Migrantenkinder in der Kinderarztpraxis
Medizinische Betreuung

Migrantenkinder in der Kinderarztpraxis

Übersichtsartikel
Ausgabe
2017/50
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03135
Schweiz Med Forum 2017;17(50):1124-1132

Affiliations
a Hôpital de l’Enfance, Département femme-mère-enfant, CHUV, Lausanne; b Cabinet de pédiatrie, Bolligen; c Cabinet de pédiatrie, Nyon;
d Service d’infectiologie pédiatrique, HUG, Genève; e Schweizerisches Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH), Basel

Publiziert am 12.12.2017

Die medizinische Betreuung von Migrantenfamilien und ihren Kindern ist sowohl in freien Praxen als auch in Notfallstationen von Spitälern ein wichtiger Bestandteil des ärztlichen Alltags. Hausärzte stellen für diese Familien die wichtigsten Ansprechpartner dar.

Einleitung

In der Schweiz ist der Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung sehr gross (Abb.1, [1]). In den fünf grössten Schweizer Städten gehört ca. jedes zweite Kind unter sechs Jahren einer Migrantenfamilie an. Zwölf Prozent der Bevölkerung sind 15–25-jährige Jugendliche. Von ihnen stammt fast die Hälfte aus Familien mit Migrationshintergrund.
Abbildung 1: Migranten und einheimische Bevölkerung in der Schweiz 
nach Altersklassen (BFS, 2015; [1]).
Haus- und Kinderärzte spielen in unserem Gesundheitssystem eine entscheidende Rolle. Die Migrantenkinder kommen regelmässig in ihre Konsultation und die Haus- und Kinderärzte geniessen das Vertrauen der Migrantenfamilien, für welche sie einen «wichtigen Ansprechpartner, den man um Rat fragt» darstellen. Andere Versorgungsstrukturen wie Notfallstationen werden ebenfalls häufig in Anspruch genommen (Abb. 2).
Abbildung 2: Quadrat von K. L. White (1961), modifiziert nach L.A. Green (2001), Bodenmann (2010) und adaptiert (M. Gehri) für die Darstellung des Anteils von Patienten im Kindesalter (Einheimische und Migranten), die in schweizerischen Städten innerhalb eines Monats einen Hausarzt aufsuchen, unter Angabe des Grundes (pro 1000 Kinder).
Die gesundheitliche Betreuung von Migrantenkindern umfasst sowohl die medizinische Versorgung als auch die Prävention, die gesundheitliche Aufklärung sowie die uneingeschränkte Wahrung ihrer Rechte im weitesten Sinne. Die Verteidigung der «Gesundheitsrechte» der Migrantenkinder und die Sorge für ihre gelungene Integration in die Gesellschaft als zukünftige Erwachsene sind eine wichtige Aufgabe von Haus- und Kinderärzten.
Der Mehrheit der Migrantenkinder geht es gut, wenn ihr «Integrationsprozess» [2], welcher für sie eine entscheidende Lebensphase darstellt, zufriedenstellend verläuft. Sie sind in das schweizerische Gesundheits- und Sozialsystem integriert und es muss auf dieselben gesundheitlichen Risikofaktoren wie bei Kindern der einheimischen Bevölkerung geachtet werden. Bei dieser Gruppe der Migrantenkinder sollte der Kinderarzt eine ganzheitliche, patienten- und familienzentrierte Versorgung anstreben und sein Augenmerk nicht auf den Migrationshintergrund richten.
Einige Migrantenkinder und ihre Familien bedürfen jedoch besonderer Aufmerksamkeit (Tab. 1). Üblicherweise handelt es sich dabei um Familien, welche in prekärsten sozialen Verhältnissen leben und bei denen die Art der Aufenthaltsbewilligung (Ausweis) und deren Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung (Tab. 2) eine wichtige Rolle spielen. Die Mehrheit der Migranten, die in den letzten Jahren in die Schweiz gekommen sind, stammt aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Äthiopien und Somalia (wobei von diesen fast alle über Lybien eingereist sind und per Boot das Mittelmeer überquert haben).
Tabelle 1: Migrantenkinder und Arten der Gesundheitsrisiken.
Kinder mit höchstem Gesundheitsrisiko
Kinder aus Entwicklungs- und Kriegsländern oder Ländern nach einer humanitären Katastrophe
Unbegleitete Kinder (unbegleitete minderjährige Asylsuchende [UMA], «unsichtbare Kinder», «von ihren Familien getrennte Kinder» je nach Terminologie)
Neugeborene und junge Säuglinge (sowie Schwangere, siehe spezifisches Kapitel, den-noch ist der Hausarzt involviert!)
Kinder mit Migrationshintergrund, die in hoch prekären Verhältnissen in der Schweiz leben (Roma, sozial Ausgegrenzte, «illegale» Flüchtlinge usw.)
Kinder, von denen ein, beide Elternteile oder ein Geschwisterkind erkrankt sind
Chronisch kranke Kinder (z.B. mit Sichelzellenanämie, Asthma, psychomotorischer 
Entwicklungsstörung, behinderte Kinder usw.)
Risikoarten
«Akutes» Risiko bei der Ankunft in Bezug auf die psychische oder körperliche Gesundheit, wobei sich die eine Kategorie natürlich auf die andere auswirken kann (z.B. «weibliche Genitalverstümmelung» [«female ­genital mutilation», FGM], posttraumatische Belastungsstörung [PTBS], Tuberkulose, Hepatitis B usw.)
Mittel- oder langfristiges Risiko, insbesondere für die Entwicklung von Krankheiten der westlichen Industrienationen («metabolische» Erkrankungen, Adipositas, Risikoverhalten usw.) und ordnungsgemässe Versorgung häufiger Erkrankungen wie: (in ungeordneter Reihenfolge) Asthma, Epilepsie, schulische Defizite, Diabetes, Sichelzellenanämie usw., welche für Migranten mitunter komplexere Herausforderungen bedeuten als für die einheimische Bevölkerung
Risiko für den Erwerb von Infektionskrankheiten (Malaria, Hepatitiden, Tuberkulose usw.) während eines Aufenthalts im Herkunftsland
Tabelle 2: Rechtlicher Status, Ausweis und soziale Konsequenzen (Versicherung) (adaptiert nach [4]).
StatusPerson …Anrecht auf Krankenversicherung, Ausweis
Asylbewerber… die formell in der Schweiz um Schutz nachsucht, unabhängig vom zu erwartenden Bescheid; diese Person wünscht als Flüchtling anerkannt zu werden und in den Genuss des damit verbundenen Rechtsschutzes und der damit verbundenen materiellen Hilfe zu gelangen. Hat Anrecht auf eine Basisversicherung, den Kantonen ist es jedoch freigestellt, die Wahl des Versicherers und des Leistungserbringers einzuschränken.

