Neuropädiatrie: Muskeldystrophie Duchenne: Licht am Ende eines dunklen Tunnels!
Neuropädiatrie

Neuropädiatrie: Muskeldystrophie Duchenne: Licht am Ende eines dunklen Tunnels!

Schlaglichter
Ausgabe
2018/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03133
Schweiz Med Forum 2018;18(0102):22-25

Affiliations
Universitätskinderklinik beider Basel (UKBB), Basel

Publiziert am 03.01.2018

Die x-chromosomal vererbte Muskeldystrophie Duchenne zeigt neben typischen klinischen Befunden auch einen langsam progredienten Verlauf, welcher seit einigen Jahren durch eine Kortikosteroidtherapie etwas verlangsamt werden konnte. Eine kausale, definitiv den klinischen Verlauf verbessernde Therapie müsste das Genprodukt Dystrophin ganz oder teilweise wiederherstellen. Gemäss z.T. noch laufenden Studien eröffnen sich mit «read through»-Strategien oder mit «Exon skipping» für einen Teil der Patienten erste kausale Behandlungsmöglichkeiten.

Hintergrund

Die x-chromosomal vererbte Muskeldystrophie (MD) Duchenne gehört zu den Dystrophinopathien und ist eine der häufigsten angeborenen Muskelerkrankungen des Kindesalters mit einer Inzidenz von 1:5000 bei neugeborenen Knaben (Prävalenz 1,3–1,8 auf 10 000). Die Krankheit verläuft langsam progredient und die Lebenserwartung liegt bei etwa 20 bis 25 Jahren.

Klinik

Die wichtigsten klinischen Befunde sind in Tabelle 1 dargestellt. Als erste Symptome findet man meist einen Zehenspitzengang sowie eine Wadenhypertrophie (Abb. 1). Die proximalen Muskeln sind schwächer als die distalen und die Beine in den ­ersten Jahren mehr als die Arme befallen. Im Alter zwischen 3 und 6 Jahren findet man einen breitbeinigen und watschelnden Gang (positives Trendelenburg-Zeichen) sowie zunehmend eine Hyperlordose. Auf dem Rücken liegend drehen sich die Patienten beim Aufstehen auf den Bauch und klettern an sich hoch (positives Gowers-Zeichen).
Tabelle 1: Typischer klinischer Verlauf einer unbehandelten Duchenne-Muskeldystrophie (modifiziert nach [1]).
AlterKlinische Symptome
Bis 2 JahreLeicht verzögerte motorische Entwicklung inklusive Gehentwicklung.
3–4 JahreSchwierigkeiten beim Rennen, Springen, Treppensteigen oder Gehen auf unebenem Terrain, verminderte physische Belastbarkeit, positives Gowers-Zeichen, Pseudo­hypertrophie der Waden.
5–8 JahreMotorische Entwicklung gleich bleibend, vermehrte lumbale Lordose, zunehmend 
Armschwingen beim Gehen, breitbeiniger watschelnder Gang meist auf Zehenspitzen, Treppensteigen nur mit Festhalten.
Vor 13 JahrenVerlust der selbständigen Gehfähigkeit.
Nach dem Verlust der GehfähigkeitZunahme der Muskelschwäche.
Zunahme der Skoliose.
Zunehmende Ateminsuffizienz und Entwicklung einer Kardiomyopathie.
Verschlechterung des Sprechens und Schluckens.
Abbildung 1: 3-jähriger MD-Duchenne-Patient mit Wadenhypertrophie und leichter ­Hyperlordose.
Unbehandelt werden die Patienten vor dem 13. Lebensjahr Rollstuhl abhängig. Daneben treten bei mehr als 90% auch eine zunehmende Skoliose, eine Ateminsuffizienz und eine Kardiomyopathie auf [1].

