Geriatrie: Neues zu bekannten Medikamenten bei älteren Patienten
Geriatrie

Geriatrie: Neues zu bekannten Medikamenten bei älteren Patienten

Schlaglichter
Ausgabe
2018/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03148
Schweiz Med Forum 2018;18(03):46-48

Affiliations
Geriatrische Universitätsklinik, Inselspital, Bern

Publiziert am 17.01.2018

Erhöht der Konsum von Protonenpumpenhemmer das Risiko einer Demenz im ­Alter? Nützen Betablocker nach Herzinfarkt bei hochbetagten Patienten? Schützen Bisphosphonate ältere Frauen mit Langzeitsteroidtherapie vor Hüftfrakturen? Neue Studien aus diesem Jahr bringen überraschende Erkenntnisse.

Hintergrund

Noch immer verfügen wir über begrenzte Evidenz zur Pharmakotherapie bei alten Patienten. Ganz besonders oft fehlen Daten von multimorbiden hochbetagten ­Patienten. Doch die Evidenzlage hat sich dieses Jahr verbessert. Zunehmend stehen grosse Patientenregister mit differenzierten longitudinalen Daten zu Medikation, Gesundheitszustand und weiteren Out­comes zur Verfügung. Die Register sind oft so gross, dass genügend statistische Power besteht, um die Effekte von Medikamenten bei hochbetagten oder multimorbiden Patienten zu untersuchen. Im Folgenden werden vier neue, klinisch besonders relevante Studien vorgestellt.

PPI und Demenzrisiko

Protonenpumpenhemmer (PPI) gehören zu den im ­Alter am meisten verordneten Medikamenten. Tierexperimentelle Studien zeigten schon früher, dass PPI zu einem Anstieg von Beta-Amyloiden im Gehirn von Mäusen führen und damit ein möglicher Zusammenhang zwischen PPI und Demenzrisiko bestehen könnte. Eine Studie mit Daten von über 70 000 über 75-jährigen Personen in Deutschland zeigt nun, dass länger dauernder PPI-Konsum zu einer Erhöhung des Demenzrisikos um fast 50% führen kann [1]. Die Studie hat Limita­tionen, insbesondere eine relativ schlechte Qualität der Erfassung der Diagnose Demenz. Dennoch, in der Gesamtschau mit den tierexperimentellen Daten ist dies ein ernstzunehmender Hinweis darauf, dass eine länger dauernde Einnahme von PPI im Alter nicht nur mit einem erhöhten Frakturrisiko, sondern auch mit einem erhöhten Demenzrisiko einhergeht. Ein Grund mehr dafür, gerade bei alten Patienten PPI nur gezielt und zeitlich befristet einzusetzen.

Betablocker nach Myokardinfarkt

Betablocker sind etablierter Bestandteil der Therapie nach Myokardinfarkt, unabhängig vom Alter der Pa­tienten. Randomisierte Studien zeigen bei Patienten bis zum Alter von 75 Jahren übereinstimmend eine Reduktion der Mortalität um etwa 25%. Insbesondere bei hochbetagten pflegebedürftigen Patienten besteht jedoch Unsicherheit über das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Betablockern nach Herzinfarkt. Aufschlussreich ist nun eine 2017 publizierte grosse Studie mit Registerdaten von vorwiegend über 80-jährigen Patienten aus Pflegeheimen aus den USA [2]. Diese Studie bestätigt zwar ein verbessertes Überleben um etwa 25% durch Betablocker nach Herzinfarkt, auf der anderen Seite ­jedoch fand sich ein unerwünschter Effekt mit einer leichten Verschlechterung der funktionellen Selbständigkeit bei diesen Patienten.
Aufschlussreich ist die Subgruppenanalyse. Bei Pa­tienten mit vorbestehender deutlicher Einschränkung der Selbständigkeit oder der Kognition war die Verschlechterung der Funktion durch Betablocker deutlich ausgeprägt. Bei Patienten mit nur leichtgradiger vorbestehender Behinderung war die funktionelle Verschlechterung dagegen kaum nachweisbar. Dies ist ein Hinweis dafür, dass bei den weniger gebrechlichen hochbetagten Pa­tienten auch im Pflegeheim eine proaktive Beta­blocker-Behandlung nach Myokardinfarkt indiziert ist, jedoch bei gebrechlichen hochbetagten Patienten Zurückhaltung angezeigt ist.

Statine zur Primärprävention im Alter

Es gibt weiterhin Kontroversen zur Indikation von Statinen zur Primärprävention bei betagten Patienten. Für über 75-jährige Patienten gibt es zwar Hinweise auf eine leichte Reduktion der kardiovaskulären Morbidität durch eine solche Therapie, auf der anderen Seite würde jedoch bereits eine geringgradige Zunahme nichtkardiovaskulärer Nebenwirkungen diesen leichten Vorteil zunichtemachen. Zur weiteren Klärung dieser Frage führte eine Forschergruppe Sekundäranalysen mit den Daten der älteren Teilnehmenden der ALLHAT-Studie durch, einer «open-label» kontrollierten randomisierten Studie, die von 1994 bis 2002 stattfand [3]. Die Studie untersuchte die Effekte von Pravastatin bei Pa­tienten mit vorbestehender moderater Hyperlipid­ämie und Hypertonie, jedoch ohne vorgängige kardiovaskuläre Erkrankung.
Die 2017 publizierte Sekundäranalyse zeigt keinen ­Nutzen, weder auf die Gesamtmortalität noch auf die kardiovaskuläre Mortalität von Pravastatin zur Primärprävention bei den über 65-jährigen Teilnehmenden der ALLHAT-Studie. Bei der Untergruppe der über 75-jährigen Personen gab es gar einen statistisch nicht signifikanten Trend zu einer Erhöhung der Gesamtmortalität. Damit mehrt sich die Evidenz, dass Statine in der Primärprävention bei Hochbetagten nicht den gewünschten Erfolg bringen.