Ausweis N
Flüchtling… die in ihrem Herkunftsland oder letzten Aufenthaltsland aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, ­Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung verfolgt wird oder zu Recht befürchtet, verfolgt zu werden.Hat in Bezug auf Krankenversicherung Anrecht auf dieselben Bedingungen wie Schweizer ­Bürger.

Ausweis F, N oder S, manchmal B
Nichteintretens-entscheid (NEE)… deren Asylgesuch aus formellen Gründen (mangelnde Kooperation, Fehlen gültiger Dokumente etc.) nicht genauer geprüft wird; diese Person muss die Schweiz in der Regel sofort verlassen.Hat Anrecht auf die minimale Nothilfe, inbegriffen Zugang zu medizinischer Betreuung.

Ausweis F
Dublin-Fall… deren Asylgesuch grundsätzlich nicht weiter geprüft wird, weil bereits ein früheres Asylgesuch in einem dem Schengenraum angeschlossenen Land hängig oder abgeschlossen ist, dies unabhängig vom Bescheid. Diese Person wird in das entsprechende Land zurückgeschickt.Hat Anrecht auf die minimale Nothilfe, inbegriffen Zugang zu medizinischer Betreuung.

Kein Ausweis
Person mit nega-tivem Entscheid… die früher den Status eines Asylbewerbers innehatte und, nach Abschluss des Verfahrens durch das Bundesamt für Migration und Erledigung allfälliger Rekurse bei den zuständigen Bundesbehörden, einen definitiven negativen Bescheid erhalten hat.Keine Krankenversicherung, kann aber eine ­solche abschliessen und eine teilweise ­Prämien-subvention erhalten, ohne Gefahr, ­angezeigt zu werden.

Kein Ausweis
Sans-Papiers… ausländischer Nationalität, die sich illegal in der Schweiz aufhält, sei es nach Ablauf der Gültigkeit eines Touristenvisums oder einer anderen legalen Aufenthaltsgenehmigung, sei es nach Beendigung eines Asylverfahrens mit abschlägigem Entscheid, ohne dass ein weiteres Aufenthaltsgesuch gestellt oder bewilligt wurde resp. obschon eine Aufenthaltsbewilligung ­verloren ging.Keine Krankenversicherung, kann aber eine ­solche abschliessen und eine teilweise ­Prämien-subvention erhalten, ohne Gefahr, ­angezeigt zu werden.

Kein Ausweis
UMA (= unbeglei-teter minder­jähriger Asyl­suchender)… unter 18 Jahren, die von keinem Elternteil oder ­gesetzlichen Vertreter begleitet wird.Hat Anrecht auf eine Basisversicherung, den Kantonen ist es jedoch freigestellt, die Wahl des Versicherers und des Leistungserbringers einzuschränken.

Ausweis N
Um diese Migrantengruppe medizinisch korrekt zu versorgen, ist die Aneigung verschiedener Kompetenzen, insbesondere transkultureller Kompetenz (TKK), unerlässlich. Dabei handelt es sich, kurz gesagt [3], um Einstellungen, Kenntnisse und Know-how, dank derer der Arzt Patienten unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei (ungefragte Verallgemeinerungen sind nicht förderlich, da auf diese Weise tatsächliche Gesundheitsprobleme unentdeckt bleiben können) und qualitativ hochwertig medizinisch betreuen kann. Eine der wichtigsten Kompetenzen besteht natürlich darin, «zu dritt» mit Hilfe eines entsprechend ausgebildeten Dolmetschers/Kulturmittlers arbeiten zu können. Die TKK trägt somit dazu bei, spezifische Probleme von Migrantenkindern und ihren Familien zu identifizieren und angemessen darauf zu reagieren.
Dieser Beitrag verfolgt zwei Ziele:
1. Die wichtigsten Aspekte bezüglich gesundheitlicher und psychosozialer Probleme von Migrantenkindern zusammenzufassen;
2. Haus- und Kinderärzte auf diese Weise dazu in die Lage zu versetzen, die Rechte der Migrantenkinder, insbesondere derjenigen aus prekärsten Verhältnissen, zu verteidigen, damit diese Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung erhalten und sich gut in die Gesellschaft integrieren können.

