beitrag in der aktuellen Ausgabe des Swiss Medical Forum von Eychmüller und Grossenbacher [2] bezieht sich auf das Dokument «Empfehlung Sterbephase – Betreuung sterbender Menschen und ihrer Angehörigen», das von der Fachgesellschaft palliative ch erarbeitet wurde [3]. Er fokussiert nicht primär auf medizinische Massnahmen beim Sterbeprozess, sondern auf die Kommunikation mit dem Patienten und seinen Angehörigen. Die Empfehlungen beziehen sich explizit auf die letzten Lebenstage. Das schliesst aber nicht aus, dass das Gespräch über Sterben und Tod schon früher beginnen muss. Bosshard et al [4] haben gezeigt, dass in der Schweiz im Jahr 2013 in 71,4% der Todesfälle das Sterben erwartet wurde. Das heisst aber umgekehrt, dass in 28,6% der Tod plötzlich und unerwartet eintrat und damit die Empfehlungen nicht gegriffen hätten. Ich wage zu behaupten, dass bei mehr Todesfällen das bevorstehende Sterben hätte wahrgenommen werden können, denn der Tod aus heiterem Himmel wird ­immer seltener. Das zeigt, wie wichtig das Erkennen der Sterbephase ist, wie es in den Empfehlungen beschrieben ist.
In 82,3% der erwarteten Todesfälle wurde mindestens eine Entscheidung getroffen, die den Todeseintritt möglicherweise oder wahrscheinlich beschleunigt hat. Bosshard et al [5] zeigten weiter, dass bei 12,2% der voll entscheidungsfähigen, bei 14,7% der teilweise entscheidungsfähigen und bei 20,2% der entscheidungsunfähigen Patienten weder die Betroffenen selber noch deren Angehörige oder frühere Willensäusserungen für den Entscheid herangezogen wurden. Diese erstaunlichen Zahlen dürften weniger Ausdruck eines persistierenden paternalistischen Denkens sein als viel eher einer Überforderung vieler Ärzte, über Sterben und Tod zu sprechen. Der hohe Anteil von terminalen Sedationen in 17,5% der Sterbefälle bedarf weiterer Klärung. Entsprach sie dem Wunsch der Patienten oder ist er eher ein Zeichen der Überforderung der Betreuenden?
Pierre Loeb schrieb 2007 in einem Editorial von Primary Care: «Was geschieht in all jenen Fällen, in denen Alter, Krebs oder bewusster Verzicht auf weitere medizinische Massnahmen zum Tod führen? Sind wir dann noch für unsere Patienten da? (…) In kritischen Situa­tionen geben wir gern auf, meinen, wenn unser medizinisches Handeln nicht mehr gefragt ist, nichts mehr für unsere Patienten tun zu können und entziehen uns ihnen.» [6]. Der Beitrag in diesem Heft setzt genau an diesem Punkt an. Wenn medizinisches Handeln nicht mehr gefragt ist, werden die persönliche Präsenz des Arztes, seine Empathie und das Gespräch umso wichtiger. Lisa Rosenbaum schrieb dazu «but perhaps the greatest challenge of caring empathetically for the dying arises from this question: what does empathy look like when it has been stripped of hope?» [7]. Die vorliegenden ­beispielhaften Kommunikationshilfen in den Empfehlungen für die Praxis der Betreuung Sterbender und ihrer Angehörigen sind Hinweise, wie Empathie sich im Gespräch ausdrücken kann.
Einen letzten Punkt möchte ich noch aufnehmen. Pa­tient/Patientin und Angehörige haben meistens keine Kenntnis, wie ein Sterbeprozess abläuft, was «normal» ist beim Sterben. Informationen dazu können Unsicherheit und Stress vermindern. Diese Informationen können wir aber nur geben, wenn wir Erfahrung darin ­haben. Die erlangen wir aus der Präsenz am Sterbebett, wenn wir uns nicht entziehen und die Begleitung an die Pflegenden delegieren. Als ich einmal mit einem Assistenzarzt, der schon im Besitze seines Facharzt­titels war, an einem Sterbebett die letzten Atemzüge und den Eintritt des Todes begleitete, bemerkte ich sein Unbehagen. Auf meine Frage dazu erklärte er mir, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen Menschen hatte sterben sehen. Vielleicht müssen wir künftig in die Weiterbildungscurricula nicht nur Fertigkeiten und Wissen aufnehmen, sondern auch das persönliche Erlebnis des Sterbens eines Patienten.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen 
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Roland Kunz
Universitäre Klinik
für Akutgeriatrie
Stadtspital Waid
Tièchestrasse 99
CH-8037 Zürich
roland.kunz[at]
waid.zuerich.ch
1 Medizin-ethische Richtlinien Palliative Care. SAMW 2006/13. http://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html
2 Eychmüller S, Grossenbacher B. Betreuung sterbender Menschen und ihrer Angehörigen – Empfehlungen für die Praxis. Swiss ­Med Forum. 2017;17(30–31):624–9.
4 Bosshard G, et al. Medical End-of-Life Practices in Switzerland: A Comparison of 2001 and 2013. JAMA Internal Medicine. 2016;176(4):555–6.
5 Bosshard G, et al. Medizinische Entscheidungen am Lebensende sind häufig. Swiss Medical Forum. 2016;16(42):896–8.
6 Loeb P. Spenden Sie…(Trost)? Primary Care. 2007;7(40–41):612.
7 Rosenbaum L. Falling Together – Empathic Care for the Dying. N Engl J Med. 2016;374:587–90.