Hüftfrakturen und Prednison

Es ist gut bekannt, dass eine längerfristige Prednisongabe das Osteoporoserisiko erhöht und dass Bisphosphonate das Risiko von Wirbelkörperfrakturen bei ­diesen Patienten reduzieren können. Es war jedoch bis jetzt nicht klar, ob Bisphosphonate bei diesen Patienten auch das Hüftfrakturrisiko reduzieren. Eine Analyse eines nationalen Registers in Schweden gibt hier nun Aufschluss [4]: Bei Patienten mit mittleren oder hohen Dosen von Prednison reduzierte sich das Hüftfrakturrisiko deutlich von rund 27 Ereignissen auf 9 ­Ereignisse pro 1000 Patientenjahre. Dieser Effekt war bereits über eine relativ kurze mittlere Follow-up-Zeit von 1,3 Jahren nachweisbar. Damit besteht ein weiterer Grund dafür, bei einer länger dauernden Prednisonverordnung eine sorgfältige Knochenabkärung durchzuführen und nicht nur die Vitamin-D-Gabe sicherzustellen (notabene, neuerdings nicht nur als Tropfen, sondern auch als Tabletten erhältlich), sondern zusätzlich von Anfang an eine Bisphosphonattherapie zu evaluieren.

Schlussfolgerung

Die neuen Daten belegen: Polypharmazie im Alter heisst nicht einfach, Medikamente reduzieren. Polypharmazie verlangt, Medikamente individuell zu prüfen und zu optimieren. Vielleicht lässt sich ein Medikament absetzen, wie ein PPI. Vielleicht ist jedoch ein zusätzliches Medikament erforderlich trotz bestehender Polypharmazie, zum Beispiel ein Osteoporosemedikament.
Für die Indikationsstellung spielt gerade bei hochbetagten Patienten nicht in erster Linie das Alter, sondern die Gebrechlichkeit («frailty») eine zentrale Rolle. Relativ gesunde, rüstige Patienten profitieren auch noch mit über 90 Jahren von vielen Medikamenten, so wie dies bei jüngeren Patienten der Fall ist. Auf der anderen Seite sehen Nutzen und Risiko bei gebrechlichen Pa­tienten ganz anders aus; sonst nützliche Medikamente können bei diesen Patienten gar schaden.
Abbildung 1 gibt einen Eindruck vom Gesundheits­zustand hochbetagter Personen in der Schweiz. Hochbetagte Personen sind vulnerabel. Bei ihnen steigt das Risiko der Pflegebedürftigkeit ab dem Alter von 75 Jahren exponentiell an. Aktuell müssen nur etwa 5% der 75-jährigen Frauen in einem Heim betreut werden, mit 80 sind es etwa 10%, mit 85 etwa 20% und mit 90 fast 40%. Die Statistik bedeutet auch, dass umgekehrt auch im Alter von 90 Jahren etwa 60% der Frauen zu Hause wohnen, oft allein, und der grösste Teil von ihnen nicht pflegedürftig ist.
Abbildung 1: Anteil Personen an der Gesamtbevölkerung in Pflegeheimen in der Schweiz (Stand 31.12.2015). Quellen: BFS-Statistik der sozialmedizinischen Institutionen (SOMED) und Statistik der Bevölkerung und der Haushalte (STATPOP), BFS, Neuchâtel 2017.
In der klinischen Praxis ist deshalb für die Indikationsstellung von Medikamenten nicht nur eine organspezifische Untersuchung notwendig, sondern auch eine Evaluation von Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit. Eine umfassende geriatrische Untersuchung mit strukturiertem Assessment von Kognition, Mobilität und Selbständigkeit hilft bei der Indikationsstellung und ist eine wichtige Grundlage für das anschliessende Gespräch mit dem Patienten und seiner Bezugsperson zur Festlegung des Medikamentenplans.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Andreas Stuck
Geriatrische Universitäts­klinik
Inselspital
Freiburgstr. 46
CH-3010 Bern
andreas.stuck[at]insel.ch
1 Gomm W, von Holt K, Thomé F et al. Association of proton pump inhibitors with risk of dementia: a pharmacoepidemiological claims data analysis. JAMA Neurol. 2016;73(4):410–6.
2 Steinman MA, Zullo AR, Lee Y, et al. Association of β-blockers with functional outcomes, death, and rehospitalization in older nursing home residents after acute myocardial infarction. JAMA Intern Med. 2017;177(2):254–62.
3 Han BH, Sutin D, Williamson JD, et al. Effect of statin treatment vs usual care on primary cardiovascular prevention among older adults. The ALLHAT-LLT Randomized Clinical Trial. JAMA Intern Med. 2017;177(7):955–65.
4 Axelsson KF, Nilsson AG, Wedel H, Lundh D, Lorentzon M. Association between alendronate use and hip fracture risk in older patients using oral prednisolone. JAMA. 2017;318(2):146–55.