Überblick über einige pädiatrische Problematiken

Die sogenannte «Erstabklärung», Infektionskrankheiten und Impfungen

Die Gruppe der erst kürzlich eingereisten Migranten wurde in der Schweiz umfassend untersucht [4, 5]. In Tabelle 3 ist die direkt nach der Ankunft in der Schweiz vorgeschlagene Erstabklärung zusammengefasst.
Tabelle 3: Vorgeschlagene «Erstabklärung» eines (kranken oder gesunden) Kindes: Unverbindlicher Kalender (nach [4]).
Klinisch gesundes Kind
1. ArztbesuchAnamnese und detaillierte klinische Untersuchung
Ausschluss von Problemen, die unmittelbare Schutzmassnahmen oder Isolierung erfordern
Synthese, Erklärung, Zeitplan der Nachkontrollen
Einige Tage später (Tag 1)Mantoux-Test
Impfungen ergänzen, je nach Alter, Vorgeschichte, Herkunftsland usw.
Behandlung von oder Suche nach Parasiten (Stuhluntersuchung)
Tag 3Auswertung des Mantoux-Tests
Nach 6 WochenKBB, Ferritin, Serologien (Tetanus, Hepatitis B, weitere je nach geographischer Herkunft des Kindes und anamnestischen ­Umständen [HIV, Hepatitis, Hämoglobinopathien, Vit. D])
Nach 8 WochenUntersuchung von Entwicklung, Gehör, Sehschärfe usw. ergänzen
Resultate der Blutentnahme besprechen
Impfungen in Funktion der «Impfantwort» ergänzen
Klinisch krankes Kind
Sorgsam nach schweren und relativ häufig importierten Pathologien suchen, 
je nach geographischer Herkunft des Kindes, z.B.:
– Aus endemischem Sumpfgebiet stammend: Bei Fieber, aktuell festgestellt oder 
anamnestisch, Malaria ausschliessen (Schnelltest)
– Bei Fieber und je nach Kontext und geographischer Herkunft auch: Typhus, Dengue, Meningokokkenmeningitis, Amoebiasis, Hepatitis, Bilharziose usw.
Bei chronischem Husten und schlechtem Allgemeinzustand Lungentuber­kulose 
ausschliessen
Nachkontrollen und weitere Abklärungen planen (siehe klinisch gesundes Kind).
Einige Kinder, insbesondere aus armen, Kriegs- oder Tropenländern, haben ein höheres Risiko für in der Schweiz nur selten vorkommende Infektionskrankheiten (typischerweise Malaria, woran bei einem Status febrilis nach kürzlich erfolgter Einreise zu denken ist, in diesem Fall ist noch am selben Tag ein Schnelltest [RDT®] durchzuführen). Bei den im Allgemeinen weltweit flächendeckend angewendeten Impfprogrammen gibt es Ausnahmen, beispielsweise in Kriegsländern ohne funktionierendes Gesundheitssystem. Demzufolge kommt es in diesen zu Impflücken. Mehrfach wurde von einem unzureichenden Impfstatus in Bezug auf die Tetanus-, Keuchhusten- und Hepatitisimpfungen bei kürzlich aus Syrien eingereisten Migranten berichtet. Nach einigen Wochen und dem Erhalt der Ergebnisse der Blutuntersuchungen bei der Erstabklärung (u. a. Titerwerte) sind entsprechende «Nachhol­impfungen» anzubieten.

Psychische Gesundheit

Migration ist häufig mit der Entfernung von der traditionellen Familie und der Anpassung an die Aufnahmegesellschaft korreliert. Dies ist eine äusserst wichtige Herausforderung (unter den ohnehin bereits zahlreichen Herausforderungen für Migranten), umso mehr, da dieser Prozess häufig mit der Diskriminierung von Neuankömmlingen einhergeht.
Obgleich Migration auf den ersten Blick keinen prädiktiven Faktor für Verhaltens- oder emotionale Probleme darstellt, haben mehrere Studien bei Migrantenkindern mehr Depressionen und/oder Angststörungen gezeigt [6]. Sehr viel stärker als die Herkunft wirken sich jedoch die sozio-ökonomischen prädiktiven Faktoren aus;
Daher ist es wichtig, bei den ersten Konsultationen sowohl die Schutz- als auch die Risikofaktoren zu identifizieren (Tab. 4), da es auf diese Weise besser möglich ist, die Kinder herauszufiltern, welche einer intensiveren psychologischen Betreuung (posttraumatische Belastungsstörung [PTBS], Angststörungen, Depressionen usw.) bedürfen. Da die Hälfte der Kinder, für die eine derartige Betreuung erforderlich ist, bei ihrer Ankunft (oder in den ersten Wochen danach) nicht ermittelt wird, ist eine Erstuntersuchung und («systemische») Beurteilung der Familiensituation empfehlenswert. Je mehr Risikofaktoren vorliegen, desto eher sind psychische Gesundheitsprobleme absehbar.
Tabelle 4: Risikofaktoren für psychische Gesundheitsprobleme, Grundbedürfnisse 
und mögliche Interventionen (angepasst nach [6]).
Risikofaktoren
Vor und während 
der MigrationTrennung von den Eltern
Direkte Gewalterfahrungen (sexuelle Gewalt, Zwangsheirat usw.)
Hungersnot, unzureichende Trinkwasser- und Lebensmittelversorgung
Tod eines Elternteils
Zerstörung des Lebensraums und Zwangsumsiedlung
Flüchtlingscamp
Nach der MigrationArbeitsloser Elternteil, ohne Beschäftigung (Langzeitarbeits­losigkeit, mehrere Monate)
Unfähigkeit der Eltern, mit dem Stress der familiären Situation 
umzugehen
Psychische oder körperliche Erkrankung der Eltern
Fortbestehende Sprachprobleme
Lernschwierigkeiten, schulische Probleme und Verweigerung des Besuchs von Bildungseinrichtungen
«Kulturelle» Integrationsprobleme
Sozioökonomische Probleme
Rassistische und/oder häusliche Gewalt
Grundbedürfnisse und mögliche Interventionen
Vereinigungen, welche sich um die Wiederzusammenführung der Familie kümmern 
(z.B. Schweizerisches Rotes Kreuz)
Wohnung
Sicherheit
Gesunde Ernährung
Relative finanzielle Unabhängigkeit
Arbeit (Beschäftigung) mindestens eines Elternteils
Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen
Zugang zu nachobligatorischer Bildung und Ausbildungsplätzen für Jugendliche
Zugang zu Möglichkeiten zur Ausübung religiöser Praktiken
Zugang zu Gemeinschaftsressourcen
Diese können auf unterschiedliche Weise behandelt werden:
– in Einzelsitzungen (beim Psychiater oder Psychologen);
– innerhalb schulischer Strukturen (Psychologen);
– in den Aufnahmelagern (Erzieher);
– respektive in den Familien und Gemeinschaften (Kulturmittler);
– die Rangordnung richtet sich nach der individuellen Situation und der «gemeinschaftliche und pädagogische» Ansatz wird als Behandlung erster Wahl bevorzugt.

