In Ruhe sterben?
Ambivalente Erwartungen an die Ärzteschaft bei der Behandlung von Patienten am Lebensende

In Ruhe sterben?

Editorial
Ausgabe
2017/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03014
Schweiz Med Forum 2017;17(35):730-731

Affiliations
Departement für Moraltheologie und Ethik, Universität Fribourg

Publiziert am 30.08.2017

Das Sterben hat sich in den letzten Jahren verändert – und gleichzeitig auch die Aufgaben, mit denen Ärztinnen und Ärzte in der Begleitung Sterbender konfrontiert werden. Um angemessen darauf reagieren zu können, bleibt die Kenntnis grundlegender ethischer Aspekte und rechtlicher Regelungen rund um die ärztliche Sterbehilfe unabdingbar, wie es Karen Nestor et al. in einer hilfreichen Übersichtsarbeit im vorliegenden Swiss Medical Forum aufzeigen [1]. Aufschlussreich und hilfreich zur Einordnung dieser Überlegungen ist überdies ein Blick auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, die in den letzten Jahren dazu beigetragen haben, dass sich Wahrnehmen, Erleben und Gestalten des Lebensendes massgeblich verändert haben. Dies geschieht gegenwärtig auch im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogramms NFP 67 [2].

Der Tod wird heute geplant

Während Sterben und Tod in der Medizin noch vor wenigen Jahrzehnten als zu bekämpfende Feinde wahrgenommen wurden, stehen heute deren Kontrolle und sinnvolle Gestaltung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Angesichts der immensen technischen Möglichkeiten, das Leben zu verlängern beziehungsweise das Sterben hinauszuschieben, ist die letzte Lebensphase zudem massgeblich von Entscheidungen, nicht mehr von Schicksalsschlägen geprägt [3]. Gestorben wird meist in sehr hohem Alter, zeitlich dauert die Sterbephase zusehends länger, räumlich wurde das Sterben mehrheitlich in medizinische Institutionen wie Spitäler, Heime und Einrichtungen der Palliative Care verlagert. Roland Kunz und Heinz Rüegger schreiben von einem neuen kulturellen Paradigma im Umgang mit dem Sterben: Dieses bestehe darin, dass das Sterben zunehmend zum Gegenstand des eigenen Entscheidens werde. Mit diesem verbunden sei die Aufgabe jedes und jeder Einzelnen, das eigene Sterben rechtzeitig vorzubereiten, beispielsweise entsprechende Wünsche in einer Patientenverfügung festzuhalten [4]. Der Tod kommt nicht mehr einfach so, er muss heute geplant werden.
Um diese Aufgabe zu erfüllen, sind alle in der Pflicht, nicht nur die Ärztinnen und Ärzte. Nachdem die Selbstbestimmung über Jahrzehnte erfolgreich erkämpft und der ärztliche Paternalismus – mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht auch rechtlich – weitgehend verabschiedet wurde, ist die Vorbereitung des eigenen Sterbens zu einer gesellschaftlich etablierten Aufgabe geworden. Es gilt, rechtzeitig eine Patientenverfügung zu schreiben sowie eine Vertretungsperson in medizinischen Angelegenheiten zu ernennen, die für den Fall der eigenen Urteilsunfähigkeit anstelle der sterbenden Person entscheidet. Aufgrund schlechter Erfahrungen mit den Patientenverfügungen, die nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen, unklar oder widersprüchlich formuliert sind oder unrealistische Forderungen enthalten, wurde inzwischen mit dem Advance Care Planning (ACP) eine Vorgehensweise entwickelt, die dafür sorgt, dass Menschen am Lebensende rechtzeitig, kontinuierlich und unter aktivem Einbezug der Health Care Professionals in ihrer Selbstbestimmung begleitet werden [5]. Für die Ärztinnen und Ärzte bedeutet dies unter anderem neue Weiter- und Ausbildungskurse in ACP.
Hinsichtlich der Vorstellungen von einem guten Sterben geht es vielen Menschen heute darum, die Kon­trolle während der letzten Lebensphase nicht zu verlieren, auch während des Sterbens selbständig und möglichst unabhängig von Hilfe zu bleiben. Auch Schmerzfreiheit und eine möglichst hohe Lebensqualität bis zuletzt sind wichtige und gesellschaftlich verbreitete Ideale, die auch in der Palliative Care und der Hospizversorgung zentral sind. Praktisch gesehen geht es vielen Sterbenden und ihren Angehörigen um eine Verkürzung ihrer Sterbephase beziehungsweise eine Beschleunigung des Sterbens («hastening death»): Ob dies durch eine kontinuierliche, tiefe Sedierung geschieht, wie sie im Jahr 2013 bei fast jedem fünften Sterbenden (17,5%) in der Schweiz Anwendung fand, ob durch eine Entscheidung zum Therapieverzicht oder -abbruch (35%), eine Symptom- oder Schmerztherapie mit möglicherweise lebensverkürzender Wirkung (21%), ein professionell begleitetes Sterbefasten (keine Angabe bekannt), eine Beihilfe zum Suizid (1,1%) oder eine – in der Schweiz rechtlich verbotene – ärztliche Lebensbeendigung beziehungsweise Tötung auf Verlangen (0,3%) geschieht, scheint für die Betroffenen und ihre Angehörigen nicht selten zweitrangig zu sein [3].
Natürlich stellen sich mit Blick auf die ärztliche Tötung auf Verlangen oder die Suizidhilfe weitreichende ethische und rechtliche Fragen, die ernsthaft zu diskutieren sind [1]. Gleichzeitig ist offenkundig, dass Patientinnen und Patienten am Lebensende, die eine Tötung oder Selbsttötung aus moralischen Gründen für sich ausschliessen – und dies ist nach wie vor die ganz gros­se Mehrheit –, angesichts des breiten Repertoires an Handlungsmöglichkeiten eine andere Weise suchen, ihr Sterben zu verkürzen.