Genetik und Pathophysiologie

Die MD Duchenne wird durch eine Mutation im Dystrophin-Gen auf Xp21 verursacht. Dieses Gen besteht aus 85 Exonen, welche das grosse stabförmige Protein Dystrophin kodieren. Dieses verbindet das Sarkolemm mit dem kontraktilen Aktin und schützt die Muskelmembran vor Mikroverletzungen bei Muskelkontraktionen. Daneben hat es auch eine Bedeutung in der Kontrolle von Signalmolekülen (neuronale NO-Synthase und Kalzium-Homöostase). Ein Fehlen oder eine starke Verminderung von Dystrophin führt zu einer Zunahme der intrazellulären Kalzium-Konzentration und damit zu einer Schädigung der Muskelfasern.
Die Erkrankung wird in 65% durch eine intragenetische Deletion und in 10% durch eine Duplikation eines oder mehrerer Exone verursacht. Die restlichen Patienten zeigen Punktmutationen. Unabhängig davon, ob es sich um eine Deletion, Duplikation oder Punktmutation handelt, führen «out of frame»-Mutationen wegen einer Unterbrechung des Leserasters zur schweren Dystrophinopathie mit ­vollständigem oder fast vollständigem Fehlen von Dystrophin, während «in frame»-Mutationen und teilweise erhaltenem Leseraster zur milderen Dystrophinopathie vom Typ Becker führen [2].

Diagnosestellung

Neben der oben beschriebenen typischen klinischen Symptomatik ist eine 10- bis 100-fach erhöhte Kreatinphosphokinase (CPK) schon fast die Diagnose beweisend. Ein EMG ist nicht notwendig, da es nur ein unspezifisches myopathisches Bild zeigt, aber die definitive Diagnose nicht beweisen kann. In der Muskelbiopsie ist ein Fehlen von normalerweise immunhistochemisch nachweisbarem Dystrophin diagnostisch beweisend. Im Zentrum der Diagnostik steht aber die molekulargenetische Abklärung, da nur damit entschieden werden kann, ob eine den Gendefekt überwindende Therapie möglich ist (s.u.).

Therapie

Eine definitiv die Krankheit heilende Therapie existiert bis heute noch nicht. Dennoch verbessert eine symptomatische Therapie mit Glukokortikoiden (z.B. mit Prednisolon oder Deflazacort) die Muskelkraft und führt zu einer Verlangsamung der Progredienz. Auch das Auftreten bzw. der Verlauf einer Skoliose oder von respiratorischen und kardialen Komplikationen werden verzögert. Insgesamt erreicht man im Vergleich zum Spontanverlauf für ­einige Jahre eine bessere Lebensqualität. Dieser ­Effekt der Kortikosteroide wird auf verschiedene Mechanismen zurückgeführt, wie verminderte Fragilität der Muskelmembran und Hemmung bzw. Verstärkung der daraus resultierenden pro- und antiinflammatorischen Faktoren [3]. Daneben verbessern die Glukokortikoide durch vermehrte Expression von Annexin-A1 und -A6 die Reparatur des wegen des fehlenden Dystrophins geschädigten Sarkolemms [4].
Die Dosierung wird in der Literatur unterschiedlich angegeben. Am häufigsten werden folgende Therapieschemata angewendet:
1. Prednisolon 0,7 mg/kg/Tag oder
2. Deflazacort 0,9 mg/kg/Tag oder
3. Prednisolon 0,7 mg/kg/Tag alternierend während 10 Tagen, dann 10 Tage Pause.
Eine länger dauernde Kortikosteroidtherapie wird durch die üblichen Nebenwirkungen begleitet (Gewichtszunahme, Osteoporose und gelegentlich Verhaltensprobleme). Wegen der geringen physischen Aktivität werden Gewichtszunahme und Osteoporose auch bei unbehandelten Patienten gesehen.

Forschungsprojekte

Es sind z.Z. verschiedene Forschungsprojekte in Richtung einer kausalen Therapie im Gang, welche für gewisse Gen-Defekte (Punktmutationen) sehr hoffnungsvoll aussehen. Dabei stehen die Methoden der «read through»-Technologie und des «Exon skippings» im Vordergrund.