Ernährung und Bewegung, Adipositas

Die Adipositasprävalenz ist häufig bereits ab den ersten Monaten nach der Ankunft in der Schweiz stark erhöht («Adipositas-Krise»). Hinzu kommen zu wenig körperliche Aktivität und Bewegungsmangel in Kombination mit bewegungsarmen Tätigkeiten (vor Bildschirmen) ab dem jüngsten Kindesalter, welche sich negativ auf die psychomotorische Entwicklung (höheres Unfallrisiko, geringere Beweglichkeit usw., bei Mädchen stärker ausgeprägt) und das Sozialleben (stärkere Ausgrenzung, weniger Mannschaftssport oder Aktivitäten in Teams usw.) auswirken. Ferner stellen Softgetränke ein echtes Problem dar, welches bei Mi­granten in prekären Verhältnissen noch stärker ausgeprägt ist. Auch bestimmte Mangelerscheinungen werden bei Migrantenkindern (und ihren Müttern) mitunter häufiger beobachtet, wie beispielsweise Vitamin-D-Mangel bei dunkelhäutigen Kindern mit geringer Sonnenexposition. Daran sollte bei Alarmzeichen (Müdigkeit, Knochen- und Gelenkschmerzen) gedacht werden. Ebenso verhält es sich mit der Eisenmangel­anämie, auf welche bei Risikofaktoren oder Alarmzeichen (Blässe, Müdigkeit) getestet werden sollte, obgleich entgegen unserer eventuell vorgefassten Meinung mehrere Studien, unter anderem in der Schweiz [6], gezeigt haben, dass Migrantenkinder im Allgemeinen nicht häufiger anämisch waren als einheimische Kinder. Entscheidendere Faktoren sind hier vielmehr die späte oder Nichteinführung einer abwechslungsreichen Ernährung, insbesondere von Getreide, und nicht die Herkunft.
Es werden folgende Massnahmen empfohlen:
– systematische Kontrolle der Wachstums- und Gewichtskurve, einschliesslich pädiatrischer BMI-Kurve;
– die Förderung körperlicher Aktivität «von Geburt an» [7];
– die Arbeit am «Körperbild» in bestimmten Gesellschaften;
– stärkere Konzentration auf Mädchen als auf Jungen und Miteinbezug der Eltern (!);
– bei Kindern mit Risikofaktoren oder Alarmzeichen (Anämie, Rachitis) an Mangelerscheinungen denken.

Wachstums- und Entwicklungskontrolle: psychomotorische und Pubertätsentwicklung

Wie alle Kinder in der Schweiz müssen auch Migrantenkinder unabhängig von ihrem Alter und Gesundheitszustand regelmässig ärztlich begutachtet werden.
Dabei ist die Kontrolle der Wachstums- und Gewichtskurve (siehe Punkt «Ernährung und Bewegung, Adipositas» weiter oben) sowie die Kontrolle des Pubertätsverlaufs (Tanner-Stadien) unerlässlich. In zahlreichen Beobachtungen wurde festgestellt [8], dass Mädchen niedrigen sozio-ökonomischen Niveaus, häufig einhergehend mit bestimmten ethnischen Gruppen, zu früh in die Pubertät kommen, was überdies mit einer «Adipositas-Krise» korreliert ist. Eine verfrühte Pubertät beginnt mit einem gesteigerten Wachstum und einer Veränderung des Körpergeruchs, was frühzeitig abzuklären ist. Ein mögliches Endresultat ist eine geringe Grösse im Erwachsenenalter. Hier können Präventionsmassnahmen (die zunächst mit den Eltern zu besprechen sind), jedoch auch Therapiemassnahmen (welche nur selten bis zum «Bremsen» der Pubertät führen, das stets von einem Facharzt empfohlen werden muss) angeboten werden.
Darüber hinaus ist eine aufmerksame und frühzeitige Kontrolle der psychomotorischen Entwicklung unerlässlich [9]. Aufgrund fehlender Screening- und Beurteilungsinstrumente für die Entwicklung von Kindern aus anderen Kulturkreisen oder geographischen Gebieten gestaltet sich die Beurteilung schwierig. Entwicklungsverzögerungen aufgrund von so­zialen, Wohnbedingungen oder Unterstimulation, beispielsweise aufgrund der schlechten Gesundheit der Mutter, werden früh sichtbar und können relativ einfach durch begleitende Massnahmen (Kinderkrankenschwestern oder Psychomotoriker daheim bzw. in Gemeindezentren usw.) korrigiert werden. Bei starken Zweifeln oder Fortbestehen der Probleme wird natürlich empfohlen, den Rat eines Facharztes für neurologische Entwicklung einzuholen.