Was heisst das für Ärztinnen und Ärzte?

Zunächst einmal sind auch sie Bürgerinnen und Bürger, die sich mit dem eigenen Sterben zu befassen haben; dass sie dies nicht selten anders ausrichten und beispielsweise signifikant häufiger auf den Einsatz von Intensivmedizin verzichten als bei ihren eigenen Pa­tientinnen und Patienten, ist zunächst bedenkenswert [6]. Überdies sind heute viele Menschen mit der Planung des eigenen Sterbens überfordert. Ärztinnen und Ärzte sehen sich darum mit einem gewissen «double bind» konfrontiert: Einerseits sollen sie sich zurücknehmen, andererseits im Sinne eines «shared decision making» engagieren und ihre Patientinnen und Pa­tienten einfühlsam dazu befähigen, autonome Entscheidungen treffen zu können. Ihre Autorität wurde massiv relativiert, gleichzeitig verstärkt sich die Medikalisierung des Sterbens. Angesichts dessen drängt sich eine Relativierung der medizinischen Zuständigkeiten im Sterben auf. Die Medizin kann nicht alle Erwartungen an ein gutes Sterben erfüllen. Einige Palliative-Care-Experten fragen sich besorgt, ob – und wenn ja, auf welche Weise – ein Sterben in Ruhe [7] heute überhaupt noch möglich ist. Wer wäre dann in der Pflicht? Die Suche nach sinnvollen Antworten auf diese Frage ist nicht nur für die Ärzteschaft, sondern für jede und jeden Einzelnen wichtig und drängend.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. theol. ­
Markus Zimmermann
Lehr- und Forschungsrat
Departement für Moral­theologie und Ethik
Universität Fribourg
Avenue de l’Europe 20
CH-1700 Fribourg
markus.zimmermann[at]unifr.ch
1 Nestor K, Ebneter K, Hvalic C, Brändle M, Büche D. Hilfe beim Sterben, Hilfe zum Sterben oder Hilfe zum Leben? Swiss Med Forum. 2017;17(35):738–43.
2 NFP 67, www.nfp67.ch (25.4.2017).
3 Bosshard G, Zellweger U, Bopp M, Schmid M, Hurst S, Puhan M, Faisst K. Medical end-of-life practices in Switzerland. A comparison of 2001 and 2013. JAMA Int Med. 2016;176(4):555–6.
4 Kunz R, Rüegger H. Ein neues kulturelles Paradigma des Sterbens. Neue Zürcher Zeitung. 12.4.2017:12.
5 Krones T, Otto T, Karzig I, Loupatatzis B. Advance Care Planning im Krankenhaussektor – Erfahrungen aus dem Zürcher «MAPS» Trial. Coors M, Jox RJ, in der Schmitten J (Eds.). Advance Care Planning. Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung. Stuttgart 2015, 270–87.
6 Weissman JS, Cooper Z, Hyder JA, Lipsitz S, Jiang W, Zinner MJ, Prigerson HG. End-of-Life Care Intensity for Physicians, Lawyers, and the General Population. JAMA 2016;315(3):303–5.
7 Gronemeyer R, Heller A. In Ruhe Sterben. Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann. München 2014.