«Read through»

Jede normale Proteinsynthese wird durch ein Stop-Codon (UAG, UAA oder UGA) abgeschlossen. Bei etwa 10–15% der MD-Duchenne-Patienten kann eine Punktmutation nachgewiesen werden, welche ein einlesendes Codon vor Abschluss der Proteinsynthese in ein Stop-Codon verwandelt und damit die ganze mRNA zerstört. Ataluren (PTC124) hemmt das prämature Stop-Codon und den damit zusammenhängenden Zusammenbruch der mRNA. Damit wird das Leseraster mindesten teilweise durch ­einen «read through»-Mechanismus wiederhergestellt und es können die für den Dystrophin-Aufbau richtigen Aminosäurensequenzen eingelesen werden und somit grössere Mengen Dystrophin produziert werden. Eine ähnliche Wirkung wie Ataluren hätte auch Gentamycin in hoher Dosierung. Da dieses Medikament über eine lange Zeit verabreicht werden müsste, kann es im Gegensatz zu Ataluren wegen der Nebenwirkungen nicht eingesetzt werden.
In einer kürzlich veröffentlichten grösseren Studie profitierten fast ausschliesslich Patienten, welche zu Studienbeginn eine 6-Minuten-Gehstrecke von 300–400 m erreichten, von der Ataluren-Therapie [5].

Exon skipping

Die 2. Methode besteht im «Exon skipping». Mit dem «Exon skipping» werden Exone in der prä-mRNA herausgebrochen, um das letzte Exon vor der Deletion (dem Abbruch) und das erste nach der Deletion zusammenzuhängen. Damit kann das Leseraster wiederhergestellt werden und als Genprodukt wird wegen des Fehlens einiger Exone ein zwar verkürztes, aber mindestens teilweise funktionierendes Dystrophin hergestellt (Abb. 2).
Abbildung 2: Schematische Darstellung des «Exon skippings» mit Eteplirsen (modifiziert nach [6]) und der ­Überwindung eines Stop-Codons mit Ataluren. DMD = Duchenne-Muskeldystrophie.
Zusammenfassend zeigen diese Daten, dass bei Punktmutationen eine kausale Therapie der MD Duchenne möglich wird. Die grosse Mehrheit der Patienten mit Deletionen oder Duplikationen im Dystrophin-Gen können aber weiterhin nur symptomatisch, z.B. mit Kortikosteroiden, behandelt werden.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. em. Dr. med.
Jürg Lütschg
Im Kirschgarten 5
CH-4102 Binningen
Juerg.Luetschg[at]unibas.ch
1 Annexstad EJ, Peteren IL, Rasmussen M. Duchenne muscular dystrophy. Tidsskr Nor Legeforen. 2014;13:1361–4.
2 Wein N, Alfano L and Flanigan KM. Genetics and emerging treatments for Duchenne and Becker Muscular Dystrophy.
Pediatr Clin N Am. 2015:62:723–32.
3 Miyatake S, Shimizu-Motohashi Y, Takeda S und Aoki Y. Antinflammatory drugs for Duchenne muscular dystrophy:
focus on skeletal muscle releasing factors. Drug Des Devel Ther. 2016;10:2745–58.
4 Quattrocelli M, Barefield DY, Warner JL et al. Intermittent glucocorticoid steroid dosing enhances muscle repair without eliciting muscle atrophy. J Clin Invest. 2017;127:2418–32.
5 Mc Donald CM, Campbell C, Torricelli RE et al. Ataluren in patients with nonsense mutation Duchenne muscular dystrophy (ACT DMD): a multicenter, randomized, double blind, placebo-con­trolled, phase3 trial. Lancet. 2017;390:1489–92.
6 Q Lim RK, Maruyama R und Yokota T. Eteplirsen in the treatment of Duchenne muscular dystrophy. Drug Des Devel Ther. 2017:11:533–45.