Jugendliche

Risikoverhalten bei Jugendlichen:

Das Jugendalter ist eine Zeit, in der sich die eigene Identität des Einzelnen herausbildet. Es stellt auch eine kritische Phase für die Entwicklung von Risikoverhalten (Tabak-, Alkohol-, Drogenkonsum, Süchte, Gewalt usw.) dar. In Europa und der Schweiz ist dieses bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen weniger ausgeprägt [10] als bei den einheimischen Jugendlichen (mit Ausnahme der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden [UMA], siehe weiter unten). Die zweite Generation hingegen ähnelt sehr der einheimischen Bevölkerung. Es sind also vor allem die sozio-ökonomischen und familiären Bedingungen entscheidend. Die Daten diesbezüglich sind jedoch allgemeiner Natur, von geringer Evidenz und höchst ­unterschiedlich. Nachfolgend sind dennoch einige Fakten aufgeführt, wobei man sich vor Verallgemeinerungen hüten sollte, da Vorurteile, auch bei Ärzten, hartnäckig sein können:
– Alkoholkonsum: eher seltener.
– Vor Smartphones, Bildschirmen usw. verbrachte Zeit: eher mehr.
– Riskantes Sexualverhalten: häufiger mit zahlreichen ungewollten Schwangerschaften.
– Gewalt: insbesondere bei tätigkeitslosen Jugendlichen stärker ausgeprägt, bei Jugendlichen mit Zugang zu Schulbildung, Ausbildung oder Studium geringer. Die Jugendlichen sind jedoch vor allem Gewaltopfer, insbesondere innerhalb der Familie!
– Die Schulbildung wird, ebenso wie das «Familienklima», überall als sehr wirkungsvoller Integrations- und Schutzfaktor hervorgehoben. Demzufolge sollte der Kinderarzt auch die Eltern des Jugendlichen ­kennenlernen.
– Präventionsmassnahmen sind unerlässlich und der Zugang zu ihnen muss erleichtert werden.
– Die ärztliche Schweigepflicht muss um jeden Preis gewahrt bleiben, auch in komplexen Situationen, in denen es um gesetzliche und gesundheitliche Bestimmungen geht.

Unbegleitete minderjährige Asylsuchende [11]

– Ankunft immer jüngerer Jugendlicher in hoher Zahl mit traumatischen Fluchterlebnissen in prinzipiell zuständigen Aufnahmelagern, denen es jedoch häufig an ausreichend Erziehern und dem erforderlichen Begleitpersonal fehlt.
– Hinzu kommen die Eigenschaften des Jugendalters UND die negativen Erfahrungen durch die Fluchtbedingungen (einschliesslich der Bedingungen in ihren Heimatländern, während der Flucht und bei der Ankunft).
– PTBS: besteht immer. Angesichts der neuesten Daten ist eine rasche Beurteilung durch kompetente Personen erforderlich.
– Hohe Inzidenz akuter körperlicher (insbesondere Tuberkulose) und chronischer Erkrankungen (z.B. Asthma, Diabetes, ohne dass dies logisch erklärbar wäre). Auch an sexuell übertragbare Krankheiten (STD) und HIV ist zu denken (zahlreiche Missbrauchsfälle, Vergewaltigungen usw. während der Flucht).
– Unvollständiger Impfstatus: an die eher strengen schweizerischen Impfempfehlungen halten [3], was jedoch bei UMA absolut gerechtfertigt ist.
– Altersbestimmung [13]: Diese sollten Ärzte aus ethischen Gründen niemals durchführen. Prinzipiell handelt es sich bei UMA um Kinder und/oder Jugendliche und das Alter eines jungen Menschen kann mit keiner paraklinischen Methode genau festgestellt werden (+/–18 Monate bei umfassender Beurteilung anhand eines klinischen ärztlichen Gutachtens, Knochenröntgenaufnahmen und Zahnstatus, wobei beachtet werden sollte, dass es nicht empfehlenswert ist, Kinder aus administrativen und gesetzlichen Gründen unnötigerweise einer Strahlenbelastung auszusetzen). Im Zweifelsfall gelten sie als vulnerable schutzbedürftige Minderjährige.
– Der Zeitraum des Übergangs ins Erwachsenenalter ist eine wichtige sensible Phase, die der Hausarzt aufmerksam begleiten können sollte (Sozialisierung, Ausbildung, die Möglichkeit einer nachobligatorischen Bildung usw.). Dies ist nur mit guten Kenntnissen der sozialen, juristischen, medizinischen und bildungsrelevanten Netzwerke möglich.
– Und schliesslich ist der Versuch (z.B. über Angebote des Roten Kreuzes), verloren gegangene Familienmitglieder wiederzufinden und wenn möglich wieder zusammenzuführen, von grösster Wichtigkeit.

Sonstiges

Zahnprobleme

Kleinkindkaries (früher «Schoppenkaries» genannt) beeinträchtigt das Milchgebiss vor dem Durchbruch der bleibenden Zähne. Die Prävalenz kariöser Zähne bei Kindern unter 5 Jahren in der Schweiz (jedes 4. Kind) ist beunruhigend [14, 15]. Dies hängt (jedoch nicht ausschliesslich, da es noch weitere Faktoren gibt) mit dem wiederholten Dauernuckeln von Schoppen mit zuckerhaltigen Getränken (Sirup, kalter gesüsster Tee) zusammen. Kleinkindkaries ist nicht nur eine Zahnerkrankung, welche das bleibende Gebiss beeinträchtigt, es ist auch ein zuverlässiger Marker für so­ziale Ungleichheit: Migranten und Kinder in prekären sozialen Verhältnissen (mitunter beides zusammen) sind häufiger davon betroffen. Es sind gezielte präventive Massnahmen wie ein frühzeitiges Screening auf erste Läsionen erforderlich, weil jedes Kind das «Recht auf ein strahlendes Lächeln» hat:
Dabei spielt der Hausarzt eine wichtige Rolle:
– beim Aufspüren von Hochrisikoverhältnissen in Familien, die er besser als irgendjemand anderes im Gesundheitssystem kennt;
– beim Screening auf erste sichtbare Läsionen bei Kindern im Vorschulalter (Abb. 3).
Abbildung 3: Milchzahnkaries: frühe Läsionen am Milchgebiss und ihre Folgen bei fehlender Behandlung und/oder fehlendem Screening.
Mithilfe einer kurzen Schulung kann der Hausarzt lernen, Kariesläsionen zu erkennen ([16] und Abb. 3). Ferner muss er in Kontakt mit den entsprechenden Fachleuten stehen, denen er die Kinder zuweisen kann (Zahnärzte und Mitarbeiter, die auf Kinder spezialisiert sind, einschliesslich Vorbereitung der Kinder und Analgesie, z.B. mittels äquimolarem Gemisch aus Sauerstoff und Lachgas (MEOPA®).
Durch diese doppelte Prävention kann er zu einer signifikanten Verringerung der Kariesprävalenz beitragen. So kann er beispielsweise aufs Zähneputzen mit einer geeigneten fluoridhaltigen Zahnpasta bestehen: ab einem Jahr einmal täglich, ab dem zweiten Geburtstag zweimal täglich und ab dem vollendeten dritten Lebensjahr dreimal täglich.

Behinderte Kinder und Besonderheiten 
für Migrantenfamilien

Schätzungsweise fast 10% [17] der Flüchtlinge leiden an einer Behinderung. Diesbezüglich sind jedoch, insbesondere in Bezug auf Kinder, keine genauen Daten verfügbar. Die Reisebedingungen während der Flucht können eine bereits bestehende Behinderung überdies noch verschlechtern, wodurch die Ankunft im Aufnahmeland besonders problematisch wird. Die Hauptaspekte der «globalen» Betreuung aller behinderten Kinder, gleich ob Migranten oder nicht, für Hausärzte sind in Tabelle 5 aufgeführt. Folgende sind die Hauptcharakteristika von Migrantenfamilien mit einem behinderten Kind [18]:
Tabelle 5: Behinderte Kinder und gesundheitliche Grund­bedürfnisse (adaptiert nach [17]).
Beurteilung, Anamnese, klinische Untersuchung und Synthese, abschliessende Diagnosestellung zusammen mit 
der Familie
Ansprechen von Aspekten wie Entwicklungsverzögerungen und Lernschwierigkeiten sowie die Erläuterung von Begriffen wie Beeinträchtigung, Behinderung (und des entsprechenden Schweregrades: leichte, mittlere, schwere oder hochgradige Behinderung) sowie des Verlaufs: schleichend, in Schüben, regressiv), Invalidität, Unfähigkeit sowie der Einschränkungen, welche dadurch für das Kind und seine Familie entstehen
Information, ob die Behinderung genetisch bedingt oder erworben ist, ganzheitliche Aufklärung über die spezifischen Probleme der Behinderung (Sprache, Hören, Sehen, orthopädische Probleme usw.) sowie die, natürlich dauerhafte, Zuweisung an die entsprechenden Fachärzte
Angebot eines spezifischen Gesundheitshefts für chronisch kranke und behinderte Kinder
Psychologische Unterstützung, Familienbegleitung
Soziale und finanzielle Unterstützung
– Bei einer schweren Behinderung, die bei der Ankunft in der Schweiz festgestellt wurde, müssen diese Kinder, ungeachtet ihres gesetzlichen Status, rasch an eine kompetente Gesundheitseinrichtung überwiesen werden, welche die Situation umfassend beurteilen kann (beispielsweise eine Poliklinik oder eine Spitalabteilung für Allgemeine Pädiatrie, welche rasch mit den entsprechenden Facheinrichtungen zusammenarbeiten kann).
– In allen anderen Fällen wird sich, wie bei allen anderen Kindern auch, eine schrittweise Versorgung entwickeln. Überdies sind folgende spezifische Aspekte zu nennen:
• Ursachen und Wahrnehmung der Behinderung: Die Ursachen werden von allen unterschiedlich wahrgenommen: auf traditionelle (von den Familien) und medizinische Weise (von den Ärzten). Erstere berufen sich mitunter (häufig?) auf übernatürliche Mächte, den Glauben, das Schicksal und letztere auf einen Gendefekt, einen Sauerstoffmangel bei der Geburt usw. Diese «gegensätzlichen» Sichtweisen können bei der Migranten­familie und den Ärzten zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der und Vorstellungen über die Behinderung führen. Die Unterstützung und der Beitrag eines Kulturmittlers kann in starkem Masse zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen.
• Zahlreichen Migrantenfamilien (wie auch einheimischen Familien) fällt es schwer, sich von ihrem behinderten Kind zu trennen, um es beispielsweise in eine heilpädagogische Einrichtung zu bringen. Nach unserem Kenntnisstand ist der Zugang zu derartigen Strukturen bei der Betreuung eines behinderten Kindes jedoch von gewissem Nutzen.
• Migrantenfamilien mit behinderten Kindern müssen nicht nur mit den Herausforderungen der Behinderung fertig werden, sondern sich überdies noch mit den administrativen, materiellen, ökonomischen und kulturellen Anforderungen aufgrund ihrer Migration auseinandersetzen. Die Unterstützung durch die Sozialdienste (und ihr Kontakt zum Hausarzt) sind dabei unerlässlich.

Gesundheitsschädigende Traditionen – weibliche Genitalverstümmelung [19, 20]

Die weibliche Genitalverstümmelung («female ­genital mutilation» [FGM]) erfolgt im Kindesalter (mitunter bereits bei Säuglingen) und wird in bestimmten Ländern der Welt sehr häufig durchgeführt, weshalb Mädchen und Frauen aus diesen Ländern (z.B. Ägypten, Somalia, Indonesien, Erythrea, einigen kurdischen Regionen, Westafrika usw.) besonders aufmerksam untersucht werden müssen. Für unerfahrene Personen können die verschiedenen Formen von FGM schwer zu erkennen sein. FGM wirken sich negativ auf die Gesundheit der Mädchen aus:
– sofortige Folgen (Blutungen, Infektionen, Verhaltensänderungen usw.);
– langfristige Folgen:
• gynäkologische Folgen (Harnwegsinfektionen, Keloide, Menstruationsbeschwerden, Sexualität usw.);
• obstetrische Folgen: negative Folgen für die Geburt in den südlichen Ländern, in den entwickelten Ländern jedoch in geringerem Masse;
• Infektionen (z.B. Hepatitis B, HIV);
• psychologische Folgen.
Es werden folgende Massnahmen empfohlen:
– aktive Prävention:
• Bei Mädchen und Frauen aus Ländern mit hoher FGM-Prävalenz bei der Gemeinschaft (z.B. bei einem Kulturmittler) und der Familie darüber informieren, ob diese Praktik existiert und die Absicht besteht, diese durchzuführen.
• Gespräche zur Prävention führen (medizinische und gesetzliche Kenntnisse anführen: in der Schweiz untersagte Praktik, auch auf Reisen ins Herkunftsland (Art. 124. Körperverletzung / Verstümmelung weiblicher Genitalien): Die Gründe der Familien anhören, warum sie eine Beschneidung durchführen möchten und welche Befürchtungen bestehen, wenn sie dies nicht tun, um ihnen nützliche Argumente zu liefern.
• Eventuell bei drohender FGM um die Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht bitten.
– Betreuung:
• Selten werden FGM aufgrund von akuten Komplikationen bei der Beschneidung, häufiger jedoch aufgrund von Symptomen im Zusammenhang mit FGM oder bei von den Sozialdiensten in Auftrag gegebenen Gutachten («Misshandlungen») entdeckt. In diesem Fall ist es nicht nur wichtig, das betroffene Kind, sondern auch die anderen Mädchen der Familie und die Mutter zu untersuchen.
• Allgemeine klinische Untersuchung und Untersuchung der Genitalien (nur wenn der Arzt über die entsprechenden Fachkenntnisse verfügt).
• Fachärztliche (in seltenen Fällen in Form eines chirurgischen Eingriffs, jedoch niemals vor dem Jugendalter) und psychosoziale Betreuung (Hilfsorganisationen) anbieten.
• Die Angelegenheit niemals selbst regeln, sondern der entsprechenden Kinderschutzbehörde (je nach Gesetzgebung des Kantons) melden.
Besonderes Augenmerk verdienen kleine Kinder in ­Begleitung eines einzelnen erwachsenen Mannes: Es gibt zahlreiche Berichte von Waisenkindern, die vom angeblichen Vater verlassen wurden, der sich aufgrund illegaler Handelsgeschäfte oder aus bestimmten ­Migrationsmotiven (einschliesslich Dschihadismus) fälschlicher­weise als ihr Vater ausgegeben hatte. Dies kommt sehr selten vor (die meisten der kleinen Kinder in Begleitung ihres Vaters haben ihre Mutter und mitunter auch ihre Geschwister verloren), ist jedoch beunruhigend genug, um einige Worte darüber zu verlieren.

Schlussfolgerung

Migrantenfamilien und ihre Kinder stehen bei ihrer Ankunft und in ihrem späteren Leben in der Schweiz vor zahlreichen sehr komplexen Herausforderungen. Die Familie muss sich, wenn sie wiedervereint und nicht zersplittert ist, mit der Unsicherheit der gesetzlichen Lage, finanziellen und Wohnungsproblemen auseinandersetzen. Im Laufe der Zeit, nach zahlreichen Erfolgen und Herausforderungen, werden die Familien mit der Interkulturalität konfrontiert, die von den verschiedenen Familienmitgliedern (Erwachsenen oder Kindern) unterschiedlich erlebt wird. Einerseits stellt diese für alle eine Bereicherung dar und führt andererseits zu manchmal unerträglichen Spannungen. Die wichtige Aufgabe des Hausarztes besteht darin, Führung zu bieten und Prävention zu betreiben, um das zu vermeiden, was J.C. Métraux «doppelte Marginalisierung» nennt [21], was bedeutet, dass sich das Kind oder der Jugendliche zwischen zwei Welten hin- und hergerissen fühlt, die mitunter schwer unter einen Hut zu bringen sind. Dafür ist es unerlässlich zuzuhören, viel Verständnis zu zeigen und die Werte jedes Einzelnen in der Familie, insbesondere der Eltern, zu achten.

Postulat 1: für Migrantenkinder

Migrantenkinder müssen Zugang haben zu:
– Einrichtungen zur Gesundheitsförderung und -aufklärung sowie «migrantengerechten» Versorgungsstrukturen;
– Schul- und Berufsausbildung, insbesondere zu nachobligatorischer Bildung;
– einem Gesundheitsheft von Geburt oder ihrer Ankunft in der Schweiz an; dieses sollte ordnungsgemäss ausgefüllt, inklusive Wachstums-, Gewichtskurven (BMI) und Pubertätsentwicklung sowie mit den entsprechenden Erklärungen versehen sein; Kinder mit chronischen Erkrankungen müssen besondere Gesundheitshefte erhalten (siehe nützliche Informationsquellen).

Postulat 2: für alle Gesundheitsfachleute, insbesondere Haus- und Kinderärzte

Diese müssen Zugang haben zu:
– Schulungen (Schulungsmöglichkeiten) und medizinischen Fachkenntnissen (einschliesslich TKK);
– einem Netzwerk mit entsprechend organisierten Fachleuten (Ärzte, Pfleger, Behörden, Sozialdienste), die auf Migranten spezialisiert sind (spezielle Zahnpflege-Dienste, Fachärzte für Infektionskrankheiten und Impfungen, Gynäkologen, «Kultur»-psychologen und -psychiater, die einfach erreichbar sind sowie ausgewiesene staatliche Stellen für Mi­grationsangelegenheiten).

Postulat 3: für Ärzte und Migrantenfamilien

Gemeindedolmetschen (auch telefonisch) muss möglich sein und finanziell übernommen werden. Dies stellt eine absolute Priorität und darüber hinaus eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg von Postulat 1 dar.

Postulat 4: allgemein

Forschungen und die (sinnvolle) Nutzung von Kenntnissen und Daten über die Realität der ambulanten «Migrantenmedizin» sind unerlässlich. Dies beginnt mit der Einrichtung und dem Zugang zu einer Datenbank mit zuverlässigen wissenschaftlichen Daten unter vollständiger Wahrung der ethischen Prinzipien.

Nützliche Informationsquellen


Leitlinie zur Abklärung und Vorbeugung von Infektionskrankheiten und Aktualisierung des Impfschutzes bei asymptomatischen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schweiz: http://www.pigs.ch/pigs/frames/documentsframe.html
Schweizerischer reisemedizinischer Ratgeber; Online-Zugang für Fachleute (mit Anmeldung) und öffentliche Website:
Ein Nachschlagewerk für Gesundheitsfachleute, die mit Kindern, jugendlichen Migranten und Flüchtlingen arbeiten, herausgegeben von der «Canadian Pediatric Society»:

Caritas Schweiz kann dabei behilflich sein, Personen zu finden, welche die Prävention und Betreuung bei FGM übernehmen: 
https://www.caritas.ch/de/was-wir-tun/engagement-schweiz/asyl-und-migration.html
Schweizerisches Rotes Kreuz:
Waadtländisches Gesundheitsheft für chronisch kranke Kinder: www.chuv.ch/pediatrie/dmcp-carnet-sante.

Das Wichtigste für die Praxis

• Fast die Hälfte der Kinder in den schweizerischen Städten hat einen Migrationshintergrund. Ihre (erfolgreiche) Integration in die Gesellschaft stellt eine positive Herausforderung dar, umso mehr, da die Migrationsströme in den kommenden Jahren noch zunehmen werden.
• Der Begriff «Migrant» umfasst zahlreiche und komplexe Realitäten. Es ist wichtig, die entsprechenden Definitionen, die gesetzlichen Grundlagen und unterschiedlichen Status von Personen ausländischer Herkunft in der Schweiz zu kennen.
• Die medizinische Betreuung von Migrantenfamilien und ihren Kindern ist sowohl in freien Praxen als auch in Notfallstationen von Spitälern ein wichtiger Bestandteil des ärztlichen Alltags. Hausärzte stellen für diese Familien die wichtigsten Ansprechpartner dar.
• Die Gesundheit einer «signifikanten» Minderheit der Migrantenkinder ist (bei der Ankunft, jedoch auch langfristig) schlechter als die von Schweizer Kindern. Obgleich es der Mehrheit gut geht, ist es wichtig, diejenigen aufzuspüren, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.
• Hausärzte müssen sich bezüglich spezifischer medizinischer Problematiken von Migrantenkindern und ihren Familien (Nachholimpfungen, Infektionskrankheiten, Ernährungsprobleme, Bewegungsmangel und die entsprechenden Folgen, psychische Gesundheit, Risikoverhalten bei Jugendlichen usw.) weiterbilden, das entsprechende Wissen schrittweise in den Praxisalltag integrieren und anwenden.
• Für alle Ärzte, die Migrantenfamilien behandeln, sind der Erwerb transkultureller Kompetenz und insbesondere die Arbeit «zu dritt» mit Hilfe eines Dolmetschers/Kulturmittlers unerlässlich.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Mario Gehri
Hôpital de l’Enfance
Département femme-mère-enfant
CHUV
Chemin de Montétan 16
CH-1004 Lausanne
Mario.Gehri[at]chuv.ch
 1 Bundesamt für Statistik, Schweizerische Eidgenossenschaft, Neuenburg, 2017. Statistischer Bericht zur Integration der Bevölkerung mit Migrationshinter-grund
 2 Berry JW, Phinney JS, Sam DL, Vedder P. Immigrant Youth: Acculturation, Identity, and Adaptation. Appl Psychol. 2006 ;55(3):303–32.
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